Geheimdienst / Explosionen als Machtbeweis: Experten vermuten Israel hinter Attacken im Libanon
Mit den in zwei Wellen erfolgten zeitgleichen Explosionen hunderter Pager und Walkie-Talkies ist der pro-iranischen Hisbollah-Miliz im Libanon am Dienstag und Mittwoch ein schwerer Schlag zugefügt worden.
Experten sehen in dem beispiellosen Vorfall einen Coup des israelischen Geheimdienstes gegen die schiitische Miliz und ihre Unterstützer in Teheran. Nach Angaben der libanesischen Regierung wurden durch die Detonationen insgesamt mindestens 21 Menschen getötet und bis zu 3.100 weitere verletzt, auch der iranische Botschafter in Beirut ist unter den Verletzten.
Die Hamas nutzte die bei der ersten Welle am Dienstag explodierten Pager aus Sicherheitsgründen für die interne Kommunikation. Die Geräte nutzen eine eigene Funkfrequenz; anders als Handys können sie nicht zurückverfolgt, abgehört oder blockiert werden. Experten vermuten, dass Israel die nun explodierten Funkempfänger der Hisbollah bereits vor deren Auslieferung manipulierte, um sie alle am selben Tag zu einer bestimmten Uhrzeit zur Explosion zu bringen.
Die Explosionen von Walkie-Talkies am Mittwoch trafen offenbar weitere Hisbollah-Mitglieder in zwei für die pro-iranische schiitische Miliz besonders wichtigen Regionen des Landes: Die Handfunkgeräte detonierten in südlichen Vororten der Hauptstadt Beirut, wo sich die Parteiführung befindet, weiter im Süden des Landes, von wo aus Hisbollah-Kämpfer seit fast einem Jahr israelisches Gebiet beschießen, und im Osten des Landes, wo ihre schlagkräftigsten Waffen vermutet werden.
Aus dem Umfeld der Hisbollah hieß es, die beiden Explosionswellen seien „der härteste Schlag“, den Israel der Organisation jemals versetzt habe. Zu den am Dienstag explodierten Pagern hieß es aus dem Hisbollah-Umfeld, diese seien erst kürzlich importiert worden. Die Hisbollah hatte demnach 1.000 dieser Geräte erhalten, die „an der Quelle sabotiert“ worden seien.
Zugang zur Lieferkette
Um fabrikneue Pager mit Sprengsätzen zu versehen, „hätte Israel Zugang zur Lieferkette dieser Geräte gebraucht“, sagt der in Brüssel ansässige Militär- und Sicherheitsexperte Elijah Magnier. Der israelische Geheimdienst habe also offenbar „den Produktionsprozess infiltriert, eine explosive Komponente und Fernzündemechanismen in die Pager eingebaut, ohne Verdacht zu erregen“. Laut Magnier könnte es sich bei dem Anbieter der Pager sogar um ein Unternehmen gehandelt haben, das der israelische Geheimdienst eigens dafür aufgebaut hat.
Charles Lister von der US-Denkfabrik Middle East Institute sagt, die Massenexplosion sei „in ihrem Ausmaß und ihrer Ausgereiftheit beispiellos und zeigt, wie tief Israel es geschafft hat, seine Gegner (…) zu infiltrieren“. Der ehemalige CIA-Analyst Mike DiMino von der US-Denkfabrik Defense Priorities kommentierte im Onlinedienst X, der „Sabotage-Einsatz“ sei wahrscheinlich über „Monate, wenn nicht Jahre“ vorbereitet worden.
Die Hisbollah macht Israel „für diese sündhafte Aggression“ verantwortlich und drohte mit Vergeltung. Gleichzeitig kündigte die Miliz die Fortsetzung ihrer Angriffe auf israelisches Gebiet „zur Unterstützung der Palästinenser im Gazastreifen“ an. Israel, das sich generell nicht zu Aktionen seiner Sicherheitsbehörden außerhalb des Landes äußert, schwieg zu den Explosionswellen.
Schwerer Schlag gegen die Hisbollah
Offen ist bislang, ob die koordinierten Explosionen einen umfassenden Krieg zwischen Israel und der Hisbollah auslösen werden – zusätzlich zum Gaza-Krieg, der durch den beispiellosen Angriff der mit der Hisbollah verbündeten radikalislamischen Palästinenserorganisation Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 ausgelöst wurde.
In jedem Fall stellen die Explosionen einen schweren Schlag für die Hisbollah dar. Sollte Israel dahinterstecken, hat es damit gezeigt, dass seine Macht bis in die Hände und Hosentaschen der Hisbollah-Mitglieder reicht.
Mit der Tötung des Hisbollah-Militärchefs Fuad Schukr bei einem Luftangriff am 30. Juli hatte Israel bereits bewiesen, dass es sich genaue Informationen über den Aufenthaltsort eines mächtigen Hisbollah-Anführers verschaffen kann. Nur einen Tag später wurde der Hamas-Chef Ismail Hanija bei einem Besuch in Teheran durch einen Sprengsatz getötet, den Israel dort schon Wochen zuvor platziert haben soll.
Der Verteidigungsexperte Pierre Servent ist der Ansicht, dass der israelische Geheimdienst mit den Pager-Explosionen im Libanon seinen Ruf wiederhergestellt hat, der infolge des Versagens der israelischen Sicherheitsbehörden beim Hamas-Angriff vom 7. Oktober sehr gelitten hatte: „Die Reihe von Einsätzen in den vergangenen Monaten markiert ihr großes Comeback, mit dem Bedürfnis nach Abschreckung und einer Botschaft: ,Wir haben versagt, aber wir sind nicht tot.‘“
Der pensionierte libanesische Armeegeneral Hischam Dschaber betonte, die Hisbollah verfüge neben der Kommunikation über Pager und Walkie-Talkies über „andere geheime Kommunikationsmittel“. So habe die Bewegung seit Jahren ein eigenes „internes Telekommunikationsnetz“ aufgebaut, das sie für die „Kommunikation zwischen den Regionen und mit ihren Anführern nutzt“.
Aus libanesischen Sicherheitskreisen hieß es jedoch, dass die Bewegung auch an diesem Netz zweifelt. Die Hisbollah vermute, dass „ein Teil dieses Netzes im Süden des Landes von Israel infiltriert worden sein könnte“. (AFP)
Der Pager-Angriff ist ein Stich ins Wespennest
Von unserer Korrespondentin Mey Dudin, Berlin
Es ist ein beispielloser Angriff, man könnte auch sagen, ein Stich ins Wespennest: Um 15:30 Uhr Ortszeit am Dienstag explodierten im Libanon zeitgleich Hunderte Pager, die von der Hisbollah zur internen Kommunikation benutzt wurden. Mindestens neun Menschen kamen ums Leben, 2.750 wurden verletzt. Unter den Verletzten sind auch viele Hisbollah-Kämpfer. Israel hat sich zu dem Angriff nicht bekannt. Es ist allerdings üblich, dass sich Israel nicht öffentlich zu verdeckten Operationen äußert.
Allerdings ist unklar, welche Wirkung diese Angriffe haben sollen. Die Explosionen treffen den Libanon in einer Zeit, in dem das Land wirtschaftlich am Boden ist, eine Krise der anderen folgt, und wo inzwischen etwa ein Viertel der Bevölkerung Flüchtlinge aus Nachbarregionen sind. Die Hisbollah gilt dort nicht als Terrororganisation, sondern ist eine politische Partei, mit Vertretern im Parlament, die Zuspruch gerade unter der ärmeren schiitischen Bevölkerung hat und etwa ein Drittel des Landes beherrscht. Die Lage wird also eher noch gefährlicher.
Gleichzeitig verwundert, dass nach der Pager-Attacke kein deutlich größerer Angriff folgte. Warum kam es in der Nacht, nachdem das wichtige Kommunikationsnetzwerk der Hisbollah lahmgelegt wurde, nicht zu einer militärischen Offensive? Hierzu gibt es lediglich Spekulationen. Am Mittwoch explodierten wieder zahlreiche elektronische Geräte, wieder gab es Tote und Verletzte. Ob dahinter ein größeres militärisches Ziel steckt, bleibt zunächst unklar.
Klar ist allein: Der Angriff hat nicht nur offenbart, dass die Hisbollah bei ihrer Kommunikation eine offene Flanke hat. Er ist auch besonders demütigend, weil erstens so viele Hisbollah-Kämpfer kalt erwischt wurden und zweitens zahlreiche Verletzungen den Unterleib betrafen – und das in einer Region, die Ehrverletzungen niemals verzeiht. Das bedeutet, dass eine Operation, die den Feind vor allem aggressiver macht, aber nicht wirklich lahmlegt, den befürchteten großen Krieg zwischen Israel, Hisbollah und Iran ein Stück nähergebracht hat.
Gibt es eine weitere Eskalation, wird es auch zu einer neuen Massenflucht kommen. In früheren Kriegen sind Hunderttausende Menschen aus dem Libanon nach Syrien geflüchtet. Diese Option gibt es wegen des Bürgerkriegs im Nachbarland nicht mehr. Im Libanon leben zudem 1,5 Millionen Flüchtlinge aus Syrien und eine halbe Million sogenannter Palästina-Flüchtlinge. Im Falle eines Krieges würden auch diese Menschen sich womöglich über das Mittelmeer in Richtung Europa aufmachen. Deshalb ist es nach diesem Stich ins Wespennest auch im Interesse Europas, schnell Ruhe in die Region zu bringen.
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