Theater / Fußball und Bühne: Vom Mythos der Befreiung
Der männlich geprägte Fußball ist voller Geschichten und Legendenbildungen. Der italienische Autor Stefano Massini hat mit seinem Roman „Ladies Football Club“ (2019) einen historisch belegten Gründungsmythos des Frauenfußballs aufgegriffen – und Christine Muller hat daraus zusammen mit Eugénie Anselin in einer Paraderolle eine Bühnenfassung gemacht, die zurzeit im Théâtre du Centaure zu sehen ist.
Ein schöner Tag im April 1917. Die Arbeiterinnen von Doyle & Walker haben gerade Mittagspause. Während ihre Ehemänner, Brüder und Väter an der Front des Ersten Weltkriegs kämpfen, bauen die Frauen in der Fabrik Bomben, Granaten und andere Rüstungsgüter zusammen. Doch an diesem Tag finden Rosalyn, Olivia, Violet und wie sie alle heißen einen Ball auf dem Fabrikhof und beginnen damit Fußball zu spielen. Sie finden Gefallen daran und bilden eine Mannschaft, trainieren und verbessern ihre Technik. Bald kommt es zum ersten Spiel. Immer mehr Frauenfußballclubs entstehen, in England bis zu 150, die in Ermangelung einer Männerliga immer mehr Zuschauer finden.
Der italienische Schriftsteller Stefano Massini, bekannt unter anderem durch Bücher wie das wundervolle „Buch der fehlenden Wörter“ (2020) und einer der meistgespielten zeitgenössischen Dramatiker seines Landes auf internationalen Bühnen, hat sich von dieser wahren Begebenheit inspirieren lassen. Kraft seiner Fantasie dachte er sich die Biografien der elf Spielerinnen aus. Jede von ihnen besitzt ihre Eigenart, ihren Traum, ihre Ängste. Doch mit Mut und Ironie haben sie eine männliche Domäne erobert: den Fußballplatz.
Nach seinem Studium der Altphilologie an der Universität Florenz sammelte Massini bei dem Regisseur Luca Ronconi am Piccolo Teatro von Mailand, dessen künstlerischer Berater er seit 2015 ist, erste praktische Theatererfahrungen und begann, Texte zu schreiben. Für das Stück „L’odore assordante del bianco“ erhielt er 2005 den Pier-Vittorio-Tondelli-Preis. Zwei Jahre später brachte er ein „Memorandum“ über die ermordete russische Journalistin Anna Politkowskaja heraus. Massini adaptierte Mary Shelleys „Frankenstein“ für die Bühne, über den Zerfall von Jugoslawien schrieb er das Stück „Balkan Burger“. In Saint-Etienne kam 2013 in französischer Übersetzung die Trilogie „Lehman Brothers. Aufstieg und Fall einer Dynastie“ heraus, 2015 der Monolog „Credoinunsolodio“ über den Palästinakonflikt. 2020 wurde am Stadttheater Bochum „Die Vereinigten Staaten von Amerika gegen Herbert Nolan“ gezeigt.
Einbruch in die Männerdomäne
Und nun ein Stück über Frauenfußball? Eugénie Anselin gelingt es auf beeindruckende Art und Weise, die elf Spielerinnen ihres Teams zu verkörpern. Es ist hinlänglich bekannt, wie der Fußball die Menschen erobert hat. Aber er spielte über Jahrzehnte eine stark männlich dominierte Rolle. Auch wieder nach dem Ersten Weltkrieg: Als die überlebenden Männer aus dem Krieg zurückkehrten, sollte wieder alles wie zuvor sein. Zwar war der Frauenfußball noch in den 1920er-Jahren auf der Insel sehr beliebt und ein Fußballmagnet, sodass bei einem Spiel in Everton 53.000 zahlende Zuschauer zusammenkamen. Eine echte Konkurrenz war entstanden. Der Einbruch in die Männerdomäne als Akt der Emanzipation,
Der englische Fußballverband untersagte jedoch 1921 den Frauen wieder die Benutzung der Stadien. Vereine wurden verboten – in Großbritannien war Frauenfußball erst wieder 1971 erlaubt. Die Männer – die Vorgesetzten, Väter und Ehemänner – setzten damit der Geste der weiblichen Befreiung wieder für ein halbes Jahrhundert ein Ende. Doch auch auf internationaler Ebene dauerte es lange, bis sich der Frauenfußball etablierte. Noch heute ist er trotz eigener Professionalisierung noch weit von dem kommerziellen Gigantismus des Männerfußballs entfernt. Was allein schon das Angebot im Fernsehen zeigt. Vom riesigen Gender-Gap zwischen weiblichen und männlichen Profis ganz zu schweigen.
Die Regisseurin Christine Muller hat Massinis Romantext, der eine Geschichte der weiblichen Emanzipation erzählt, in eine dramatische Form – auf Französisch – gefasst. Dabei obliegt es Eugénie Anselin, den elf Spielerinnen der Mannschaft jeweils eine Stimme zu geben. In Belgien und Deutschland war die Elf auf elf Darstellerinnen verteilt. In dieser Fassung wurde aus der Polyphonie ein Monolog.
Polyphonie des Monologs
Oder vielmehr: Die Polyphonie bleibt im Monolog bestehen. Es war eine lange gemeinsame Arbeit der beiden Frauen, die sich selbst als Fußballfans sehen. „Selbst meine zweieinhalbjährige Tochter spielt schon Fußball“, sagt Eugénie Anselin scherzhaft und erzählt, wie begeistert die Kleine sich auf jeden Ball stürzt. „Oft ist es so, dass die Jungen von klein auf mit einem Ball aufwachsen, während dies von einem Mädchen nicht erwartet wird. Weil man denkt, dass Jungs sich austoben müssen, während Mädchen mit Puppen spielen sollen. Wir haben unserer Tochter gleich einen Fußball gekauft.“
Sie möge „das Zusammenkommen der Menschen, um sich ein Fußballspiel anzuschauen und für ihr Team zu fiebern“, sagt die 33-Jährige. Die in Paris geborene Schauspielerin, deren fußballerisches Herz für Paris Saint-Germain und Real Madrid schlägt, gelingt es auf beeindruckende Art und Weise, die weibliche Elf in einer Person zu spielen und von einer Person in die andere zu schlüpfen. Zugleich schafft sie als Erzählerin Distanz. Sie ist sowohl Spielerin als auch Chefin und Heilige, schließlich beschwört das Stück die Figur der Jeanne d’Arc als Vorbild herauf. In diesem Sinne ist der Text auch als eine Hommage an die heilige Johanna zu verstehen – als eine „starke, kriegerische Frau, die zum Verschwinden verurteilt ist, wenn sie für die Männer zu viel Platz einnimmt“.
Christine Muller hat in das Bühnenbild von Sophie Van den Keybus Archivbilder projizieren lassen, was der Inszenierung einen zusätzlichen dokumentarischen Charakter gibt: Frauen in Rüstungsbetrieben oder bei der leidenschaftlichen Ausübung des Ballsports, die sich die Haare bedecken mussten, wenn sie das Spielfeld betraten, und die sich solidarisch zusammengeschlossen haben, als die Männer nicht anwesend sind, um das Recht zum Bolzen zu ergreifen. „Der Fußball zeigt hierbei seine befreiende Kraft“, sagt die Regisseurin.
Tradition des Erzähltheaters
Man denkt bei der Inszenierung an die Stücke eines neben Massini anderen großen Talents des italienischen Theaters, Ascanio Celestini. Sein „Teatro di narrazione“ (Erzähltheater) ist ein in Italien entwickelter Stil, bei dem ein „narrattore“ auf der Bühne eine Geschichte in erzählerischer Form wiedergibt. In diesem Fall erzählt Eugénie Anselin nicht einfach nur, sondern sie schlüpft in die einzelnen Rollen. Sie lässt sie aufleben. Das gelingt ihr auf eine mitunter humorvolle Art und Weise. Die Schauspielerin spricht von einer „universellen Stimme, die alle Generationen durchdringt“.
Das Fußballstadion als Manege und Bühne, die Spieler in ihrer ganzen Emotionalität und Theatralik sowie die Zuschauermassen, die im Stadion „ein Ritual von Intensität“ zelebrieren, wie der Literaturwissenschaftler und Fan Hans Ulrich Gumbrecht in seinem Buch „Crowds“ analysiert hat. Fußball und Theater haben mehr miteinander zu tun, als man denkt, weiß auch Eugénie Anselin, deren Professor sie bereits in ihrer Zeit an der Züricher Hochschule der Künste darauf hinwies. Es sind die automatisierten Abläufe der Spieler, die einstudiert werden müssen, bei gleichzeitiger Fokussierung auf Mit- und Gegenspieler. Aber nicht zuletzt ist es die unendliche Reihe von Geschichten vom „Maracanaço“ 1950, dem Schock der Niederlage Brasiliens gegen Uruguay, über das „Wunder von Bern“ 1954 bis zur „Hand Gottes“ von Diego Armando Maradona, dem die gottgleiche Verehrung der Argentinier und Neapolitaner zukam. Fußball ist Theater – und der Sport ist durch den „Ladies Football Club“* um eine weibliche Dimension reicher.
* Weitere Vorstellungen: am 15., 16., 17., 18. und 19. Januar im Théâtre du Centaure sowie am 23. und 24. Januar im Centre des arts pluriels Ettelbrück.
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