Mertzig / Gemeinde investiert knapp 30 Millionen Euro – im Sinne der Gemeinwohlökonomie
Die Grenze zwischen Gutland und Ösling ist grün, unberührt und bergig. Landwirtschaft und kleinere Ortschaften prägen das Bild. Nach Mertzig mit seinen 2.300 Einwohnern führen Serpentinen. Seit den Kommunalwahlen von 2017 bahnen sich enorme Veränderungen an, wie ein Spaziergang durch das Dorf mit Bürgermeister Mike Poiré (42) zeigt.
Der Bürgermeister kommt auf dem Fahrrad zum verabredeten Treff. Bewegung an der frischen Luft gehört zu seinem Ausgleich. Die 13 Stunden „Congé politique“ haben Bürgermeister Mike Poiré für seine Arbeit im Rathaus noch nie gereicht. Als der DP-Politiker mit seinem „M-Team“ 2017 bei den Wahlen antritt, verspricht er einen Neuanfang für Mertzig und nimmt sich viel vor.
In den meisten Statements der neun Kandidaten ist auf die ein oder andere Art von Umweltschutz, modernen Infrastrukturen, Kommunikation mit den Einwohnern und sozialem Zusammenhalt die Rede. Sieben von ihnen schaffen den Sprung in den Gemeinderat und verjüngen ihn. Jurist Poiré ist der Meistgewählte, er wird Chef im Rathaus.
Seitdem gehen die meisten Wochenenden und freien Tage für die Gemeindearbeit drauf. Der Neuanfang ist auf Schritt und Tritt sichtbar so wie beim mit Bauplanen größtenteils verhüllten Rathaus. Sosthène Weis (1872-1941) hätte sich wahrscheinlich sehr darüber gefreut, dass sein Geburtshaus endlich „barrierefrei“ wird, obwohl er das Wort wahrscheinlich gar nicht verstehen würde.
Ein Rathaus für alle Bürger – egal wie gut zu Fuß sie sind
Der Maler, dessen Werk in der hauptstädtischen Villa Vauban in einer permanenten Ausstellung gezeigt wird, war nicht nur Künstler, sondern auch Architekt. „Wenn Hochzeiten waren, mussten Familienangehörige, die schlecht zu Fuß waren, draußen warten“, sagt der neue Bürgermeister. „Sie kamen die engen Treppen bis zum Hochzeitsraum nicht hoch.“
Der winkelige und verschachtelte Zugang zu den historischen Räumen des Gebäudes verlangt sportliche Qualitäten. „Wichtige Unterlagen wurden oft hier draußen auf der Mauer unterzeichnet“, sagt Poiré und hält an der Vorderseite des Rathauses an. 5,3 Millionen Euro investiert die neue Truppe im Rathaus in die Barrierefreiheit.
Für den dahinter liegenden Parkplatz gibt es ebenfalls neue Pläne. So wie er angelegt ist, ist er seit Jahren eine Gefahrenquelle für die Schulkinder, die hier von ihren Eltern abgesetzt werden. Wegen des Wohnhauses mitten auf dem Gelände passiert lange nichts. Ein weiteres Urgestein der Gemeinde wohnt darin. „Nicky“ Besch ist 84 Jahre lang Mitglied des Mertziger Kirchenchores, als er am 30. März 2020 mit 92 Jahren stirbt.
Bis dahin singt er bei jeder Hochzeit, Beerdigung oder Taufe, kennt jeden und alle. Erben und Gemeinde einigen sich schnell. Die Gemeinde erwirbt das Haus und ebnet den Weg für eine Neugestaltung des Parkplatzes. Er bekommt eine „Kiss and Go“-Kurzparkzone für die Eltern der Grundschüler, wird neu angelegt und erhält rund 20 zusätzliche Parkplätze. Einmal fertig soll er place Nicky Besch heißen – als Hommage an die bekannte Persönlichkeit der Gemeinde.
Place Nicky Besch mit „Kiss and Go“-Zone
Kaum eine größere Entfernung zu Fuß, Poiré schiebt sein Rad, wo der Bürgermeister nicht auf etwas aufmerksam macht, das neu ist oder in Planung. Die „Bicher-Box“ gegenüber der Kirche hat ein Mitarbeiter der Gemeinde entworfen und schließlich gebaut. Genauso wie die „Give Box“ im Hinterhof des provisorischen Container-Rathauses, wo Einwohner Sachen abgeben können, die sie nicht mehr brauchen.
Der Fußballplatz hat für 1,2 Millionen Euro unter dem Kunstrasen einen neuen Belag bekommen. Der alte, gesundheitsschädliche ist weg und ersetzt. Um den Kunstrasen kommt die Gemeinde allerdings nicht herum. „Spielen ist sonst eine Schlammschlacht“, sagt Poiré, der selbst lange aktiv in seinem Heimatverein FC Sporting Mertzig gespielt hat. Von den „Poussins“ des Vereins bis zu den Junioren trägt Poiré die Nummer 10 zehn. Er ist der Spielmacher.
Als „Zehner“ will er bewegen – nicht nur auf dem Platz. Nach einer Periode als Schöffe zwischen 2005 und 2011 tritt er bei den letzten Wahlen wieder an. „Ich war ein unzufriedener Bürger“, sagt er zu seiner Motivation. Als er 2015 dann noch explizit gefragt wird, ob er sich nicht zur Wahl stellen will, ist die Sache klar. Zwei Jahre arbeiten er und seine Mitstreiter an einem Programm.
Sie wollen den Stillstand in der Gemeinde beenden. Das größte Projekt ist die neue Grundschule und Erweiterung der „Maison relais“, die rund 20 Millionen Euro kosten wird. Die Gemeinde wächst im letzten Jahrzehnt enorm. Als das Rathaus 2018 einen „Willkommenstag“ für Neubürger veranstaltet, gehen 320 Einladungen raus. Bei 2.300 Einwohnern insgesamt ist das viel.
Selbstkritik und Bilanz mitten in der Mandatsperiode
Deren Kinder brauchen Schul- und „Maison relais“-Plätze. Die Investitionen sind groß. „Das wissen wir“, sagt Poiré vor dem Hintergrund, dass der Schöffenrat den Rat von drei unabhängigen Experten eingeholt hat. Und sich freiwillig immer wieder infrage stellt. Andere ziehen kurz vor den nächsten Wahlen erst eine Bilanz ihrer Arbeit. Die Mertziger Verantwortlichen tun dies mitten in der Mandatsperiode.
Die Bilanz für das Gemeinwohlökonomie-Zertifikat umfasst 73 Seiten und wird in Kürze veröffentlicht. Eigentlich reichen die laufenden Projekte und ihre Umsetzung, warum das jetzt auch noch? „Die darin verankerten Werte passen gut zu unserem Programm, mit dem mein Team und ich 2017 angetreten sind“, sagt der Rathauschef. „80 Prozent davon haben wir schon umgesetzt.“
Das Ergebnis weist Mertzig mit Punktzahlen zwischen zwei und drei als Gemeinde aus, die im Sinne der Gemeinwohlökonomie erste Maßnahmen getroffen hat. Gemeinnutzen im Finanzgebaren, Gesamtwohl in der Gemeinde, transparente Kommunikation oder demokratische Einbindung und demokratische Mitbestimmung erreichen die besten Noten.
Bis zu den höchsten Werten zwischen fünf und sechs liegt noch viel Arbeit vor den Politikern im Rathaus. Immerhin, der Wille ist da und Mertzig ist bislang die einzige Gemeinde im Land, die das macht. Liegt es an der Mentalität? Wenn der Bürgermeister seine Mitbürger beschreiben muss, dann macht er das so: „Sie sind bescheiden und eher reserviert. Wenn sie aber etwas zu sagen haben, dann sagen die Mertziger es.“ Das ist ganz nebenbei eine Beschreibung, die ihn selbst sehr gut trifft.
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