Dr. Armand Clesse / „Falsche Prioritäten“ und Blockbildung in Europa: Luxemburger Politologe über den Ukraine-Krieg
Schweden und Finnland sollen in die NATO aufgenommen werden und die Ukraine ist seit kurzem offizieller Beitrittskandidat für die Europäische Union. Russlands Krieg in der Ukraine hat ordentlich Bewegung in mehrere internationale Zusammenschlüsse gebracht. Wir haben den Luxemburger Politologen Dr. Armand Clesse zu der aktuellen Entwicklung befragt.
„Europa schneidet sich ab.“ Unter anderem so bezeichnet Dr. Armand Clesse die derzeitigen Vorgänge rund um den Ukraine-Krieg. Der einstige Direktor des Luxembourg Institute for European and International Studies (LIEIS) klingt im Gespräch mit dem Tageblatt am Mittwoch nicht sehr optimistisch, was die Prognosen für die kommenden Jahre angeht. Sogar Unruhen hält er in der EU für möglich, weil sich die sozioökonomische Lage in den europäischen Ländern in Folge des Krieges seiner Ansicht nach weiter verschlechtern werde. „Das ist bitter für die kommenden Generationen, und das wird vieles verändern – in Europa, aber auch, was die Weltordnung anbelangt“, so der Politologe.
Der 72-Jährige sieht die Ursache für die aktuellen Entwicklungen unter anderem in den „Versäumnissen der westlichen Politik“, die er auch als „unvernünftig“ bezeichnet. Zur momentanen Situation in der Ostukraine erklärt Clesse, dass eine Theorie sei, dass die Angriffe im Herzen der Ukraine eine Art Ablenkungsmanöver gewesen sein könnten, um dort ukrainische Kräfte zu binden und schließlich dadurch den Donbass besetzen zu können. Jetzt, wo dieses Ziel „mehr oder weniger“ erreicht sei, verlange der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj nach mehr Waffen, um die russischen Streitkräfte von dort abdrängen zu können. Die Waffenlieferungen mehrerer europäischer Länder an die Ukraine sieht der Experte generell „sehr kritisch“. Sie sorgten lediglich für mehr Zerstörung und Verlust von menschlichem Leben. Und: Die russischen Streitkräfte von dort zurückzudrängen, ist laut Clesse auch mit Waffenlieferungen kaum erreichbar.
Es ist unglaublich unvernünftig, was da gerade vor sich gehtPolitologe
Gipfeltreffen: NATO startet Aufnahmeverfahren für Finnland und Schweden
Die NATO hat am Mittwoch offiziell das Verfahren zur Aufnahme von Finnland und Schweden gestartet. Nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur stimmten am Mittwoch beim Gipfeltreffen in Madrid alle Staats- und Regierungschefs der 30 Mitgliedstaaten den Plänen zu. Erst am Vorabend hatte die Türkei ihre Blockade gegen den NATO-Beitritt von Finnland und Schweden aufgegeben – im Gegenzug für Zugeständnisse der nordischen Länder. Bis Finnland und Schweden tatsächlich Mitglieder der Allianz sind, dürfte es jedoch noch einige Monate dauern. Die Beitrittsprotokolle sollen nach derzeitiger Planung am kommenden Dienstag unterzeichnet werden. Danach müssen diese noch von den Mitgliedstaaten ratifiziert werden. Bis alle 30 Alliierten dies erledigt haben, könnte es Schätzungen zufolge sechs bis acht Monate dauern. Finnland und Schweden hatten unter dem Eindruck des russischen Kriegs gegen die Ukraine am 18. Mai die Mitgliedschaft in der NATO beantragt. (Quelle: dpa)
Dass Finnland und Schweden in die NATO aufgenommen werden sollen, würde die „Blockbildung“ in Europa verstärken, so der Experte. Damit sei „politisch und strategisch kaum etwas gewonnen“, sagt Clesse. „Russland hat nie die Absicht gehabt, NATO-Länder anzugreifen, das finde ich ein bisschen lächerlich. Russland geht es um die Krim und die Ostukraine.“ Auf der westlichen Seite habe es wiederum keine proaktive Politik gegeben. „Auch was jetzt auf dem NATO-Gipfel in Madrid passiert, wird sich als ein falscher Triumphalismus erweisen“, so der Politologe.
Den ukrainischen Kandidatenstatus für die Aufnahme in die Europäische Union sieht Clesse ebenfalls nicht als sinnvoll an. „Es ist unglaublich unvernünftig, was da gerade vor sich geht. Die EU schafft es nicht mal, die jetzigen Mitgliedsländer zusammenzuhalten, und jetzt sollen Länder dazukommen, die überhaupt nicht vorbereitet sind“, erklärt er. „Statt die Integration zu vertiefen, erweitert man nun in einer Art Flucht nach vorne. Der Westbalkan muss weiter warten, und natürlich sind dann eine Reihe von Ländern versucht – nicht nur Serbien –, sich anderswohin zu orientieren und Halt zu suchen.“
Clesses Ansicht nach sei man bei der NATO inzwischen „glücklich“, einen „‚richtigen Feind“ gefunden zu haben. Warum? „Um massiv aufzurüsten“, sagt er. Zudem sei der Experte überzeugt, dass die heutige Situation besser aussähe, hätte man nach dem Warschauer Pakt (ein von 1955 bis 1991 bestehender militärischer Beistandspakt des sogenannten Ostblocks unter der Führung der Sowjetunion) ein „kollektives Sicherheitssystem“ aufgebaut. Europa habe zudem derzeit „falsche Prioritäten“: „Man hätte jetzt alles auf die soziale Konsolidierung der Gesellschaften setzen müssen“, erklärt Clesse. „Die sozialen Schichten driften immer weiter auseinander, das kann eigentlich auf Dauer und nur mit Repression nicht gut gehen.“ Auch in den jüngeren Generationen interessiere man sich derzeit mehr für die Umwelt als dafür, „auf welcher Grundlage die Gesellschaft künftig existieren soll“. Diese Problematik sei durch die Pandemie noch verschärft worden, ergänzt Clesse. „Die Freiheit ist überall im Westen auf dem Rückzug, in allen Bereichen, und das scheint ganz wenige zu stören.“
Zur Person
Der Luxemburger Dr. Armand Clesse gilt als einer der führenden Experten für atomare Bedrohung durch internationale Konflikte. Der gebürtige Eschdorfer hat unter anderem an den Universitäten in Bonn, Paris, London, Brugge und Genf studiert. Seine Doktorarbeit schrieb er am European University Institute in Florenz. Sie trägt den Titel: „The European Defense Community (1950 to 1954): evolution of the project at the diplomatic level and attitudes of the main national actors“. 1982 erhält er dafür seinen Doktortitel. Er hat weltweit Vorträge zu Aspekten der internationalen Beziehungen gehalten und hatte ein NATO Research Fellowship.
Von 1986 bis 1994 ist er Berater des damaligen Premierministers Jacques Santer (CSV) und des jüngst verstorbenen Außenministers Jacques Poos (LSAP). Er vertritt Luxemburg 1986 bei einer Taskforce zur „Strategic Defense Initiative“ in Europa. Im Oktober 1990 gründet er in Luxemburg das „Luxembourg Institute for European and International Studies“ (LIEIS) und übernimmt die Leitung bis zu dessen Stilllegung (aber nicht Auflösung) 2014. Clesse selbst gibt als Grund die fehlende politische Unterstützung und das immer knappere Budget an. Während dieser Zeit engagiert sich Clesse immer stärker für den Frieden, äußert seine Meinung lautstark.
Er gibt gegenüber dem Tageblatt zu, viele seiner früheren Positionen überdacht zu haben. Clesse wurde zeitweise zur nationalen Kultfigur und trug im „Feierkrop“ den Spitznamen „Armement Clesse“. Der heute 72-Jährige bezeichnet sich aber selbst als „Anarchist“. Dem Bereich „Internationale Beziehungen“ will er nun den Rücken kehren, die Quasi-Deaktivierung des LIEIS schmerzt den Luxemburger Intellektuellen immer noch. Er schreibt zurzeit an Büchern über Ethik und Philosophie. „Um etwas von meinen Ideen zu hinterlassen.“ (joé)
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Sehr gute Einschätzung der Lage! Hätten die Vertreter von EU und NATO nur einen Teil davon wurden sie die Welt nicht ins Chaos lenken wie sie es jetzt vorbereiten.
Komplett einverstanden mit dem Artikel,
das ist auch die Meinung grösstenteils des Volkes,
nur die verpennten Politiker laufen mit Brett vorm Kopf herum,
konzeptloses und unkompetentes politisches Handeln,
man könnte glauben ein dritter Weltkrieg wäre denen lieber
als Frieden,nur Interresse an Waffenverkäufen mit Milliardendeals,
fürs Volk bleibt nix.Es stinkt bis zum Himmel.
Merci fir déi objective Analyse. Hoffnung gett nemmen nach, dass emmer méi Experten zu dem Resultat kommen.
Richtig! Würden die Glorreichen von G7-Nato-EU das verstehen und einsehen bräuchte jetzt niemand Angst vor einem 3. Weltkrieg mit allen Konsequenzen zu haben.
Ich kann mich der Einschätzung von @Beobachter nur anschließen. All diese Kriegsrhetorik, diese provozieren, fordern, dieses Handeln aus einem Bauchgefühl heraus, all das macht einen „Kriegsmüde“ man kann es kaum noch hören. Um so erfreulicher ist es, dass es noch normal und vernünftig Menschen auf dem Erdball (speziell Luxemburg) gibt, die ein klares Bild und Sachverstand besitzen; nur leider befinden sich diese Menschen in keiner Führungsposition!
Endlich einer der die Vernunft reden lässt!
Mich würde interessieren wie viele Menschen in Europa diese Meinung teilen.
Das ist wohl geheime Staatssache…..
Wer sagt: „dass die Angriffe im Herzen der Ukraine eine Art Ablenkungsmanöver gewesen sein könnten“, sagt offensichtlich Unsinn. Auch der weitere Text macht wenig Sinn.
“ Sie sorgten lediglich für mehr Zerstörung und Verlust von menschlichem Leben. Und: Die russischen Streitkräfte von dort zurückzudrängen, ist laut Clesse auch mit Waffenlieferungen kaum erreichbar.“
Was ist denn nun Ihr Rat, H. Dr. ?
„Die Freiheit ist überall im Westen auf dem Rückzug, in allen Bereichen, und das scheint ganz wenige zu stören.“
Wo denn noch?
H. Dr. wem gehört eigentlich der Donbass?
Klare Ideen hat der Dr. auch nicht.