Festival de Cannes / Gegen den Holocaust-Tourismus: „Where Is Anne Frank“ von Ari Folman
In seinem von Samsa koproduzierten Animationsfilm „Where is Anne Frank“ transposiert der israelische Regisseur Ari Folman nicht nur das weltbekannte Tagebuch der Anne Frank in eine liebevoll gezeichnete Fiktionswelt – indem er Gegenwart und Vergangenheit fantasievoll verzahnt, kritisiert er den Holocaust-Tourismus, die Ikonisierung der Anne Frank und die wirtschaftliche Ausbeutung der Erinnerungskultur. Auf Gemeinplätze und die aufgesetzte Pädagogik hätte man nichtsdestotrotz verzichten können. Das Tageblatt hat den Film rezensiert und sich mit dem Regisseur unterhalten.
Über Anne Frank und ihr Tagebuch wurde eigentlich bereits alles gesagt, geschrieben und verfilmt – weswegen Regisseur Ari Folman den Vorschlag des Anne-Frank-Fonds, einen weiteren Film über die Person zu drehen, erst mal dankend ablehnte. „Anne Frank ist eine Ikone. Ich hatte nichts hinzuzufügen, was nicht schon tausendmal gesagt oder gemacht worden wäre. Man schlug mir vor, das Tagebuch nochmal zu lesen. Die Menschen vom Anne-Frank-Fonds wussten, dass ich der Sohn Holocaust-Überlebender bin. Als ich meiner Mutter von meiner Skepsis gegenüber des Projekts erzählte, meinte sie: ‚Mach, was du willst, mein Sohn. Aber wenn du das Projekt nicht annimmst, werde ich morgen sterben. Wenn du es durchziehst, werde ich weiterleben.‘ Sie war damals 90, heute ist sie 98. Manchmal denke ich, sie hat so lange weitergelebt, weil ich so lange gebraucht habe, um den Film zu machen.“
Ari Folmans „Where Is Anne Frank“ beginnt im Amsterdamer Anne-Frank-Haus. Eine Menschenmenge steht Schlange, tritt sich draußen die Füße platt. Doch irgendwas stimmt nicht. Anne Franks Tagebuch scheint verschwunden zu sein, der Leiter des Hauses ist außer sich vor Wut. Jede Minute zählt, jede Minute kostet Einnahmen. Laut Regisseur Ari Folman stellt das Anne-Frank-Haus nicht nur eine etwas heuchlerische Art dar, eine Ikone wirtschaftlich auszuschlachten, die man in der ganzen Stadt wiederfindet – im Laufe des Films wird die Hauptfigur die verschiedenen Anne-Frank-Locations (die Bibliothek, das Museum, die Brücke) wie Stationen eines Kreuzweges aufsuchen) –, er sieht es als zynische Manifestation von Holocaust-Tourismus. „Im Haus wurden die Möbel entfernt, damit man dreimal mehr Menschen reinlassen kann. Man muss sich dann mithilfe einer Art Miniaturmodell vorstellen, wie es einmal drinnen ausgesehen hat.“
Weil der thematische Pfad des Films so eingetreten war, hat Folman seine Handlung in die Gegenwart verlegt und einen surrealen Twist hinzugedichtet: Um, wie er es ausdrückt, mit der „Ikonisierung zu brechen“ und eine weitere Hagiografie zu vermeiden, hat Folman Anne Frank auf eine originelle Art Leben eingehaucht: Kitty, eine der imaginären Freundinnen, der Anne Frank ihre Begierden, Leiden und Wünsche im Tagebuch anvertraute, erweckt im zeitgenössischen Amsterdam. Kitty ist ein Wesen, das ganz aus Farbe und Tinte besteht. Bleibt sie im Museum, ist sie unsichtbar, verlässt sie es, wird sie für jedermann sichtbar. Entfernt sie sich jedoch zu sehr vom Tagebuch, löst sie sich wieder in Text, in Buchstaben auf.
Weil das Tagebuch entwendet wurde, wird Kitty von der Polizei gesucht und lernt eine Bande von Obdachlosen, Tagedieben und Geflüchteten kennen, mit denen sie sympathisiert und die ihr auf ihrer Flucht vor der Polizei helfen. Zeitgleich taucht sie immer wieder ins Tagebuch ihrer Schöpferin ein und erlebt die Tagebuch-Einträge nach – die Erinnerungen an die unbeschwerten Schultage, der Judenhass im Nazi-Regime, der sich langsam, aber erst in Verboten, die nach und nach jeden Bereich des Alltagslebens betreffen, dann in den Deportationen manifestiert, die Niederlassung im Hinterhaus der Firma Opekta, für die Vater Otto arbeitete, das Leben auf engstem Raum, die Klaustrophobie, die Konflikte mit den Mitbewohnern, ihre Ängste, Hoffnungen, Zukunftswünsche.
„Mir ging es darum, zu zeigen, dass Anne Frank keine Ikone ist, sondern eine brillante Teenagerin, die es vermochte, ihre Ängste und Wünschen literarisch zu transzendieren. Anne Frank war lustig, klug, sie war unbequem, stritt sich mit ihrer Mutter. Der Gemeinplatz würde verlangen, dass man die Sequenzen aus der Vergangenheit schwarz-weiß inszeniert, während die Gegenwart bunt ausgemalt ist. Unsere erste Entscheidung war, auch damit zu brechen“, erklärt Folman. So kommt das gegenwärtige Amsterdam in monochromen Tönen daher, während die Welt der Anne Frank meist bunt und fantasievoll ist.
Als imaginäre Freundin und Verkörperung des Tagebuches ist sich Kitty nicht bewusst, wieso Anne irgendwann aufgehört hat, Einträge niederzuschreiben – und erfährt mit Schrecken, dass die Familie deportiert wurde, Anne und ihre Schwester Margot in Bergen-Belsen umgekommen sind und Vater Otto der einzige Überlebende der Familie ist. Diese Naivität tut dem Film gut, weil so der Kontrast zwischen der jugendlichen Lebensfreude und den Gräueln des Nationalsozialismus durch die Identifikationsfigur Kitty empathisch miterlebt wird, ohne dass der Film ins Pathos abdriftet. „Where Is Anne Frank“ lebt von der Kluft zwischen der Schönheit der Vorstellungskraft von Anne Frank, die sich in liebevoll gezeichneten Bildern manifestiert, und des Wissens um ihr Schicksal. Folman vermeidet es gekonnt, zu suggerieren, dass die Vorstellungskraft die Schrecken der NS-Verbrechen auszuklammern vermag, manchmal ist der Tonfall jedoch etwas zu pädagogisch. Zudem ist die Figurenzeichnung auf der Ebene der zeitgenössischen Erzählung etwas platt, die Nebenhandlung mit den afrikanischen Geflüchteten wirkt außerdem etwas aufgesetzt und stellt etwas zu unnuanciert und pauschal dar, dass auch heute noch Menschen auf der Flucht sind – dass diese Geflüchteten nicht systematisch deportiert und vergast werden, geht in dem etwas pauschalen Vergleich unter.
Where Is Anne Frank, von Ari Folman, Sélection officielle hors compétition, 2,5/5
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