/ „Gemeinde und Kirche bleiben im Dorf“: Reckingen/Mess zwischen ländlichem Charme und Wachstum
Bürgermeister Carlo Müller (65) steht seit nunmehr acht Jahren für vieles, was in der Gemeinde Reckingen/Mess geschieht. Die Kommune wächst und es wird viel gebaut. Eines aber liegt Müller besonders am Herzen: die gute Stimmung im Rathaus.
Insgesamt 12 Mitarbeiter zählt die ehemalige Dorfschule, die 2017/2018 für 1,5 Millionen Euro restauriert wurde. Bis zur Fertigstellung saßen die Mitarbeiter ein Jahr lang in Containern auf engstem Raum in einem Provisorium. Das schweißt zusammen. Nach wie vor legt Bürgermeister Carlo Müller Wert auf Gelegenheiten für den Austausch. „Hier weiß jeder, was der andere macht“, sagt er. „Die Stimmung ist gut und wahrscheinlich bin ich selbst deswegen so gerne hier.“
Majorzgemeinde auf dem Weg zur Proporzgemeinde
Für den Standort des Gemeindegebäudes hätte es auch andere Optionen gegeben. Einen praktischen, quadratischen „Ritter Sport“-Container auf der grünen Wiese zum Beispiel. Wären da nicht klare Prinzipien. „Rathaus und Kirche bleiben im Dorf“, sagt Müller. Das ist ungewohnt klare Kante und es würde nicht wundern, wenn getroffene Entscheidungen noch per Handschlag besiegelt würden. Müller ist LSAP-Mitglied, betont aber gleich nach dem Bekenntnis, dass Parteizugehörigkeit in Reckingen keine Rolle spielt.
Reckingens Bürgermeister Carlo Müller
Das wird sich bald ändern. Die Gemeinde mit derzeit rund 2.500 Einwohnern wächst. Wenn die 13 angehenden und laufenden Bauprojekte fertiggestellt sind, dürfte die Schallmauer von 3.000 Einwohnern mittelfristig zum Greifen nah sein.
Die größte Herausforderung ist im Moment, die Rolle Reckingens mit dem Wachstum unter einen Hut zu bringen. Ländlich und trotzdem stadtnah zu wohnen, ist ziemlich „trendy“. Die Gemeinde bietet das. Das erklärt die zahlreichen Baukräne und -zäune in den sechs Dörfern, die zur Gemeinde gehören, und offenbart ein Problem. Was und wie gebaut wird, kann die Gemeinde beeinflussen. Eines aber hat sie nicht in der Hand: “Die Preise für Bauland laufen uns weg“, sagt der Bürgermeister.
Baupreise steigen unaufhörlich
Damit steht Reckingen/Mess nicht alleine da und Aussichten auf Änderung sind in weiter Ferne. Zu groß ist die Nachfrage. Baugelände ist ohne große Werbung innerhalb von zwei Monaten verkauft. 100.000 Euro kostet das Ar Land mindestens. Da ist es schwer, den „sympathischen Mix“, den der Rathauschef idealerweise für die Bevölkerung anstrebt, zu halten. „Das ist auch eine soziale Frage“, sagt Müller. „Irgendwann haben wir nur noch Anwälte, Ärzte oder Wirtschaftsprüfer, die sich diese Preise leisten können“. Da ist sie wieder – die klare Kante.
Die Kühe und das viele Grün rundherum zeigen sich unbeeindruckt. Ländlicher Charme und einladende Natur sind ein wichtiges Puzzlestück beim großen Ganzen. Reckingen soll wie Dippach Teil der „grünen Lunge“ zwischen der „Stad“ und dem dicht besiedelten Süden bleiben. Das ist im sektoriellen Leitplan für das Land festgeschrieben. Deswegen hat sich die Gemeinde Regeln für Neubauten gegeben. Residenzen dürfen maximal sechs bis acht Apartments und maximal 3 bis 4 Stockwerke haben und pro gebaute Residenz muss an anderer Stelle ein neues Einfamilienhaus entstehen. Neue, hohe Gebäude, wie sie anderswo das Dorfbild beeinträchtigen, sind in Reckingen ein „No-go“. Der ungehemmte Abriss alter Bauernhäuser kommt genauso wenig in Frage. Wo immer es geht, stellt die Gemeinde sie unter Schutz. Klare Kante.
Baupolitik der Kommune legt einiges fest
Das letzte Beispiel dafür ist Ehlingen, wo die Gemeinde ein leerstehendes Bauernhaus gekauft hat. Das „Hengeschhaus“ wird zu einem Apartmenthaus umgebaut. Die Fassade bleibt erhalten. Unweit davon entsteht mit zwei Residenzen, 70 Einfamilienhäusern und fünf Bauplätzen ein völlig neues Quartier auf der grünen Wiese. In Pissingen, schräg gegenüber der „Piissenger Hütt“, hat die Gemeinde ebenfalls ein Bauernhaus geschützt, um Apartments darin einzurichten. Auf der daneben liegenden Wiese entsteht eine neue Wohnsiedlung. Am Ortsrand von Reckingen laufen die Vorbereitungen für den Bau von 30 Einfamilienhäusern in der „Al Schéiferei“. Im Ortskern sind noch einmal sieben Reihenhäuser „an der Reispelt“ im Bau. Und dann ist da noch Wickringen: 120 Wohneinheiten sind auf einem Gelände neben der Autobahn geplant.
Ohne die klare Kante des Bürgermeisters wäre vieles wahrscheinlich anders gelaufen. „Es kann ja nicht sein, dass jemand über Nacht aus einem Kartoffelfeld wertvolles Bauland macht, mit dem Bauen aber abwartet, weil die Preise dauernd steigen“, sagt Müller. „So wollen wir nicht funktionieren.“ Gegenüber der Allgemeinheit seien doch alle verpflichtet, die Balance zu halten, findet er. Er hat deshalb überhaupt keine Bedenken, wenn der Staat dazu übergehen sollte, die Frist, innerhalb derer auf ausgewiesenem Bauland gebaut werden muss, zu „deckeln“. Im Gegenteil.
Das Dorfleben ist lebendig und kommt ohne große Prestigeprojekte aus. Wenn Müller Reckingen als Wohnziel anbieten müsste, würde er sagen: „Reckingen ist eine wunderbare Gemeinde mit herrlichen Menschen, wo man nicht das große tolle Schwimmbad findet und daneben noch Tennisplätze, aber das, was wir haben, ist gehegt und gepflegt.“ Dieses Mal ist die klare Kante gemildert durch eine Liebeserklärung. Es sei ihm gegönnt. Reckingen ist ein schönes Plätzchen. Und begehrt.
Die Gemeinde kurz und bündig
Die Gemeinde Reckingen besteht aus insgesamt sechs Dörfern. Das sind Ehlingen, Limpach, Pissingen, Reckingen/Mess, Roedgen und Wickringen. Seit 2011 ist Carlo Müller (LSAP) Bürgermeister der ländlichen Gemeinde. 2011 und 2017 wurde bei den Gemeindewahlen noch im Majorz-System gewählt. Bei den nächsten Wahlen ist zu erwarten, dass sich das ändert. Fusionsgedanken scheiden aufgrund der geografischen Lage der Gemeinde aus. Die Einwohner von Roedgen fühlen sich eher zu Leudelingen hingezogen und umgekehrt. Die Ehlinger, Wickringer und Pissinger haben eher Kontakte zu den Einwohnern von Steinbrücken. Die Limpacher und Reckinger zieht es nach Dippach. Das heißt, es wären Monnerich, Dippach oder Leudelingen in Frage gekommen. „Undenkbar“, sagt Bürgermeister Carlo Müller. „Sowieso: Wenn die Einwohner das nicht wünschen, lässt man die Finger davon.“ Zusammenarbeit aber gibt es. Das geplante Pflegeheim in Wickringen ist ein Gemeinschaftsprojekt der Gemeinden Reckingen, Dippach und Monnerich. „Das ist aber alles noch im Anfangsstadium“, sagt Müller.
Reckingens Rathauschef Carlo Müller
Bürgermeister Carlo Müller ist ein „Bäigepeschten“, wie die Zuzügler genannt werden. Als der gebürtige Grevenmacher vor 30 Jahren ein Haus sucht, landet er in Reckingen und steigt ziemlich bald in die Politik ein. „Sechs Jahre Gemeinderat, sechs Jahre Schöffe, sechs Jahre Bürgermeister, und jetzt wiedergewählt“, reiht er die Stationen seiner kommunalen Laufbahn aneinander. Seinen Lebensunterhalt verdient der gelernte Schriftsetzer bei einer der EU-Institutionen in Luxemburg. Er arbeitet in der Abteilung, die die offiziellen Dokumente in alle EU-Sprachen übersetzt. Ein Jahr nach Beginn der ersten Mandatsperiode als Bürgermeister ist jedoch klar: Beruf und die Arbeit für die Gemeinde lassen sich nicht miteinander vereinbaren. Müller geht 2012 mit 58 Jahren in Pension. „Ich frage mich oft, wie meine Kollegen – vor allem die „Député-Maires“ – mit dem „congé politique“ auskommen“, kann er sich noch heute wundern.
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Weshalb beschwört der nette Herr die „gute“Atmosphäre so inständig??? Glaubt er selbst daran? Kenne seine Gurkentruppe!!!