Theologie / Fußball ist (k)eine Religion – Glaube, Kult und Götter des runden Leders
Kult und Rituale bei Fans und Spielern, das Stadion als Kathedrale, Trainerlegenden als Glaubensstifter – Fußball hat durchaus religiöse Züge. Nur wenig spricht dagegen. Selbst die Kommerzialisierung kann dieser These kaum etwas anhaben.
Das Foto von Harry Kane in der Donnerstagsausgabe des Tageblatt sagt alles aus und der Titel spricht Bände: Der FC Bayern München ist ins Wanken geraten. Dabei ist der deutsche Serienmeister bei seinem Auftritt im Champions-League-Achtelfinale in Rom sogar zu Fall gekommen, als er bei Lazio 0:1 verlor. „Aber das ist doch nur Fußball“, sagt ein Kollege und Bayern-Sympathisant. „Mein Gott“, antworte ich. „Nur Fußball zu sagen, geht schon gar nicht“, füge ich hinzu. „Das ist doch Blasphemie!“
Für viele Menschen ist der Fußball mehr als nur ein Sport. Er ist die Quintessenz des Lebens, ein Glaubensbekenntnis und Lebenserklärung zwischen zwei Seitenlinien und zwei Torauslinien, zwischen vier Eckfahnen und zwei Toren – dem Tor zum Fußballhimmel und dem zur Hölle. Wobei zu sagen ist, dass selbst in der Hölle Erlösung zu finden ist, schließlich lauern dort die „Roten Teufel“ aus Kaiserslautern oder vom CA Independiente aus Avellaneda. Fußball hat also durchaus Merkmale einer Religion.
Glaubensrichtungen
Wenn es sich um eine Religion handelt, dann gibt es auch verschiedene Glaubensrichtungen: das Tiki-Taka aus viel Ballbesitz und zahlreichen Kurzpässen. Oder etwa das brasilianische „Jogo bonito“ (schönes Spiel) bis zu seinen Vollendungen 1970 und 1982, der niederländische „Totaalvoetbal“ der 70er-Jahre oder italienische „Catenaccio“ der 60er. Die Vorläufer des Ersteren werden manchmal im österreichischen „Wunderteam“ von 1931 bis 1933 oder in der ungarischen Nationalmannschaft der 50er-Jahre gesehen. Nicht zufällig war ein Österreicher namens Ernst Happel in den 60ern und frühen 70ern in den Niederlanden tätig und holte mit Feyenoord Rotterdam den Europapokal der Landesmeister und den Weltpokal. Und den „Catenaccio“ machte der argentinische Trainer Helenio Herrera berühmt. Er geht jedoch auf den „Schweizer Riegel“ zurück, dessen Erfinder wiederum der Österreicher Karl Rappan war.
Wenn es sich um eine Religion handelt, dann gibt es meistens auch Götter. Einige Fußballgötter haben in den vergangenen Jahren das Zeitliche gesegnet und weilen nun als „Unsterbliche“ im Fußballhimmel: Johan Cruyff (2016), Diego Armando Maradona (2020), Pelé (2022) und Franz Beckenbauer (2024). „König Johan“ gilt als herausragender Akteur des „Totaalvoetbal“ von Ajax Amsterdam und der niederländischen Nationalmannschaft bei der WM 1974, als strategischer Kopf. „Kaiser Franz“ gestaltete als Libero und defensiver Mittelfeldspieler das Spiel seiner Mannschaft „aus der Tiefe heraus“, ebenso mit hoher Spielintelligenz und Übersicht wie mit versierter Technik und starkem Passspiel.
Götter im Olymp
Pelé war der kompletteste Spieler mit seiner herausragenden Technik, seiner Schnelligkeit und Athletik. Er war beidfüßig stark und sowohl sprung- als auch kopfballstark. Was ihn schließlich außer seiner vielen Tore zur Ausnahmeerscheinung machte: Er konnte auf unterschiedlichen Positionen eingesetzt werden. Maradona war sowohl Spielmacher mit großen Führungsqualitäten als auch Dribbelwunder auf engstem Raum. Er hatte den Ball so sehr unter Kontrolle, dass dieser zu seinem Körper zu gehören schien. Kommen wir zu den beiden noch lebenden „Unsterblichen“.
Ebenso vielseitig wie beidfüßig, schusshart und schnell, technisch virtuos und mit allen Finten gesegnet ist Cristiano Ronaldo. Lionel Messi ist Dribbelkönig wie Spielgestalter, ein Zehner wie auch ein Neuner, sowohl Flügel- als auch Mittelstürmer. Götterstatus besaß er längst, doch mit dem WM-Titel trat er endgültig in den Olymp ein. Messi habe den alten Fußball (der Götter) 2022 in Katar noch einmal zurück in die Gegenwart geholt: genialisch, tänzerisch, unberechenbar. Er erinnerte dabei an den kurz zuvor verstorbenen Maradona, den sie in Argentinien „D10S“ nennen und eben nicht nur wie einen Gott verehren, sondern auch nach ihm die Iglesia Maradoniana gründeten.
„Lob des Dribbelns“
So schreibt der französische Schriftsteller Olivier Guez in seinem Essayband „Lob des Dribbelns“. Der Dribbler sei, so Guez weiter, eine Figur aus einer anderen Zeit, ein Spieler, ein Trickser, „ein Erfinder wahnwitziger Gesten“. Über Fußball zu schreiben, bedeute, erklärt der Franzose, die Geschichte eines Landes und einer Stadt zu erzählen, das kollektive Gedächtnis, eine gemeinsame Vorstellungswelt, die populäre Kultur einer Nation zu ergründen. Er erzählt von Helden, Antihelden und tragischen Helden wie Mané Garrincha, der aus dem Elend kam, 1958 an der Seite Pelés Weltmeister wurde – und sich mit 49 Jahren zu Tode soff.
Wie erst kürzlich der deutsche Fußballphilosoph und Sportsoziologe Gunter Gebauer anlässlich des Todes von Franz Beckenbauer schrieb, habe dieser viele Fußball-Fans lange von quasi Unvorstellbarem träumen lassen. Seine Spielweise sei so eng mit dem Begriff der „Eleganz“ verbunden, heißt es auf ball-orientiert.de, und „durch seinen aufrechten Gang versprühte Beckenbauer eine besondere Aura, die die eigenen Mitspieler mitzog. Was ihm mitunter als Arroganz ausgelegt wurde, waren letztendlich nur die besonderen Fähigkeiten eines herausragenden Fußballers.“
Derweil schreibt Gebauer über die Ausnahmeerscheinung: „Wir haben bei Franz Beckenbauer die Verwandlung einer normalen Person in eine Art übernatürliche Person erlebt, wie das auch bei Pelé, Diego Maradona oder zuletzt Lionel Messi der Fall war. Es gibt ab und zu Menschen, die scheinbar Übernatürliches vollbringen.“ Der Berliner Philosoph erinnert zudem daran, dass „Beckenbauer von seiner Herkunft ein relativ einfacher Mensch war, der in einen mythischen Raum katapultiert wurde und da fast lebenslang geblieben ist (…) in einer eignen Liga, in einer eigenen Sphäre“.
Zu den Göttern gehören noch etliche andere, von Alfredo di Stefano bis Zinédine Zidane, aber auch die „gefallenen Engel“, die abseits des Rasens und nach ihrer Karriere im Leben ins Straucheln gerieten, wie Mané Garrincha und Ronaldinho, George Best und Paul Gascoigne, Stan Libuda und Gerd Müller, aber auch fußballerische Rebellen und Kultfiguren wie die brasilianische Ikone Sócrates, der das „Jogo Bonito“ entscheidend mitprägte, sich zusammen mit den beiden Mitstreitern Wladimir Rodrigues dos Santos und Walter Casagrande gegen die Militärdiktatur engagierte und sich bei Corinthians São Paulo für basisdemokratische Strukturen einsetzte, nach seiner aktiven Zeit als Spieler als Kinderarzt arbeitete.
Die Fußballidole von heute sind noch vergleichsweise weit vom Olymp entfernt – oder sie ereilt ein vergleichsweises profanes Schicksal im Milliardenbetrieb des Sports: Statt Lorbeer gibt es Millionen im heutigen Eldorado – in der saudischen Pro League. Selbst die portugiesische Ikone Cristiano Ronaldo verdingt sich dort, neben Neymar, Karim Benzema und vielen anderen. Manche Halbgötter, die ihren Zenit schon überschritten haben, scheinen sich im Paradies zu langweilen. Während „CR7“ auch dort seiner Selbstoptimierung frönt, wirkt Benzema unmotiviert. Ist die Kommerzialisierung des Fußballs zugleich auch seine „Säkularisierung“? Oder gar seine Entweihung? Eine Art Götterdämmerung?
„Das Leben in 90 Minuten“
Wie kann man sich nur diesem „blödsinnigen Spiel“ namens Fußball hingeben, fragt Olivier Guez, dieser „passion absurde et dévorante“. Er antwortet selbst darauf kurz: „Sein unwiderstehlicher Charme ist seine Genügsamkeit.“ Fußball sei schlicht, „egalitär und meritokratisch“, sowohl unberechenbar als auch herrlich grausam. Oder ist er, der Fußball, vielleicht doch eine Religion? Gerade wenn sich so viele Spieler bekreuzigen, wenn sie den „heiligen“ Rasen betreten. „Turek, du bist ein Fußballgott!“, schrie Radioreporter Herbert Zimmermann im WM-Finale 1954. Manchmal haben Stars wie Maradona eine messianische Wirkung. Als Maradona nach Neapel kam, war der Club ganz unten. Mit ihm wurde der SSC Neapel italienischer Meister, seitdem wird er nicht mehr nur in Argentinien als Heiliger verehrt, erinnert sich Gunter Gebauer, der in seinem Buch „Das Leben in 90 Minuten“ die religiöse, spirituelle Dimension des Fußballs erforscht hat. Damals hatte Maradona längst sein „Hand Gottes“-Tor erzielt, im WM-Halbfinale 1986 gegen England, und war Weltmeister geworden. Maradona hatte sein Handspiel mit Gott gerechtfertigt.
„Meine absolute Grundfeste und mein absoluter Stabilisator ist mein Glaube. Der Glaube führt mich durchs Leben“, sagt Jürgen Klopp in dem Film „Fußball Gott – Das Tor zum Himmel“ von David Kadel, auch Autor des Buches „Fußball Gott: Erlebnisberichte vom heiligen Rasen“. Darin geht es unter anderem um intime Glaubensbekenntnisse einzelner Spieler und Trainer. Einige Vereine, etwa Schalke oder Hamburger SV, haben eigene Fanfriedhöfe. Gunter Gebauer weiß: „Die Verbundenheit mit dem Fußball geht auch über das Lebensende hinaus.“ Die fußballerischen Rituale der Spieler und Mannschaften ähneln jenen von Glaubensgemeinschaften. Ihr Jubel gleicht dem Halleluja und Hosianna der Gläubigen. Die Fangesänge sind wie die Chöre in den Kirchen, die Choreos kunst- und liebevolle Inszenierungen und die Stadien moderne Kathedralen. Hinzu kommen Erleuchtungserlebnisse wie der erste Stadionbesuch, der meist dazu führt, dass man ab diesem Zeitpunkt für den einen Verein ist.
Wer oder was spricht also noch gegen die These, dass der Fußball eine Religion sei? Es sind vor allem die Pfarrer und die Kirche selbst, die Einspruch erheben. Und auch viele gläubige Spieler und Trainer betonen, dass es eben doch Wichtigeres als Fußball gibt. „An Jesus kommt keiner vorbei“, weiß ein gläubiger Christ. Ein Fan von Schalke 04 würde sagen: „Außer Stan Libuda.“
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