Flashback 2020 / Hinter den Kulissen: Ein Interview mit Paulette Lenert
Anfang 2020 war noch alles anders. Wie sehr hat das vergangenen Jahr die Welt und Luxemburg verändert? Bis Silvester präsentiert das Tageblatt die interessantesten und bewegendsten Artikel des Jahres der Corona-Pandemie. Dieser Artikel wurde zuerst am 25. März veröffentlicht.
Die Armee vor der „Santé“ und eine Atemschutzmaske am Gesicht: Es sind ungewöhnliche Zeiten für Gesundheitsministerin Paulette Lenert (LSAP). Wie geht sie mit dem Druck um und wo gibt es Lücken im Krisenmanagement? Ein Interview hinter den Kulissen der Corona-Krise.
Tageblatt: Wie geht es Ihnen?
Paulette Lenert: (angespanntes Lachen) Den Umständen entsprechend.
Wie halten Sie das aus?
Ich versuche, nachts abzuschalten und ein wenig zu schlafen. So weit das möglich ist.
Premier Bettel sagt, Sie arbeiten „23 Stunden” am Tag.
Ich versuche, sechs, sieben Stunden zu schlafen.
Wie groß ist der Druck? Eine falsche Entscheidung kann Menschenleben kosten.
Ich versuche, das im Alltag auszublenden. Aber es wird immer belastender. Vor allem seit wir mit Mulhouse in Kontakt waren. Dann hat man sehr reale, verzweifelte Menschen am Telefon. „Da fänkt et un, richteg ellen ze ginn.“
Kann man das einfach so abstreifen?
Ich versuche, jeden Abend Bilanz zu ziehen, mit meinen Hunden Gassi zu gehen und dann schließe ich damit ab. Das habe ich über die Jahre hinweg gelernt. (denkt nach) Irgendwie kriege ich das hin, abends zu sagen: „Sou, elo ass Schluss.“
Die Luxemburger feiern Sie gerade. Sind Sie überrascht?
Ja, das ist neu für mich. Ich war in meinem Leben noch nie so sehr in der Öffentlichkeit. Auch nicht während meines ersten Jahres als Ministerin. Die Leute haben mich nicht gekannt. Es tut gut, dass die Leute hinter einem stehen …
… aber?
Es macht einem auch Angst. Jeder ist darauf fokussiert, was passiert. Das tröstet. Das gibt einem aber auch ein mulmiges Gefühl … Wenn das einmal umschwingt … Mein Leben ist nicht mehr das gleiche.
Inwiefern?
Die Anonymität ist zu Ende. Während meines ersten Amtsjahres hat mich kaum jemand angesprochen. Jetzt merke ich, dass mich die Leute mit dem Coronavirus verbinden: „Ech komme mer bësse vir wéi d’Gesiicht vum Corona zu Lëtzebuerg.“ (lächelt) Das ist irgendwie eine Bürde. Aber momentan geht es. Viele Leute unterstützen mich mit motivierenden Botschaften. Da wird einem warm ums Herz.
Sie sagen, das kann „umschwingen“. Wie meinen Sie das?
Wir setzten alles daran, nicht in ein extremes Szenario wie in Italien oder Mulhouse zu geraten. Ich habe aber keine Garantie dafür. Man weiß es einfach nicht. Wenn ich jetzt hier stehe, fühlt sich das Leben wie eh und je an. Wenn ich aber in Sitzungen bin, denken wir darüber nach, wie wir viele Patienten behandeln und Intensivbetten organisieren könnten. Der Tod ist sehr präsent. Niemand ist so etwas gewohnt. Ich kann mir vorstellen, wenn ein massiveres Szenario eintreten würde … (kurze Denkpause) Dann brauchen die Menschen einen Schuldigen. Das ist … Nun gut, ich mache mein Bestes.
Haben Sie Angst vor dem Schulz-Effekt: Während einer Phase zum Heiligen gehypt zu werden und danach mit Füßen getreten?
Es ist nicht meine Ambition, gehypt zu werden. „Ech maachen einfach mäi Bescht elo.“ Ich bin kein Social-Media-Mensch. Deswegen komme ich gut durch den Alltag. Das ist mein Schutz. Ich versuche aber, die persönlichen Nachrichten der Menschen irgendwann abends zu beantworten. Ich werde nicht plötzlich heilig, weil ich das hier manage. Ich bin der gleiche Mensch wie vorher. Ich bleibe mit beiden Füßen auf dem Boden.
Nicht alles läuft rund: Außenminister Jean Asselborn hat u.a. fünf Millionen Atemschutzmasken und 120.000 Schutzbrillen aus China angekündigt. Transportminister François Bausch spricht hingegen von 500.000 Masken und 6.000 Brillen. Wie kommt es dazu?
(nimmt tief Luft) Wie soll ich das jetzt sagen …? Für uns ist das der Alltag. Wir haben ständig Bestellungen, die schieflaufen. Herr Asselborn muss in verschiedenen Dossiers eher punktuell eingreifen. Er hat ein Bestellformular gesehen und das vielleicht für bare Münze genommen. Sie haben das sicherlich bemerkt: Ich bin vorsichtiger bei meinen Äußerungen. Gerade in diesen Zeiten. Das ist mein Alltag. Ich befasse mich mit den Dossiers. Es sind nicht unbedingt Widersprüche. Es gibt diese Bestellungen.
Aber?
Nur hat das in diesem Fall nicht geklappt: Diese versprochene Cargo-Ladung ist nicht gelandet. Man muss sagen, was Sache ist. Wir arbeiten daran. Ich kündige kein Material an, bevor es gelandet ist und wir in die Kisten geblickt haben. Wir haben noch gestern Neuigkeiten von anderen Ländern erhalten: Die Riesenladung ist angekommen – es war aber nur Schrott drin. Etwas, das nicht bestellt, also nicht verwendbar war. Damit muss man rechnen. Die Beschaffung des Materials ist unser größter Kampf. Wir haben viele Bestellungen parallel laufen. Aber wir jonglieren und jonglieren, bis sie dann hier sind. Herr Asselborn hat das bei einem Dossier gesehen und ist dann optimistisch davon ausgegangen, dass die Ladung am geplanten Tag ankommt. Das war nicht der Fall. Ist aber nicht dramatisch. Zu anderen Zeiten wäre ich wahrscheinlich auch davon ausgegangen, dass das wie geplant abläuft.
Wie kommt es zum Bestellen von „Schrott“?
Der administrative Aufwand ist sehr groß. Jedes Land jagt das gleiche Material. Wir wurden mit Überbietungspraktiken konfrontiert: Wir hatten das Material schon bezahlt – in letzter Minute hat es uns dann aber jemand vor der Nase weggeschnappt. Zu einem sehr hohen Preis. Es gibt Bestellungen, die beschlagnahmt oder geklaut werden. Man muss alle diplomatischen Hebel und Geschäftsverbindungen, die wir in Luxemburg haben, in Bewegung setzen. Unsere Strategie ist deshalb, nicht allzu viel darüber zu reden: Je mehr wir darüber reden, was unterwegs ist, desto größer ist das Risiko, dass jemand es mitbekommt und das Material abfängt.
Die Politik wirkt fast machtlos gegenüber der Privatwirtschaft.
Die Wirtschaft ist auf die Diplomatie angewiesen, die Diplomatie auf die Wirtschaft. Wir brauchen zuverlässige Zulieferer. Deswegen arbeiten wir viel mit der Privatwirtschaft zusammen, um sicher zu sein, dass die Quellen gut sind. Aber dann kommt das Diplomatische voll ins Spiel. Dass man uns alles freischaltet. Dass die Transporte innerhalb der jeweiligen Länder funktionieren. Dass der Papierkram und Fluggenehmigungen in Ordnung sind. Es ist eine lange Kette von der Bestellung bis zur Landung in Luxemburg. Wir haben bereits einen Teil des Materials erhalten. Die großen Bestellungen laufen aber noch.
Sie erwähnen stets das Risiko, das Material nicht auftreiben zu können. Können Sie das konkretisieren?
Das Risiko ist reell. Wir sind ziemlich optimistisch, das Material in den nächsten zehn Tage zu erhalten. Aber wir können das Risiko nicht kleinreden: In Mulhouse sterben Menschen, weil keine Beatmungsgeräte vorhanden sind. Das liegt nicht daran, dass Frankreich keine kaufen will. Sie haben keine mehr und erhalten neue Geräte nicht schnell genug. Das ist lebenswichtiges Material. Wenn Sie keine Schutzanzüge, Masken und Handschuhe haben, kann niemand mehr operiert werden. Das soll jetzt nicht alarmistisch klingen. Das versuchen wir zu vermeiden, sonst geraten die Menschen in Panik. Aber es ist eine Realität.
Ist diese Krise ein Weckruf?
Ich hoffe, dass nach dieser Krise ein anderes Bewusstsein existiert: Die Globalisierung hat uns abhängig gemacht. Es ist traurig, wie nackt man auf einmal da steht. Früher konnte man wichtiges Material problemlos auf dem Markt kaufen. Dann kommt die Krise und plötzlich funktioniert nichts mehr. Europa hat sich extrem abhängig gemacht.
Können Sie schon erste Lehren aus dieser Krise für Luxemburg ziehen?
Es ist etwas passiert, das sich niemand vorstellen konnte. Luxemburg hatte verhältnismäßig gute Materialreserven. Deswegen funktioniert jetzt auch noch alles.
Was heißt verhältnismäßig?
Beispielsweise die Anzahl an Betten, Masken und Beatmungsgeräten. Wir waren nicht in einem Sparmodus. Für mich wird die Zeit nach der Krise eine sehr wichtige Zeit werden. Wir brauchen neue „plans d’urgences“. Ich werde mich dafür einsetzen, dass wir wieder in eine Richtung gehen, in der Europa sein wesentliches Material wieder selber produzieren kann. Damit wir nicht mehr so abhängig sind von China und anderen Kontinenten. Wir müssen uns als EU stärken. Also wenn das hier nicht die Botschaft ist, dass Europa wieder zusammenfinden muss, um sich selbst erhalten zu können, dann weiß ich nicht, was noch passieren muss.
Ist Luxemburgs „Santé“ noch zeitgemäß und für solche Krisen gewappnet?
Die „Santé“ ist typisch luxemburgisch: Wir sind eigentlich ganz flexibel und reaktiv. Es ist uns gelungen, innerhalb kürzester Zeit eine neue Verwaltung auf die Beine zu stellen: Unser Krisenstab umfasst fast 80 Leute. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das im Ausland so schnell gehen könnte. Wir haben den Vorteil, dass jeder jeden kennt. Es wird schnell geortet, wer gebraucht wird und wer helfen kann. Wir haben ein relativ gutes Gesundheitssystem.
Aber?
Aber eine meiner Prioritäten nach der Krise ist folgende: Luxemburg nach dieser Klammer zu einem top-innovativen Gesundheitssektor zu machen. Wir haben eine Reihe Apps spontan für die Krise entwickelt. Das zeigt auch, wie effizient diese Dinge sind. Wir haben ein System aufgebaut, um die ganzen Vorräte im Land überwachen zu können. Wäre ja schön, wenn man das auch in Zukunft verwenden könnte. Das schalten wir nach der Krise nicht ab. Ganz modernes Organisationsmanagement – das sind Dinge, die ich schon bei der „Fonction publique“ gepredigt hatte, als ich dort gearbeitet hatte. Wir brauchen mehr Management im öffentlichen Dienst. (spricht ein wenig langsamer und leiser) Das bestätigt sich gerade.
Warum ist der Direktor der „Santé“, Dr. Jean-Claude Schmitt, nicht mehr bei Ihren Pressekonferenzen dabei?
Am Anfang waren die Pressekonferenzen rein auf sanitäre Aspekte fokussiert. Danach ging es verstärkt um die Krisenkommunikation der Regierung. Das bedeutet aber nicht, dass Sie Dr. Schmitt nie wieder sehen werden.
Ärzte sollen Patienten nur noch in Notfällen behandeln. Einige Ärzte nehmen das nicht ernst und interpretieren die Regelung offenbar sehr großzügig. Was ist Ihr Feedback?
Unsere Zusammenarbeit mit den Ärzten funktioniert. Wir versuchen, auf einer Linie zu sein. Aber es ist ein riesiger Sektor. Es wäre eine Illusion, zu glauben, die Menschen von heute auf morgen mit dem Zauberstab auf eine Linie bekommen zu können. Aber die Ärzte ziehen an einem Strang und kooperieren mit uns. Diese Woche findet der komplette Wechsel vom normalen Gesundheitssystem rüber zu den „Centres de soins avancés“ statt. Das sind völlig neue Teams.
Inwiefern?
Nehmen Sie die Luxexpo. Da haben Sie Leute, die sich vorher nicht gekannt haben: Jetzt arbeiten sie als Team. Das ist bemerkenswert. „Dat ass eng immens Solidaritéit.“
Gerade solche zentralisierten Strukturen fördern aber die Verbreitung des Coronavirus. In Italien waren es beispielsweise Krankenhäuser.
Deswegen haben wir extrem strenge Hygienemaßnahmen. Es werden sehr hohe Standards in Sachen Sicherheit genommen. Alles andere würden wir einfach nicht schaffen: Wenn wir jetzt auf einmal 12 oder 15 Strukturen im ganzen Land hätten, müssten sie alle beliefert werden … Das ist unmöglich. Von der Effizienz her ist es besser, große Zentren zu haben, die professionell funktionieren. Wir tun alles dafür, um sie so gut zu schützen, wie es möglich ist. Das ist die einzige Chance, um alles effizient zu leiten.
Ihr Krisenplan sorgt auch für ökonomisch schwierige Zeiten. Wie groß ist die Akzeptanz der Wirtschaftswelt?
In der ersten Woche wäre ich nicht mit den drastischen Maßnahmen durchgekommen. Die Menschen haben diese unterschiedlichen Stufen gebraucht. Mittlerweile ist aber jeder an Bord. Ich glaube, es gibt niemanden mehr, der bestreitet, dass es der richtige Weg war, drastische Maßnahmen zu ergreifen. Wir sind jetzt gefragt, Lösungen für die Wirtschaftswelt zu finden. Ich erhalte auf jeden Fall keine Attacken mehr wie vorher: „Sot, hutt Der se nach all? Dat ass jo total disproportionnéiert.“ Ganz im Gegenteil. Es gibt viele Probleme zu lösen. Aber die Menschen haben in Luxemburg verstanden, dass wir durch die Maßnahmen in zehn Tagen vielleicht einen anderen Verlauf haben als in anderen Gegenden.
Gerade die Solidaritätssteuer scheint die Regierung zu spalten. Wie sehen Sie das?
Man muss eins nach dem anderen tun. Wir versuchen gerade, das Schlimmste für unser Land zu verhindern. Wir brauchen das Material jetzt. Wir versuchen, die Leute zu beruhigen. Danach müssen wir die Auswirkungen beurteilen. Niemand kann die Kosten voraussagen. Niemand weiß, wie lange es dauern wird. Danach wird die Rechnung gemacht. Es wird keine kleine Summe sein. Dann muss man sehr vieles überdenken.
Haben Sie finanziell freie Hand?
Also freie Hand … Wir sehen uns regelmäßig in der Regierung. Die Entscheidungen werden gemeinsam getroffen. Als die ersten Probleme mit den Bestellungen aufgetreten sind, habe ich mir das von den Kollegen absegnen lassen. Es gab noch nie eine Diskussion à la „Muss dat elo sinn?“. Wir sind uns bewusst, dass, wenn wir alles kriegen, was wir haben wollen, wir sicherlich zu viel haben werden. Das ist mein schönstes Szenario: Dass wir zu viel Material haben. Das können wir weiterverkaufen oder in der Entwicklungshilfe einsetzen. Aber es gab noch keine Diskussionen, dass irgendwo beim Krisenmanagement gespart werden müsste.
Wer kompetent und souverän führt, macht sich nicht nur Freunde: Wie neidisch sind Ihre Parteikollegen auf Sie?
Bis jetzt sind die Kollegen parteiübergreifend extrem solidarisch. Jeder hilft, wo er kann. Ich habe wirklich Unterstützung von allen Kollegen. Also wenn es Pfeile gibt, ich habe noch keinen im Rücken stecken. (lacht) „An ech hunn en décke Pelz.“
- Der Schattenboxer Xavier Bettel - 14. Juli 2022.
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