Epidemie / Forscher: Warum eine Zahl nicht ausreicht, um Corona richtig einzuschätzen
In der Berichterstattung wird die Corona-Pandemie oft auf eine Zahl reduziert: die Reproduktionszahl „R“. Vereinfacht sagt sie aus, wie viele Personen eine infizierte Person im Durchschnitt ansteckt. Dabei ist R nur ein Stein im Baukasten, mit dem Wissenschaftler ihre Vorhersagen machen. Hinzu kommt: R-Wert ist nicht gleich R-Wert. Worauf man achten muss, erklärt der Forscher Dr. Alexander Skupin von der Universität Luxemburg.
Wo liegt die Reproduktionszahl im Moment in Luxemburg?
Das hängt davon ab, welche Reproduktionszahl man sich ansieht. Wir unterscheiden die effektive Reproduktionszahl Reff und die Reproduktionszahl Rt. Die effektive Reproduktionszahl ist eine Abschätzung und liefert eine Interpretation, wie viele Leute von einem positiven Fall angesteckt werden. Rt hingegen rechnet eine mögliche Immunisierung in der Population nicht mit ein.
Bei dem Wert, der häufig in der Presse zu lesen ist, handelt es sich um die effektive Reproduktionszahl – die liegt in Luxemburg momentan zwischen 0,7 und 0,8. Der Rt-Wert, der die Immunisierung der Population nicht mit einbezieht, um 0,9.
Der effektive R-Wert liegt in Luxemburg bereits seit Ende März unter 1, ist das richtig?
Dazu muss man sagen, dass es sich um Schätzungen handelt. Es gibt verschiedene Methoden, wie man das abschätzen kann. Je nach Methode variiert Reff. Es gibt Verfahren, nach denen Reff Ende März unter 1 gerutscht ist.
Das Robert-Koch-Institut (RKI) hat vor wenigen Tagen einen weiteren R-Wert eingeführt: den geglätteten R-Wert. Was hat es damit auf sich?
Der Hintergrund, warum das RKI diesen geglätteten R-Wert herausgibt, ist der, dass Fluktuationen einen starken Einfluss auf den R-Wert haben können. In Luxemburg sind die besonders stark, weil wir hier geringere Zahlen haben als z.B. in Deutschland. Dieser geglättete R-Wert berücksichtigt den Wochenend-Effekt. Den gibt es auch in Luxemburg. Über das Wochenende werden weniger Tests gemacht. Würde man nicht glätten, dann hätte man montags immer einen geringeren R-Wert, weil weniger Tests gemacht wurden. Um das auszugleichen, verwenden wir ein sogenanntes „smoothing“, bei dem über eine Periode gemittelt wird.
Am Mittwoch wurden 10 Neuinfektionen gemeldet und am Donnerstag 11. Das bedeutet aber nicht automatisch, dass die Reproduktionszahl wieder über 1 liegt?
Genau. Das kann man schwer abschätzen. Eine andere Eigenschaft von diesen R-Schätzungen ist, dass wir damit immer einen Wert für die Vergangenheit angeben. Der R-Wert, den wir heute ausrechnen können, der bezieht sich auf den Zustand von vor ein paar Tagen. Es gibt eine Verzögerung von fünf bis zehn Tagen.
Das RKI macht deshalb etwas, das es als „Nowcast“ bezeichnet. Dabei wird versucht, die Testergebnisse an die richtige Position zu verschieben. Der R-Wert sagt ja etwas über die Ansteckung aus. Typischerweise gibt es aber eine Verzögerung, bevor Symptome auftreten. So versucht man den Blick in die Vergangenheit zu kompensieren.
Oft wird behauptet, bei einem R-Wert unter 1 könne man Lockerungen an den Lockdown-Maßnahmen vornehmen. Ist das eine wissenschaftliche Einschätzung oder ist das eine populäre bzw. politische Einschätzung?
Die R-Werte sind nur ein Indikator dafür, ob man lockern kann. Der R-Wert sagt nichts über die tatsächlichen Fallzahlen aus. In der Epidemie-Bekämpfung ist essenziell, ob wir die Fälle isolieren können, um eine weitere Ausbreitung zu unterdrücken. Das wiederum hängt von den Kapazitäten, die für das „back tracing“ oder „contact tracing“, wie es auf Neudeutsch genannt wird, zur Verfügung stehen, und von den tatsächlichen Fallzahlen ab. Selbst wenn wir einen R-Wert unter 1 haben, aber die Fallzahlen sehr hoch sind – z.B. 100 oder 200 Fälle pro Tag in Luxemburg – dann würden das heißen, dass wir mit dem „contact tracing“ nicht hinterherkommen.
Im Klartext: Unter Contact-Tracing-Kapazitäten versteht man, wie viel Personal dem Staat zur Verfügung steht, um Infektionsketten zurückzuverfolgen?
Genau.
Die Immunität spielt bei den R-Werten eine gewisse Rolle. Heißt das, wenn sie über ein gewisses Maß gestiegen ist, kann R nicht mehr steigen?
Wenn die gesamte Population immun wäre, dann könnte keine Ansteckung mehr stattfinden. Die Herdenimmunität, über die oft diskutiert wird, tritt ein, wenn ein gewisser Prozentsatz in der Population immunisiert ist. Dann kann das Virus sich nicht weiter ausbreiten. Das spielt auch bei Impfungen (z.B. gegen Kinderkrankheiten) eine Rolle. Wenn man einen Großteil der Bevölkerung geimpft hat, kann sich die Krankheit nicht mehr verbreiten. Der Anteil der Population, die geimpft werden muss, hängt von Virus zu Virus ab.
Es gibt sehr unterschiedliche Meldungen, was die Immunität und die Zahl der tatsächlich an Corona erkrankten Personen angeht. In Spanien sollen letzten Zahlen zufolge fünf Prozent der Bevölkerung immun sein. Kann man bereits von einer Herdenimmunität sprechen?
Nein, bei weitem nicht. Es gibt grobe Schätzungen, nach denen man um 60 Prozent Immunität haben müsste, bevor man von Herdenimmunität sprechen kann. Diese Immunität macht genau den Unterschied zwischen Rt und Reff. Rt berücksichtigt die Immunisierten nicht. Um von Rt auf Reff zu kommen, muss man die Immunität in der Population berücksichtigen.
Wie kann der effektive R-Wert überhaupt berechnet werden ohne eine genaue Kenntnis darüber, wie viele Menschen immun sind?
Dafür gibt es verschiedene Methoden. Für die Schätzung von Rt benutzen wir epidemiologische Modelle. Das funktioniert mit einer kleineren Ungenauigkeit, als wenn wir versuchen, Reff zu bestimmen. D.h. die Fehlerangabe für den Rt-Wert ist geringer als für den Reff-Wert. Deswegen haben wir intern hauptsächlich auf den Rt-Wert geschielt. Der Rt-Wert spiegelt letztendlich wider, inwiefern Maßnahmen Einfluss haben, wohingegen Reff die Immunisierung mit berücksichtigt, und dabei treten größere Unsicherheiten auf.
Das bedeutet also, wenn man als Politiker vorsichtig sein will, schaut man sich lieber den Rt-Wert an als den Reff-Wert?
Das ist das eine. Das ist aber nur ein kleiner Baustein. Wir blicken wesentlich mehr auf verschiedene Modelle, die wir berechnen – unsere „short term conceptions“. Dabei machen wir kurzfristige Vorhersagen, indem wir Modelle an die Daten anpassen und so mit der wirklichen Fallzahl eine gewisse Voraussage machen.
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