Christopher Clark / Gegenwart in der Vergangenheit: Die Folgen der 1848er Revolution
Der Historiker Christopher Clark bringt uns in seinem neuen, meisterhaften Buch „Frühling der Revolution – Europa 1848/49 und der Kampf für eine neue Welt“ eine Zeit des Umbruchs näher und vergleicht sie mit heute. In der Abtei Neumünster gab er in einem Vortrag eine Kostprobe daraus.
„Die Gegenwart spielt immer eine Rolle.“ Das sagte Christopher Clark zu Beginn des Gesprächs mit Samuel Hamen in der Abtei Neumünster, wo er zuvor sein neues Buch „Frühling der Revolution“ vorgestellt und einen Vortrag zu dessen Thema gehalten hatte. Am selben Tag hatte er die Ausstellung über die 1848er Revolution in Luxemburg besucht. Dabei gehörte der Vergleich mit der Gegenwart nicht einmal zu seiner Motivation, gestand Christopher Clark. Er zeigt ein Foto von der Erstürmung des Washingtoner Kapitols am 6. Januar 2021. „Als ich das Foto des QAnon-Schamanen im Washingtoner Kapitol sah, dachte ich: Das ist 1848. Auch die Diskussion, ob es ein Staatsstreich war, eine Revolution, war gleichfalls neu und alt.“ Das eigentliche Anliegen des gebürtigen Australiers und im britischen Cambridge lehrenden Historikers war es, die Zeit nach 1848 zu erforschen, vor allem die 1850er Jahre, die als Zeit der Reaktion in die Geschichte eingingen.
1848 brachen überall auf dem europäischen Kontinent parallele Tumulte aus – von der Schweiz bis nach Portugal, von Dänemark und der Walachei bis auf die Ionischen Inseln. Es war die einzige gesamteuropäische Revolution, die es jemals gegeben hat. Die Nachwirkungen waren auch außerhalb Europas zu spüren. Während seines Vortrags zeigt Clark Bilder aus jener Zeit. Er sagt, er möchte „über diesen Sturm in der Mitte des 19. Jahrhunderts nachdenken“, der über Europa ausgebrochen war, „um festzustellen, ob der Blick auf 1848 ein Licht irgendwelcher Art auf die Krisen unserer Art werfen kann“. Daher der Titel des Vortrages: „1848 im Rückspiegel“ erlaubt uns, das Vergangene mit der Gegenwart in Verbindung zu bringen. Dies möge abwegig zu sein. Denn das Thema sterbe in den historischen Fakultäten aus. „Doch das 19. Jahrhundert ist uns allem Anschein zum Trotz heute näher als vor 30, 40 oder 50 Jahren.“ Im Verlauf des 20. Jahrhunderts wurde die osmanische Frage aus dem Blickfeld gedrängt. Er nennt als Beispiele die orientalische Frage und das Gleichgewicht der Mächte im östlichen Mittelmeer. In den letzten Jahren sei die totgeglaubte orientalische Frage jedoch wieder aufgetaucht. Nicht zuletzt erkenne man dies an den geopolitischen Spannungen im östlichen Mittelmeer, an der neo-osmanischen Frage und Gestik des türkischen Präsidenten Erdogan und an der Multipolarität, wie wir sie lange Zeit nach 1945 nicht mehr kannten.
Greta Thunberg des 19. Jahrhunderts
Clark stellte zum Spaß, wie er sagt, eine Liste von Phänomenen aus dem 19. Jahrhundert auf, die heute wieder relevant sind. Dazu gehört die soziale Frage zu den drängendsten. Der Historiker zeigt ein Foto des französischen Wirtschaftswissenschaftlers Thomas Piketty, der die Frage stellte, ob der Kapitalismus Ungleichheit erzeuge und nicht mildere. Es ginge ihm dabei vor allem um die große Resonanz. Er nennt aber auch Fragen um das Recht auf Arbeit, das Wiedererwachen des klassischen Nationalismus, Russland als gesellschaftspolitisch reaktionärer Gegenpol des Westens. Clark nennt Greta Thunberg und vergleicht sie mit Bernadette Soubirous. „Es fallen einige Gemeinsamkeiten auf“, so der Historiker. Die Aufstände von 1848 seien nicht auf Verschwörungen zurückzuführen, sondern waren „gesamtgesellschaftliche Enthemmungen“.
Vor zehn Jahren hat Clark bereits in seinem Bestseller „Die Schlafwandler“ die Mechanismen erklärt, die die europäischen Nationen damals in den Ersten Weltkrieg tappen ließen. Auch diesmal erzeugt sein Erzählstil, der keineswegs seine Detailkenntnisse und die Vielzahl seiner Argumente auf mehr als elfhundert Seiten mit über zweitausend Anmerkungen unterschlägt, einen Sog, mit dem er den Lesern eine Epoche veranschaulicht, indem er die Komplexität der Sichtweisen von den politischen Protagonisten bis zu den einfachen Bürgern, Bauern, Frauen und Sklaven aufzeigt. Sowohl im Buch als auch im Vortrag besticht er durch seine stilistische Brillanz beziehungsweise glänzende Rhetorik, übrigens vorgetragen in fast akzentfreiem Deutsch.
Im Rückblick wird die 1848er Revolution fast immer als gescheitert betrachtet, doch im Rückspiegel wird sie nicht von ihrem Ausgang her, sondern aus den Motiven ihres Handelns heraus untersucht. Clark hat bisher wenig beachtete Quellen verwendet. Sowieso wird man mit der einfachen Schablone von Erfolg oder Scheitern der Materie nicht gerecht. Schließlich gab es in den meisten Fällen kaum einen Plan. Vielmehr bedienten sich die Akteure jener Zeit selektiv der zur Verfügung stehenden Ideologien. Es war nicht ein einziges Thema, das die Revolutionen beherrschte, auch wenn es nach einer Dichotomie von Gut und Böse sowie von Fortschritt und Reaktion aussieht, sondern „eine Vielzahl von Fragen – in Bezug auf Demokratie, Repräsentation, soziale Gleichheit, Arbeitsorganisation, die Beziehung zwischen den Geschlechtern, die Religion, Formen der Staatsmacht – und eine noch größere Vielzahl von konkurrierenden Antworten.“
Panorama und Analyse
Clark macht Interdependenzen sichtbar und entwirft ein faszinierendes Panorama – und lässt dabei genug Raum für die Analyse. Unterschieden wird zwischen drei Bewegungen: Die Liberalen wollten Verfassungen und Eigentumsschutz, sie hätten sich mit einer konstitutionellen Monarchie zufriedengegeben; die Radikalen wollten den König stürzen und die Monarchie abschaffen; und die Konservativen wollten den Status quo beibehalten. Fatal war, dass sich die beiden erstgenannten Gruppen misstrauten: Die Liberalen beschimpften die radikalen Demokraten als Kommunisten, und diese machten sich über die Parlamente lustig.
Die List der Vernunft
Die damals herrschende Vielfalt und Unübersichtlichkeit ist mit der heutigen zu vergleichen. Um die zentrale soziale Frage wurde 1848/49 auf den Straßen gekämpft. Später verlagerte sie sich in die staatlichen Bürokratien. Die Kämpfer zogen mit Waffen los, die Beamten mit Statistiken, Gesetzen und Verordnungen – als „Agenten der postrevolutionären Stabilisierung“, wie Clark schreibt. Der moderne Verwaltungsstaat wurde zum Ordnungshüter. Wie der Autor schreibt, waren die großen strukturierenden Identitäten der damaligen Welt noch fremd, und „sind wir Teil einer Welt, in der sich diese in rasanter Auflösung befinden“.
Die einzelnen Revolutionen mochten keinen schnellen Erfolg gehabt haben, langfristig aber sind sie auch nicht gescheitert. Und manche wiederholen sich noch heute, von den 1848ern bis zu den 1968ern war es noch ein weiter Weg. Und selbst über die Zeit der „Gilets jaunes“ werden die Fragen lange Zeit nicht gelöst sein. Ganz konkret wurden einige der badischen Revolutionäre um den charismatischen Friedrich Hecker zwar besiegt, doch konnten sie sich nach Amerika retten, wo sie für die Nordstaaten im Bürgerkrieg gegen die Sklaverei kämpften. Allgemein hat in mehrfacher Hinsicht, wie ein Rezensent im Rückgriff auf Georg Wilhelm Friedrich Hegel meinte, die List der Vernunft doch gesiegt und haben sich die Ideen von 1848 durchgesetzt.
Christopher Clark: Frühling der Revolution. Europa 1848/49. DVA 2023. 1.168 Seiten.
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Aussagen des Aufklärer- und Vernunftpapstes Immanuel KANT, 1724-1804, bezüglich der List der Vernunft: „Die Juden sind eine Nation von Betrügern. Sie haben eine Gemüthsschwäche im Erkenntnisvermögen. Solange die Juden Juden bleiben, solange können sie der bürgerlichen Gesellschaft nicht nützlich werden. Jetzo sind sie die Vampyre der Gesellschaft.“ In der „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“ ist von den „unter uns lebenden Palästinensern“ die Rede, einer „Nation von Betrügern“. (In: Dokumente der Niedertracht; antisemitismus-grosser-philosophen, infosperber.ch) In seinen „Reflexionen zur Moralphilosophie“ steht: „Die Euthanasie des Judentums ist die reine moralische Religion mit Verlassung aller Satzungslehren, deren einige im Christentum noch zurück behalten bleiben müssen.“ Anders als Kritiker wie André GLUCKSMANN, Leon POLIAKOV und Lawrence Paul ROSE meinten, schlägt sich jedoch ausgerechnet in dieser makaber anmutenden Passage keine mörderische Intention nieder. (…)
(In: Das Gesetz ist erhaben, Micha BRUMLIK, 07.02.2004, welt.de)
MfG
Robert Hottua
Gerade in der heutigen Zeit sollte man `Clark’s Buch -Die Schlafwandler lesen oder wiederlesen . Es ist von einer erschreckenden Aktualitaet .