/ Fabrik der Demokratie? Das Zentrum für politische Bildung in Zeiten von YouTube, Instagram und Co.
20 Jahre lang war er Geschichtslehrer an einem „Lycée technique“. Jetzt erklärt Marc Schoentgen (51) Jugendlichen, wie Politik und Demokratie funktionieren. Ein Gespräch mit dem Direktor des „Zentrum fir politesch Bildung“ in Walferdingen über Haltung, YouTuber, Maulkörbe und einen Traum.
Tageblatt: Finden Schüler Geschichte heute nicht langweilig?
Marc Schoentgen: Die Frage muss sich jedes Fach stellen. Was ist die Daseinsberechtigung der Mathematik, was ist die der Sozialwissenschaften? Die Herausforderung hat jedes Fach. Wo ist die Relevanz? Grundsätzlich ist die Geschichte ja da, um die Gesellschaft von heute zu verstehen.
Bei Mathematik gibt es aber einen starken Bezug zur Informatik. Und Informatiker werden hier gesucht, Stichwort ICTC …
Stimmt. Aber auch ein Mathematiklehrer muss sich fragen, ob das, was er unterrichtet, nachher im Leben gebraucht wird. Das, was ich damals in Mathematik gelernt habe, habe ich in den letzten 40 Jahren nur wenig gebraucht.
Wann haben Schüler Aha-Erlebnisse in Geschichte?
Aha-Erlebnisse gibt es dann, wenn Schüler entdecken, dass die Frage nach Gerechtigkeit auch in früheren Zeiten heiß diskutiert wurde. Oder wenn sie entdecken, dass Krieg oder Frieden und das Zusammenleben in einer Gesellschaft große menschliche Fragen sind. Fragen, die es übrigens zu allen Zeiten gegeben hat.
Was sollte bestenfalls dabei herauskommen?
Dass Schüler wissen, wo sie sich positionieren. Völkermord an den Juden, Völkermord in Ruanda: Schaue ich zu? Mache ich etwas dagegen? Und dann sind wir schnell beim Heute. Wie positioniere ich mich gegenüber Flüchtlingen im Land, die hierherkommen, weil bei ihnen Krieg ist?
Das Zentrum
Das „Zentrum fir politesch Bildung“ war Bestandteil des Koalitionsvertrages der ersten „Gambia“-Koalition (DP, „déi gréng“, LSAP). Es wurde im Oktober 2016 gegründet und hat seinen Sitz im „Edupole“ in Walferdingen, auf dem Gelände, wo ehemals die Uni.lu ihren Sitz hatte. Das Zentrum ist eine Stiftung, Stifter ist das Bildungsministerium, das auch die laufenden Kosten des Zentrums trägt. Ziel ist es, „das bürgerschaftliche Engagement zu fördern, indem wir zu einem besseren Verständnis von Politik und Demokratie und der aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen beitragen. Wir möchten vor allem junge Menschen stärken und dazu ermutigen, sich am politischen Leben und am öffentlichen Diskurs zu beteiligen.“ So steht es auf der Webseite. Das Zentrum hat derzeit sechs feste Mitarbeiter.
Ist politische Bildung in Zeiten von Instagram, Facebook und Google nicht Sisyphosarbeit?
Es ist Sisyphosarbeit, wenn man meint, gegen die sozialen Medien ankämpfen zu müssen. Das wird nicht klappen. Unsere Medienbildung will erreichen, dass Jugendliche wissen, wo sie sich informieren können. Dass sie sich fragen: „Sind meine Quellen vertrauenswürdig oder nicht?“ Unsere Herausforderung in naher Zukunft wird aber sein, Instagram, Snapchat, YouTube und Co. für das „Zentrum“ zu nutzen, um deren User zu erreichen. Verschiedene Bildungseinrichtungen spannen jetzt schon Influencer ein, um ihre Inhalte zu vermitteln.
Laufen prominente YouTuber Politikern den Rang ab?
Für Jugendliche in einem bestimmten Alter sind YouTuber bestimmt wichtiger als Politiker, weil die oft zu weit weg sind. Und weil sie eine Sprache sprechen, die nicht jeder versteht. Politische Sprache in jugendliche Lebenswelten zu übersetzen, ist Teil unserer pädagogischen Arbeit.
Ist die Sprache schuld, dass nur so wenige Politik verstehen?
Schuld will ich nicht sagen. Politiker und ihre Kommunikationsstrategen müssen sich einfach darüber bewusst sein, dass sie bestimmte Menschen, vor allem junge Menschen, nicht erreichen. Ich meine junge Menschen, die keine oder zu wenig Zeitung lesen und die viel online unterwegs sind. Sprache ist immer eine Barriere. Der Informationsbedarf ist dagegen riesig und es kommt darauf an, die Sachverhalte verständlich zu erklären. Das versuchen wir.
„Die Demokratie ist die einzige Staatsform, die man nicht aufgezwungen bekommt, sondern die man lernen und pflegen muss.“ Das Zitat stammt von Bildungsminister Claude Meisch. Wie lernt man Demokratie?
Indem man sie erlebt.
Zu Ihren Aufgaben gehört die Ausbildung von „staatsbürgerschaftlichen Kompetenzen“.
Was verstehen Sie darunter?
Das steht so in unserem Leitbild …
… und ist eine Sprache, die 13-Jährige nicht verstehen …
Stimmt. Wir verstehen darunter eine kritische Haltung und den Wunsch, sich zu informieren, um mitreden zu können. Das sind für mich die wichtigsten Demokratie-Kompetenzen. Dazu gehört auch, dass Jugendliche wissen, in welchem Rahmen wir hier zusammenleben. Verfassung, Rechte und Pflichten … Es geht in der Demokratie nicht nur um Mehrheiten. Und zur Demokratie gehört es, einen Konflikt auszuhalten. Streit und Konflikt sind wichtige Voraussetzungen, um eine Lösung zu finden.
Luxemburg ist aber konsensorientiert …
Das stimmt. Viele hier leben mit dem Gedankengut „mir mussen eis eens ginn“. Trotzdem denke ich, dass sich eine gewisse Streitkultur etabliert hat. Wichtig ist, dass jeder seine Handlungsoptionen kennt. Engagiere ich mich oder nicht? Wenn ja, wie?
Wird Demokratie nicht gerade bei jungen Leuten als selbstverständlich empfunden?
In Luxemburg ja. Es ist ja alles gut hier, ist ein gern verbreitetes Bild vom Land. Das hat damit zu tun, dass es den Leuten generell vergleichsweise gut geht. Nichtsdestotrotz gibt es in Luxemburg Menschen, die am Rande der Gesellschaft stehen.
Trotzdem engagieren sich junge Menschen immer weniger in altbekannten Strukturen wie Parteien, Vereinen oder Gewerkschaften. Alle klagen über Nachwuchsprobleme …
Das ist ein allgemeines Problem, das nicht nur in Luxemburg besteht. Junge Menschen organisieren sich zwar noch, aber anders. Sie binden sich nicht mehr lebenslang, sondern eher projektbezogen. Spontan. Das haben wir gerade beim Klimastreik gesehen.
Kann ein Zentrum wie dieses der Radikalisierung junger Menschen vorbeugen?
Ich sage mal Ja, weil politische Bildung per se präventiv ist. Sie kann Radikalisierung entgegenwirken, wenn man die jungen Menschen früh ernst nimmt, mit dem, was sie denken. Aber natürlich gibt es Grenzen. Es wäre naiv zu denken, wenn wir nur genug politische Bildungsarbeit machen, können wir eine Radikalisierung nach links oder rechts verhindern.
Warum gibt es das Zentrum erst seit knapp drei Jahren?
Links- und Rechtsradikalismus waren in Luxemburg nie ein so großes Problem wie beispielsweise in Deutschland. Die ersten Landeszentralen für politische Bildung sind dort kurz nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden. Wahrscheinlich ist es aber jetzt hier im Bewusstsein angekommen, dass die luxemburgische Gesellschaft sich schnell verändert. Wir sind eine Migrationsgesellschaft, die ihresgleichen in der Welt sucht. Da taucht die Frage auf: Wie wollen wir zusammenleben? Das Zentrum ist neben anderen Trägern einer der Akteure, die dazu beitragen wollen, das zu beantworten.
Sie sind der Unabhängigkeit verpflichtet. Wie weit geht die?
Ich und alle, die hier arbeiten, müssen aufpassen, was wir sagen und in welchem Kontext wir das sagen. Wir dürfen über Aussagen, die Wahl unserer Projektpartner und unsere Inhalte nicht in eine politische Ecke gedrängt werden. Einen „Makel“, wenn man das so sehen will, haben wir schon, weil wir unter einer bestimmten politischen Konstellation gegründet wurden. Wie wir bei einem Regierungswechsel irgendwann gesehen werden, muss man abwarten. Wir haben aber keinen Maulkorb.
Das Budget für 2017 beläuft sich auf rund 400.000 Euro. Reicht das für Ihre Arbeit?
Nein. Für 2019 gehen wir aber davon aus, dass unser Budget mehr als doppelt so hoch ist.
Der Traum des Direktors?
Ich wäre mit dem Zentrum lieber in der Hauptstadt statt in Walferdingen, nahe bei den politischen Institutionen und der Öffentlichkeit. Eine Art „Fabrik der Demokratie“, in der jeder, der will, sich mit Fragen, Herausforderungen und den Konflikten einer Demokratie auseinandersetzen kann.
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