Pandemie / Gefühlsleben am Rande der Gesellschaft: Die Krise, die Liebe und die harte Wirklichkeit
Das Küsschen zur Begrüßung, die herzliche Umarmung, der spontane Besuch im Restaurant, die Urlaubsreise oder das Familienfest zum Geburts- oder Hochzeitstag. Der Verzicht auf diese bislang alltäglichen Freuden war im letzten Jahr häufig hart. Es war allerdings kein Vergleich mit den alltäglichen Gesten, auf die jene Menschen verzichten mussten, die am Rande der Gesellschaft leben.
„Wie sieht in Pandemie-Zeiten das Gefühls- und Geschlechtsleben jener Menschen aus, die weniger privilegiert durchs Leben gehen, weil sie krank, aus ihrer Heimat geflüchtet oder ohne festen Wohnort sind? Wie kann ihnen geholfen werden?“ Diese Fragen versuchten die Verantwortlichen verschiedener hiesiger Hilfsorganisationen auf einer – notgedrungen virtuell veranstalteten – Konferenz zu beantworten.
Elemente dazu fanden sie in den Erfahrungen, die sie seit einem Jahr vor Ort täglich machten. Mit in der Runde saßen Vertreterinnen von „Médecins du Monde“, des Roten Kreuzes und des Info-Demenz-Zentrums. Der einzige Mann in der Runde war Raoul Schaaf, Leiter des „Comité national de défense sociale“, das mehrere Sozialdienste wie das „Abrigado“ und die „Vollekskichen“ betreut.
Die virtuelle Gesprächsrunde sei das beste Beispiel für die schwierige Gestaltung der Sozialarbeit der letzten Monate, stellten die Gesprächspartner übereinstimmend fest. Genau wie alle anderen Arbeitnehmer waren auch die Sozialarbeiter ins Home-Office verbannt – und damit unfähig, die Menschen zu erreichen, die ihnen anvertraut waren und häufig nicht die Möglichkeit haben, sich digital zu verständigen. „Das beginnt damit, dass bei uns die einzige Gelegenheit war, das Handy aufzuladen“, veranschaulicht Stéphanie Gardini, Sozialarbeiterin bei „Médecins du Monde“, die Lage.
Diese Organisation kümmert sich vorrangig um die Gesundheit der anfälligen Menschen. Sie hat rund 900 Personen in ihren Karteien, wovon jetzt täglich bis zu einem Dutzend beraten und betreut werden. „Médecins du Monde“ habe zwar seine Tätigkeit innerhalb kürzester Zeit umorganisiert, die veränderte Vorgehensweise habe viele der Betreuten jedoch verängstigt. Dies umso mehr als sie durch die Pandemie häufig ihre Arbeit verloren hatten und daraufhin ihr Zimmer nicht mehr bezahlen konnten. „Wie konnte ein Mensch ohne festen Wohnsitz an die Masken kommen, die jedem von uns von Regierungsseite zugesprochen wurden?“, fragt Stépahnie Gardini und bringt damit das Problem auf den Punkt.
Wi-Fi und Telefon waren auch im Flüchtlingsheim „Don Bosco“ auf Limpertsberg ein großes Problem. Das Telefon ist in einem Heim eine wichtige Verbindung zur Außenwelt und zur Familie. Es ist gleichzeitig ein Mittel, um aus der Enge der Behausung auszubrechen, indem man einen Film anschaut oder ein Spiel spielt. Letztendlich war es für die Kinder die einzige Möglichkeit, am Fernunterricht teilzunehmen, wobei die Anzahl der Telefone oder Tablets in einer Familie selten mit der Anzahl der Kinder übereinstimmte. Dazu kam die schwierige sprachliche Verständigung. Willkommen war dafür die Hilfsbereitschaft vieler Lehrer, die die Schulaufgaben direkt ins Foyer brachten. Das Fazit ist dennoch schwer. Die jungen Leute haben ein Jahr in ihrer Ausbildung verloren.
Schwieriger Dialog
„Es war allein schon ein riesiger logistischer Aufwand, die 1.400 Menschen in unseren Foyers dazu anzuhalten, in ihren Räumen zu bleiben“, sagt Marinella Rinaldis, Erzieherin im „Foyer Don Bosco“ mit dem Verweis auf die Enge der Behausungen, wo sich die Familien oftmals nur ein einziges Zimmer teilen. Dazu kommt, dass Familien, die mitunter lange auseinandergerissen waren, plötzlich 24 Stunden täglich zusammen verbringen mussten. „Das hat die Menschen in unserer Obhut an das erinnert, was sie zuvor erlebt hatten. Das hat sie stark belastet“, bestätigt Océane Sansalone, Psychologin beim Roten Kreuz.
Dazu kommen sprachliche Schwierigkeiten und gesellschaftliche Unterschiede. Die Barrieren und Hygienemaßnahmen wurden häufig nicht verstanden. Die Flüchtlinge leben in Gruppen, sei es aus gesellschaftlichen Gründen oder einfach aus Bedarf nach Solidarität und Schicksalsgemeinschaft. Sie betrachten das Foyer als ihr Haus und akzeptieren keine andere Autorität als die eigene. Die Gewaltbereitschaft ist dadurch gestiegen. Genauso müssen die Sozialarbeiter auf eventuelle Selbstmordgedanken achten. Das ist angesichts der Pandemie und der Hygienemaßnahmen nicht einfach. „Wie soll ein Mensch mit einer traumatischen Vergangenheit digital Vertrauen schöpfen?“ ist nur eine der Fragen, die sich die Sozialarbeiter täglich stellen.
Das von Raoul Schaaf geleitete „Comité national de défense sociale“ betreut gesellschaftlich gefährdete Menschen zwischen 15 und 65 Jahren. Sie bekommen Hilfe bei Arbeits- und Wohnungssuche, bei ihrer Drogenabhängigkeit und ein warmes Essen in der „Vollekskichen“. All diese Tätigkeiten wurden im März 2020 abrupt eingestellt. Doch kam ein schneller Neuanfang, „um wenigstens die Schwächsten abzufangen“. Das waren nicht weniger als 200 Menschen täglich, die am speziell für sie eingerichteten Fenster Hilfe suchten.
Schwierig war das Leben im vergangenen Jahr auch für die dementen Menschen, die durch ihre Krankheit am Rande der Gesellschaft leben. Christine Dahm, Leiterin des „Info-Zenter Demenz“, schätzt diese Zahl auf rund 7.500 Männer und Frauen, von denen rund zwei Drittel zu Hause von ihren Angehörigen betreut werden. Sie mussten ab März letzten Jahres nicht nur auf jegliche außerfamiliäre Kontakte verzichten, sondern auch noch mit der ungewohnten sozialen Distanz zurechtkommen. Diese Regeln sind zum einen für Demenzkranke schwer verständlich, zum anderen umso schwieriger, als ihr Kontakt zu Drittpersonen häufig taktil ist, der körperliche Kontakt die einzige Kommunikationsmöglichkeit bleibt. Spezialisten schätzen, dass die erkrankten Menschen im letzten Jahr bis zu einem Drittel ihrer Fähigkeiten verloren haben.
Tabuthema Sexualleben
Demente Menschen können auch ihre sexuellen Wünsche und Ansprüche häufig nicht mehr artikulieren und kanalisieren. Das stellt Angehörige und Pfleger vor große Herausforderungen, vor allem wenn der Kontakt hauptsächlich körperlich erfolgt, beziehungsweise wenn das Benehmen ändert. „Was sagen Sie einer alten Dame, die sich nicht mehr an ihren Mann und ihre Kinder erinnert und sich neu verliebt?“, veranschaulicht Christine Dahm Situationen, mit denen ihre Mitarbeiter umgehen müssen. „Es verlangt von Pflegern und Familien viel Geduld, Einfühlung und letztendlich Akzeptanz der Krankheit, selbst wenn es offiziell ein Tabuthema bleibt.“
Ein Tabuthema sind auch die sexuellen Bedürfnisse und Wünsche der Menschen, die auf der Straße leben. „Sie sind bei der Pandemie und dem stark reduzierten Sozialleben sichtbarer und dadurch anfälliger geworden“, weiß Raoul Schaaf aus seiner Erfahrung. Von Liebe ist selten die Rede, die Frauen schließen sich den Männern eher aus Schutzbedürfnis an. Aus diesem Schutz wird jedoch Zuhälterei, die Frau prostituiert sich, um die Drogensucht zu finanzieren. Die Sozialdienste versuchen hier, den Frauen mit geschützten Räumen und ausgebildetem Personal Hilfestellung zu geben.
Gute Erfahrungen brachte die Initiative „Entr’elles“, wo Betroffene einmal pro Woche drei Stunden lang unter Frauen sind, wo sie plaudern oder sich schminken. „Sehen Sie das nicht gleich abwertend. Die Beschäftigung mit dem eigenen Aussehen gibt ihnen Selbstbewusstsein. Außerdem ist das Make-up häufig eine Maske, hinter der sie sich verstecken, wenn sie sich prostituieren“, sagt Schaaf.
Sexualität ist auch in den Flüchtlingsheimen eine Herausforderung. Die Sozialarbeiter werden mit fremden Zivilisationen konfrontiert, in denen Männer und Frauen häufig getrennt leben. Die engen Räumlichkeiten in den Foyers und die bedingte Isolation haben die Gewaltbereitschaft erhöht. Vergewaltigung innerhalb der Ehe ist ein Thema geworden, die Zahl der Neugeborenen erheblich gestiegen.
Dazu kommt, dass diese Menschen es nicht gewohnt sind, über ihre sexuellen Schwierigkeiten zu sprechen, was durch den notwendigen Rückgriff auf einen Dolmetscher erschwert wird, weiß Océane Sansalone. Auch bei „Médecins du Monde“ sind Sexualität und ungewollte Schwangerschaften ein Thema. Hier wird ebenfalls versucht, den Frauen mit Gesprächstherapien, mit einem Verweis ins Krankenhaus bzw. mit einem Schwangerschaftsabbruch zu helfen.
Auf ihre Erfahrungen aus der Pandemie und ihre Wünsche für die Zukunft angesprochen sind sich alle Gesprächsteilnehmer einig: „Wir müssen das Tabu brechen und von den Menschen am Rande der Gesellschaft sprechen. Wir müssen sie aus ihrer Isolierung herausholen und ihnen auch unter veränderten Bedingungen Gesprächs- und Therapiemöglichkeiten bieten“, heißt es einhellig, begleitet von dem Wunsch, diese Hilfe so einfach und unbürokratisch wie möglich zu gestalten.
- Den Neuanfang wagen: „déi gréng Stad“ stellen ihr Programm vor - 19. Mai 2023.
- Chardonnay – der Weltstar unter den Weinen - 26. März 2023.
- Das Gold der Erde - 12. März 2023.
Ja, das Leben ist halt kein Wunschkonzert!