Großbritannien / Finanzministerin Reeves beklagt Haushaltsloch und ordnet Sparprogramm an
Die neue britische Labour-Finanzministerin Rachel Reeves hat nachgezählt und festgestellt: Alles ist schlimmer als gedacht, im öffentlichen Haushalt klafft ein Milliardenloch. „Das hat die frühere Regierung dem Land verschwiegen.“ Was die mächtigste Frau des Königreiches am Montag dem Unterhaus sagte, welche Projekte ihrem Sparkurs zum Opfer fallen, wie es weitergehen soll – Fragen und Antworten zum Thema.
Wie ist es um den laufenden Haushalt bestellt? Schlimm, jedenfalls wenn man Reeves Glauben schenkt. Dass die Torys das Land heruntergewirtschaftet haben, sei ja längst bekannt, berichtete die 45-Jährige dem Unterhaus. Nicht zuletzt hatte die unabhängige Budgetbehörde OBR im März diverse Warnsignale versandt. Seit ihrer eigenen Ankunft im Schatzkanzleramt vor gut drei Wochen hätten sich aber gewaltige Finanzierungslücken aufgetan, „von denen ich nichts wusste“. Insgesamt fehlen der Ministerin zufolge etwa 22 Milliarden Pfund, umgerechnet 26,1 Mrd. Euro.
Dass es den öffentlichen Finanzen nicht sonderlich gut geht, sei „wirklich keine Überraschung“, urteilte Paul Johnson vom unabhängigen Institut für Fiskalstudien IFS. Reeves könne höchstens argumentieren, die Lage sei „ein bisschen schlimmer als erwartet“. Da müsse das IFS erst mal die Zahlen anschauen, heißt es dazu aus dem Ministerium. Als Beispiel wird die Empfehlung der unabhängigen Bewertungskommission genannt, die für die Bediensteten im öffentlichen Dienst nach langjähriger Durststrecke eine Lohn- und Gehaltserhöhung von 5,5 Prozent vorschlägt, deutlich über der Inflationsrate von zwei Prozent. Die dafür nötige Summe von mindestens acht Milliarden aber habe die Vorgänger-Regierung nicht eingeplant.
Wie sieht die Lage der Volkswirtschaft insgesamt aus? Fröhlich stimmt die Situation keinen der Fachleute, dazu sind die Fakten zu düster. Dem Statistikbüro ONS zufolge kletterte die Staatsverschuldung Ende Juni auf 99,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts BIP und damit den Höchststand seit 1962. Allein die Zinslasten sind höher als das Verteidigungsbudget. Den Plänen der Vorgängerregierung zufolge wird die Steuerbelastung der Bürger 2028 den höchsten Stand seit 1948 erreichen; sie liegt mit 37,1 Prozent aber immer noch deutlich unter den vergleichbar großen Industriestaaten des Kontinents Deutschland, Frankreich und Italien.
Fiskalischer Spielraum ist eingeengt
Zwar sind lediglich 4,4 Prozent der Erwerbstätigen zwischen 16 und 64 Jahren arbeitslos gemeldet, weitere Hunderttausende aber gelten als erwerbsunfähig, weil sie an langfristigen Erkrankungen oder Behinderungen leiden. Viele von ihnen gehören zu den mehr als 7,5 Millionen Menschen, die auf der Warteliste des steuerfinanzierten Gesundheitssystems NHS stehen. Nach Angaben des Pariser Thinktanks OECD war das Königreich das einzige G7-Land der größten Volkswirtschaften weltweit, in dem die Beschäftigungsquote im ersten Quartal 2024 gegenüber Ende 2019, also seit Beginn des Covid-Effektes, zurückgegangen war.
Im gleichen Zeitraum lagen die Briten beim Wirtschaftswachstum unter den G7-Staaten auf dem vorletzten Platz, deutlich unterboten nur von Deutschland. Allerdings ist das Wachstum im ersten Quartal 2024 um 0,7 Prozent deutlich rascher gestiegen als der G7-Durchschnitt und sogar um das Doppelte der Eurozone. Dementsprechend kletterten auch der Pfund-Kurs sowie der Börsenkurs FTSE 100.
Wie lassen sich die Staatsfinanzen sanieren? Wo soll gespart werden? Reeves legte am Montag die Axt an lang geplante Infrastrukturprojekte, scheint aber für den Haushalt im Oktober auch Steuererhöhungen vorzubereiten. Im Wahlkampf schloss Labour die Erhöhung der wichtigsten Steuern (Einkommen, Mehrwert) sowie der Rentenversicherung NI bis 2029 aus. Dadurch ist Reeves‘ fiskalischer Spielraum stark eingeengt. Die Regierung scheint nun sowohl Steuern auf Erbschaften wie auf Kapitalerträge im Blick zu haben; auch dürften vermögende Pensionisten zur Kasse gebeten werden. Bisher stehen auf der Einnahmenseite lediglich eine Milliardenabgabe der Öl- und Gasindustrie sowie die Streichung von Steuerprivilegien für Privatschulen sowie für reiche Ausländer, sogenannte Non-Doms.
Bauprojekte stehen auf der Kippe
Verscherbeln will die Regierung vermeintlich überflüssige Gebäude im Bestand der Streitkräfte sowie der Eisenbahnbehörde Network Rail. Eine neue Behörde soll über Verschwendung im öffentlichen Dienst wachen.
Verschoben wird ein ohnehin höchst umstrittenes Straßenbauprojekt, nämlich der knapp drei Kilometer lange, vierspurige Tunnel unter dem Weltkulturerbe von Stonehenge (1,7 Mrd. Pfund). Auf der Kippe steht ein zusätzlicher Themse-Tunnel tief im Osten von London (9 Mrd. Pfund). Ganz gewiss nicht bis 2030 fertig wird das einst vom Brexit-Premier Boris Johnson vollmundig angekündigte Klinik-Neubauprogramm. Schließlich soll die immens teure Hochgeschwindigkeitsstrecke der Eisenbahn zwischen London und Birmingham nicht mehr am innerstädtischen Bahnhof Euston enden, sondern im westlichen Vorort Old Oak Common.
Reeves mimt eine schwäbische Hausfrau à la Angela Merkel: „Was wir uns nicht leisten können, können wir nicht machen. Das verstehen Familien ganz genau, die müssen auch schwierige Entscheidungen über ihre Finanzen treffen. Die Regierung handelt genauso.“
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