Rezension / Für immer ein Heimatloser: „Der versperrte Weg“ von Georges-Arthur Goldschmidt
Georges-Arthur Goldschmidt ist einer der Autoren, die es dieses Jahr auf die Longlist des Deutschen Buchpreises geschafft haben. In die Shortlist wurde sein Werk „Der versperrte Weg: Roman des Bruders“ jedoch nicht aufgenommen. Schade? Nein, denn der Roman porträtiert zwar auf nuancierte Weise die Identitätskonflikte eines Deutschen mit jüdischer Herkunft, bietet erzählerisch jedoch nichts Neues. Die kleine Sphäre des Vereinzelt-Individuellen verlässt das Werk nicht – es bleibt bei der einfachen Nacherzählung einer Lebensgeschichte.
„Der versperrte Weg: Roman des Bruders“ – eine wahre Geschichte
Georges-Arthur Goldschmidt befindet sich mit seinen 93 Jahren am obersten Ende des Altersspektrums derjeniger, die dieses Jahr auf der Longlist des begehrten Literaturpreises landeten. „Der versperrte Weg“ entstand laut Nachwort auf eine Ermutigung von Thedel v. Wallmoden hin. Dieser hatte gefragt, „was aus dem ältesten Bruder geworden sei, der in den autobiografischen Büchern des Verfassers selten und in den späten Jahren gar nicht mehr erwähnt worden sei“. Diese Lücke schloss Goldschmidt mit seinem aktuellen Roman, die Erzählung fußt also auf wahren Begebenheiten.
Das, was Erich zu sein glaubt, ist er nicht. Und das, was er gerne einmal sein möchte, kann er nicht werden. Erich Goldschmidt, der im Jahr 1924 in Reinbek geboren wird, ist nämlich jüdischer Herkunft. Dabei liebt er die deutsche Kultur, Begriffe wie Heimat und Muttersprache sind für ihn nicht bloß Worthülsen, sondern die Achsen, an deren Schnittstelle seine Identität als kleiner Junge zu keimen beginnt. Dann aber folgt bald schon der erste Wendepunkt: Erichs Schulkameraden beginnen sich von ihm abzugrenzen, Schimpfworte wie „Judensau“ und „Scheißjidd“ fallen, ohne dass sich ihre Bedeutung dem Musterschüler erschließen würde. Denn: „Was hatte er denn mit ,Juden’ zu tun? Die waren doch etwas Dunkles, das Angst machte – ob es überhaupt noch welche gab?“
Erich erfährt von seiner scheinbaren Andersheit dadurch, dass er schrittweise aus der Dorfgemeinschaft ausgeschlossen wird. Mit seinen Eltern redet Erich nie offen über ihre jüdischen Wurzeln, dieses Vermächtnis ist etwas, das langsam ins Bewusstsein des jungen Erichs sickert wie das Wissen um eine unheilbare Krankheit, deren Diagnose ausbleibt. Erich ist also kein Deutscher wie alle anderen, sein größter Wunsch, der Hitlerjugend (HJ) beizutreten, bleibt ihm verwehrt. Mit dieser Erkenntnis geht ihm ein Gefühl von Zugehörigkeit verloren, das sein ganzes Leben lang unersetzbar bleiben wird.
Dem Vaterland entfremdet
Noch als Kinder müssen er und sein Bruder ohne die Eltern flüchten. Die Reise führt sie zunächst nach Italien, dann nach Frankreich. Dort verbringen sie einige Zeit in einem Jungeninternat, bis die Nationalsozialisten in Frankreich einmarschieren und Erich sich der Résistance anschließt. Nach dem Krieg wird er zu einer „Displaced Person“, also zu jemandem, den der Krieg ins Exil getrieben hat und der danach nicht eigenständig zurückkehren oder sich irgendwo anders niederlassen kann. Erich schließt sich der Fremdenlegion an, bleibt aber, auch wenn ihm die französische Staatsbürgerschaft schließlich zuerkannt wird, bis zu seinem Tod ein entwurzelter Mensch. Nichts, was auf den Krieg folgt – weder seine Offizierskarriere noch seine Ehe – können ihm ein neues Zuhause und eine Möglichkeit, sich wieder angehörig zu fühlen, bieten.
Um es auf eine schlichte Formel zu bringen: „Der versperrte Weg“ von Georges-Arthur Goldschmidt handelt von dem zwangsweise verfehlten Leben eines um sich selbst betrogenen Menschen. Der Sockel seines „Ich“ – ein aus feurigem Patriotismus bestehender Monolith – wird schon im Laufe seiner Kindheit durch die wachsende Judenfeindlichkeit erbarmungslos zerschlagen; die dadurch entstandene Leerstelle bleibt bis zuletzt der Abgrund, um dessen Rand sich die Sinnsuche wie ein makabrer Totentanz vollzieht. Das anfängliche Unverständnis über seine ihm übergestülpte Andersartigkeit, die sich langsam herausschälende Erkenntnis, dass er nicht nur von der Norm abweicht, sondern ihm wegen seiner jüdischen Abstammung auch schäumender Hass entgegenschlägt, sein dadurch hervortretendes Grauen – all das sind Etappen auf Erichs Weg, die von ihrer tragischen Endgültigkeit her an die Vertreibung aus dem Paradies erinnern.
Keine einfache Bußgeschichte
Erich wird etwas Unwiederbringliches gestohlen, für sich selbst hat er dann nur noch Abscheu übrig. Darin ähnelt er B., dem Protagonisten von Imre Kertész’ grandiosem Roman „Kaddisch für ein nicht geborenes Kind“. Auch macht es auf herzzerreißende Art deutlich, dass – wie Virginie Despentes in „King Kong Theorie“ festhält – die Schuld etwas das, das einer Anziehungskraft unterworfen zu sein scheint, „die sie immer auf die Seite derer neigen lässt, der das zugefügt wurde, statt auf der Seite dessen, der zugeschlagen hat“. Erich wird seiner Gegenwart und Zukunft beraubt, die daraus erwachsende Bitterkeit richtet er gegen sich selbst – zwar nicht in Taten, wohl aber durchgehend in Gedanken und Gefühlen, die der schmale Roman immer wieder offenlegt: „Er war sich selber verhasst und dazu auch noch die verdammte Herkunft! Er ging wie auf Stelzen durch die Landschaft.“
Die größte Leistung des Romans ist wohl, dass er trotz der geistigen Neuausrichtung von Erich – schließlich lässt sich der frühere HJ-Aspirant auf französischem Boden zu einem Guerilla-Kämpfer ausbilden – nicht dem Schema des Bildungsromans oder einer Wandlungsgeschichte folgt. Zwar sieht Erich plötzlich in Frankreich das „Land der Aufklärung“, dem eine zivilisatorische Funktion zukommt, und so ist er auch von seiner Mission als Teil des französischen Widerstands durchaus überzeugt, doch bedeutet sein Gesinnungswandel kein „Coming of Age“, keine Wende hin zu einem höheren oder richtigeren Bewusstsein.
A broken Hallelujah
Die Aufdeckung seiner jüdischen Provenienz ist kein einfacher ironischer Twist, der die Handlung in eine neue Richtung lenkt und ihn – einem Faschisten der nächsten Generation – zur Läuterung und zur Revision seiner Überzeugungen zwingt. Spät folgt die Einsicht, dass er seiner Emigration zu verdanken hat, dass er nicht „den falschen Weg“ einschlug. Sowohl davor als auch danach bedeutet das Schultern des Widerstandskämpfer-Gewehrs aber vor allem eine Selbstflucht, ein leicht über- als auch abzustreifendes Identitätsangebot, das Erich, so lange es währt, gerne annimmt. Dabei fühlt er sich von seinen Mitstreitern weiterhin abgeschnitten, sein „Judentum“ ist die Trennwand, durch die er die anderen wie durch einen Schleier wahrnimmt und über die hinweg sich keine Hände reichen lassen.
Damit ist Erichs Seitenwechsel, um es salopp mit den Worten Leonard Cohens zu sagen, „not some kind of victory march, no it’s a cold and it’s a broken Hallelujah“. Der Roman kratzt, ohne dass das eindeutig der Anspruch des Autors wäre, an der allgemeinen Annahme, dass Menschen, die sich für Ideale wie Freiheit und Gleichheit einsetzen, dies aus den „richtigen Gründen“, das heißt aus einer inneren Überzeugung heraus, tun. Das ist bei Erich zwar teilweise der Fall, doch sucht er die Einbettung in eine größere Gemeinschaft vor allem, damit er – so die Hoffnung – in ihr aufgehen und damit das Joch seines jüdischen Erbes zurücklassen kann. Dieses Vorhaben gelingt ihm jedoch nicht. Beunruhigend ist die implizite Aussage des Textes, dass Glaubens- und Identitätsinhalte kontingent oder gar austauschbar sein können und es bei Radikalismus weniger um das „Was“ geht als darum, sich vor der Uneindeutigkeit des Lebens zu verstecken, indem man sich ganz einer Idee, einem System, einer Weltanschauung verschreibt.
Was Leser jedoch wissen sollten: „Der versperrte Weg“ bietet weder eine systemische Analyse noch übergreifende Erklärungsansätze für das erzählte Schicksal. Im engen Kreis des Individuell-Persönlichen liest sich der Roman als eine stilistisch angestaubte, jedoch nicht ganz uninteressante, weil sorgfältige Charakterstudie. Wer sich jedoch mehr erhofft, den enttäuscht das kleine, auf autobiografische Erlebnisse beruhende Büchlein.
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