Jean Krier / Gedichte Zwischen Fatalismus und Seelenruhe: „Das Ende vom Lied“ liefert Einblicke in ein faszinierendes Lebenswerk
Die Anthologie „Das Ende vom Lied“ umfasst 40 exemplarische Gedichte des 2013 verstorbenen Luxemburger Dichters Jean Krier. Herausgeber ist der Literaturkritiker Michael Braun, der Band erschien 2019 bei dem Verlag „Éditions Phi“. Die Auslese liefert Einblicke in ein faszinierendes literarisches Lebenswerk, das über einen Zeitraum von 30 Jahren entstand. Im Zentrum des Schaffens steht die Auseinandersetzung mit der Vergänglichkeit des Lebens. Krier bewegt sich dabei zwischen Defätismus und Gelassenheit.
In der Anthologie „Das Ende vom Lied“ finden 40 exemplarische Gedichte des berühmten Luxemburger Lyrikers Jean Krier zusammen. Der Auswahlband erschien 2019 bei dem Verlag „Éditions Phi“, Herausgeber ist der Literaturkritiker Michael Braun. Die Auslese bündelt ein facettenreiches wie abgründiges Lebenswerk, das über eine Zeitspanne von drei Jahrzehnten entstand. Kriers Texte bewegen sich fließend zwischen Defätismus und seelischer Aufgeräumtheit, mit ihnen sicherte sich der Dichter über seinen Tod hinaus einen festen Platz in der internationalen Literaturlandschaft. Somit ist der Titel des Bands Programm und nicht Programm zugleich: Mit ihm spürbar wird die fatalistische Weltanschauung eines Autors, der das Leben vom Ende her dachte. Dennoch macht die Veröffentlichung des Büchleins sechs Jahre nach dem Tod des Autors deutlich: Es ist noch lange nicht das Ende vom Lied. Kriers Texte werden weiterhin gelesen – und zu Recht.
Wüst und verwüstet erscheinen die Räume, die Krier in seinen Gedichten heraufbeschwört. In „Belle Île“, dem ersten Kapitel der Anthologie, erscheint die bretonische Insellandschaft als geografischer Fokuspunkt, in den das lyrische Geschehen eingebettet wird. Die Region gewinnt durch die Konkretheit von Kriers Schreiben geradezu an überdeutlicher Kontur. Die Aufmerksamkeit des Autors fällt auf „die abgetretenen Schwellen aus Stein“, die „Lichtbündel des Leuchtturms“ und das „Crêpes-Restaurant an der Strandpromenade: die / Speisekarte / ist voller Fettflecken“. Die Beschreibungen Kriers sind jedoch keine „Bilder / aus gnadenlosem Kitsch“, sie erscheinen nicht als typisierte Darstellungen einer touristisch vollständig erschlossenen Region.
Der Autor, für den die Bretagne zeitlebens selbst ein Sehnsuchtsort war, scheut sich nicht davor, den Blick auf das Raue, Desolate und sogar Ekelerregende der Natur zu richten. Von Aas, Müll, Spinnweben, Ratten, Fäkalien und Gestank ist die Rede, ebenso wie von Kadavern, vertrockneten Kröten und Gedärm. Hunde heulen „in den Blechtonnen“, und „das Meer ist so träge, / schleppt seinen silbrigen Wanst wie ein Rentner“. Mitunter erscheint die Naturkulisse – gleichwohl mehr als ein Szenenbild mit Lokalkolorit – als eine Einöde, in der die ganze Beklemmung des Dichters zum Ausdruck kommt: „[D]ie Flut schlägt an / den Stein / mit Gewühl u Getös, schlägt bleich die Knochen der Toten.“ Hier wird offenkundig: Durch die genaue lokale Verortung wird dem inneren Erleben des Dichters eine greifbare Gestalt verliehen. Ausgedrückt wird eine Bandbreite von Gefühlslagen – oft sind es aber Hoffnungslosigkeit, Ernüchterung, Verbitterung, die sich in den Vordergrund drängen.
Die Beschäftigung mit dem Unausweichlichen
In späteren Texten treten diese Gemütszustände dann vermehrt durch einen abgeklärten Zynismus in Erscheinung. „Die Leber auf dem Asphalt / verschmiert, die Todestropfen gezählt. Am Ende laust / doch der Affe. Allez, tournons la page.“ Die hier fühlbar werdende Verzweiflung wird verständlich, wenn man weiß, dass Krier mit einer schweren Herzkrankheit zu kämpfen hatte und mehrmals an Herz und Leber operiert werden musste. Die Todesnähe wird somit immer wieder in seinem Werk thematisiert – auch sie erhält durch szenische Einschübe ein klar umrissenes Profil: „Denn nachts läufst du barfuß durchs dunkle / Haus hinunter in die Küche um Rotwein zu / trinken, die Kälte des Grabes fest in der Hand.“
Dennoch fällt der Autor nicht der völligen Desillusion anheim. Er gibt sich „ratlos und heiter“, versucht in seiner Auseinandersetzung mit dem Tod, immer wieder in einen Zustand einer – mitunter humorvollen – Gelassenheit zurückzufinden. Die Beschäftigung mit dem Unausweichlichen wird dabei zu einer positiven Lebensaufgabe: „Herzkammermusik: wer da haust. Das gilt es / zu lernen jetzt, jeden Morgen diese Vollendung, / während die ersten Vögel u Abschied endgültig / wieder ein Stück näher.“ Die Hoffnungslosigkeit, die in Kriers beißendem Spott ihren Höhepunkt findet, kann somit punktuell in ein Gefühl von Melancholie übersetzt werden, das einen gewissen Grad an innerer Ruhe zulässt: „Und nun / die Trauer, denn an Land ist ohne Frage / das Meer, nicht mal Rauschen u Plätschern – / manchmal aber zum Durchatmen schön.“
Gerade an dieser Stelle kommt die ungeschützte Wehmütigkeit eines Menschen zum Tragen, dessen Grundeinstellung in der Konfrontation mit Verlust und Tod zwischen Abscheu, Pessimismus und Akzeptanz schwankt. „Im Frühling stirbt man lichterleicht“, schreibt Krier im Gedicht „O Stern“. In dem Text „Steinreich“ begegnet er dem Tod wiederum mit stoischem Gleichmut: „Kein Grund, Trübsal zu blasen über / Berg u Tal oder zu jauchzen u zu frohlocken“. Ein endgültiges Fazit, wie man mit dem Menschenlos – der Sterblichkeit – umzugehen hat, wird indes nicht gezogen. Die unterschiedlichen Gedanken des Dichters wechseln sich in einem steten Turnus ab, das Spannungsfeld zwischen Zerrüttung und Gefasstheit bleibt bis zuletzt bestehen. Das macht Jean Kriers Lyrik authentisch und nahbar. Der Dichter selbst erscheint dabei, wie die schroffen Küstenfelsen der Bretagne, als profilierte wie markante Figur.
Verblasste Sprachbilder neu beleben
Das oszillierende Moment in Kriers Dichtung findet auch in der Sprache selbst seinen Niederschlag. Der Autor, der sich mit virtuoser Sicherheit zwischen verschiedenen Sprachen bewegte, bedient sich neben französischen Einstreuungen sämtlichen Sprachregistern des Deutschen. So steht Umgangssprache („Nicht die Wolken, die es nicht juckt, / wenn winters die Bäume sich recken u strecken“) neben ästhetisierten Wortgebilden („wie flogen die Glocken, wie Blüten, spitzenbesetzt“). Auch werden Phraseologismen als verblasste Sprachbilder mit neuer Bedeutung aufgeladen, indem sie in leicht verfremdeter Form wiedergegeben und / oder ins Wörtliche überführt werden. So erwähnt der Dichter zum Beispiel den „Regen, in dem [er] vor der Traufe“ steht oder zieht – buchstäblich – eine Frau „aus bis aufs Hemd“.
Indem der Dichter auf andere Autoren referiert, spannt er schließlich ein engmaschiges Netz aus intertextuellen Verweisen. Nacheinander aufgerufen werden unter anderem Kafka, Proust und Hölderlin. Indirekt angespielt wird auf den existenzialistischen Schriftsteller Boris Vian, zwischen den Zeilen erahnbar sind die Gestalten Baudelaires und Georg Trakls. Die Auswahl der genannten Schriftsteller verdeutlicht die Dringlichkeit, mit der der Autor das „Verderben“ umkreist. Denn sie alle setzten sich mit dem auf sich selbst zurückgeworfenen Individuum und, damit verbunden, der Frage nach dem Lebenssinn auseinander.
Jean Kriers Lyrik erschüttert durch das immer wieder evozierte Gefühl von Bedrängnis und Enge, amüsiert durch den originellen wie raffinierten Sprachgebrauch und fasziniert durch das existenzielle Ringen, das im Zentrum von seinem Schreiben steht und bis zuletzt nicht aufgelöst wird. Dies wird in dem und durch den Auswahlband „Das Ende vom Lied“ ersichtlich. Die Auseinandersetzung mit dem, was Menschsein bedeutet, wirkt fort. Der letzte Ton ist noch lange nicht erklungen.
Zum Autor
Jean Krier (1949-2013) studierte Germanistik und Anglistik in Freiburg im Breisgau. 1976 kehrte er nach Luxemburg zurück, wo er zunächst am „Collège d’enseignement moyen et professionnel de l’Est“ in Grevenmacher und ein Jahr danach als Gymnasiallehrer für Deutsch am „Lycée de garçons“ in Luxemburg-Stadt arbeitete. Krier schrieb fast nur deutschsprachige Lyrik und veröffentlichte seine Texte vor allem auf dem deutschen Literaturmarkt. Viele seiner Gedichte erschienen in renommierten deutschen, österreichischen und Schweizer Literaturzeitschriften. Zu Lebzeiten veröffentlichte er vier eigenständige Gedichtbände: „Bretonische Inseln“ (1994), „Tableaux. Sehstücke“ (2002), „Gefundenes Fressen“ (2005) und „Herzens Lust Spiele“ (2010). Für letzteren erhielt er 2011 den „Adalbert-von-Chamisso-Preis“ sowie den „Prix Servais“. Posthum erschien der Band „Eingriff, sternklar. Gedichte aus dem Nachlass“ (2014).
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