Bettembourg / Gesprächsrunde beim LiteraTour-Festival: „Das Technozän ist brutal anthropozentrisch“
Am Dienstag waren Schriftsteller Dietmar Dath, Schriftstellerin Raphaela Edelbauer und Datenanalyst Maxime Allard zu Gast auf dem LiteraTour-Festival in Bettemburg, um Chancen und Gefahren des digitalen Zeitalters zu verhandeln.
Brian McHale schrieb es 1987 in „Postmodernist Fiction“: Da sie den Schwerpunkt auf ontologische Thematiken legt, ist die Science-Fiction die unumgängliche paragenerische Begleitung zur literarischen Postmoderne. Doch obschon die Literatur die avantgardistischen Experimente der letzteren mehr oder weniger aufgegeben hat, scheint das Interesse zeitgenössischer Autoren und Autorinnen an der Sci-Fi nicht zu versiegen – in den letzten Jahren gab es bspw. mit „Klara and the Sun“ von Kazuo Ishiguro, „Machines Like Me“ von Ian McEwan und „Dave“ von Raphaela Edelbauer so einige Romane über K.I.s.
Der Grund dafür? Der technologische Paradigmenwechsel schreit geradezu nach Romanen mit autonomen Autos, Sexrobotern oder posthumanen Figuren. Die Wirklichkeit ist zur Sci-Fi geworden, also nutzt selbst der literarische Neonaturalismus das sogenannte Technozän – also eine Ära, in der die Ausbreitung der Maschinen unumgänglich geworden ist – als Hintergrundkulisse.
„Sans conscience, ni à proprement parler d’intelligence, sans instinct, les machines ont (…) une tendance à s’étendre. Comme les biologistes raisonnent parfois sur les virus en se demandant quel est l’intérêt d’un virus sans pour autant croire que les virus réfléchissent à leurs intérêts, ni qu’ils les calculent ou les perçoivent, on pourrait dire que les machines ont intérêt à ce que les humains les utilisent“, schreibt Pierre Cassou-Noguès in seinem kürzlich erschienenen Essai „La bienveillance des machines“, dessen Inhalt sich stellenweise mit dem Fragenkatalog am Montagabend deckt: Kann man autonomen Autos trauen? Wie sehr bedienen die neuen Techno-Gurus eine Art Mystik des Digitalen? Können Maschinen denken? Und wenn ja, woran? Ist eine technologische Utopie noch möglich? Und was können Literatur und Philosophie zur wissenschaftlichen Debatte beitragen?
Die Gesprächsrunde, geschmückt mit kurzen Auszügen aus Dietmar Daths Roman „Venus siegt“ und längeren Passagen aus Edelbauers „Dave“, schnitt dabei etliche dieser Themen an, die uns in naher Zukunft, wenn nicht jetzt schon, beschäftigen dürften. Um die literarische Vorstellungskraft der beiden Schriftsteller*innen mit einem wissenschaftlichen Diskurs zu ergänzen, luden die beiden Moderatoren Bea Kneip und Jérôme Jaminet den Luxemburger Datenwissenschaftler Maxime Allard ein.
Dabei wendet Dath gleich zu Beginn des Gespräches ein, dass er den Titel der Diskussionsrunde etwas sabotieren (und eigentlich im Sinne von Marc Fishers kapitalistischem Realismus neu interpretieren) möchte: Zu Begriffen wie Spaßgesellschaft, Industrie- oder Produktionsgesellschaft habe sich nun der Neologismus Technozän gesellt. „Es ist der Kapitalismus und sonst gar nichts. Es geht ständig nur um Waren und um zahlungskräftige Menschen.“
Laut Raphaela Edelbauer, die live aus Wien dazugeschaltet war, leben wir in einem „gruseligen“ Zeitalter, da die frühe „Utopie des Miteinanders“ im Internet definitiv „zusammengestürzt“ sei. Besorgniserregend seien u.a., so Dath, „unfassbar mächtige Elfjährige wie Jeff Bezos oder Elon Musk“: „Die Kindheit ist das richtige Alter für Superhelden, für Allmachtsphantasien. Aber in der Pubertät entdecken die meisten, dass andere Menschen interessant sind.“ Dann sollten Allmachtsphantasien eigentlich der Empathie weichen – und einem die Ausbeutung anderer nicht gleichgültig sein.
Wenig später gibt Dath zu bedenken, dass technologische Innovation oftmals zu einer Umkehrung unserer Fragestellung führen kann: Anstatt uns zu fragen, ob wir Sexroboter wie Menschen behandeln dürfen, wäre es wesentlicher, einzusehen, dass wir aufhören müssen, Menschen wie Dinge zu behandeln. Oder, wie er es auch in „Gentzen“ schreibt: Heute zeigt uns der Turing-Test vor allem, dass es erschreckend viele Menschen gibt, die ihn nicht mehr bestehen würden. Wer schon mal beim Online-Dating kurz zweifelte, ob man es mit einem Bot oder einer besonders langweiligen Person zu tun hatte, versteht diesen Punkt besonders gut. Weiterhin setzt die Möglichkeit von Maschinendenken die Eckpfeiler menschlichen Denkens: So wie es Sachen gibt, die wir nicht hören und sehen können, ist es sehr wahrscheinlich, dass es Sachen gibt, die wir nicht denken können – oder die Maschinen schneller berechnen, weil sie falsche menschliche Intuitionen systematisch umschiffen.
Die technologische Umwälzung hinterfragt somit unsere gängigen Handlungsweisen und gesellschaftliche Praktiken – das, was Wittgenstein Lebensformen nannte. Und die Literatur kann hierfür wegweisend sein, weil ihre fiktionalen Welten mögliche Zukunftsentwürfe als Modell (oder Gegenmodell) anbieten – auch wenn, wie Maxime Allard meint, Edelbauers K.I. Dave in dieser Form heute (noch) nicht existieren könnte. Aber darum geht es im Endeffekt nicht: Die Literatur interessiert sich für die möglichen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen Auswirkungen der technologischen Revolution. Sie hinterfragt, wie es Edelbauer andeutet, geläufige Ontologien – und konstruiert Alternativen.
Auch wenn es der Gesprächsrunde etwas an Struktur fehlte, das Publikum aufgrund der Länge des Gesprächs nicht einbezogen wurde und streckenweise das Mansplaining überhandnahm (was teilweise, aber nicht ausschließlich, an der Internetverbindung lag): Innerhalb von zwei Stunden gab es ausreichend Denkanstöße, die einem Lust auf das Lesen von Edelbauers „Dave“, Daths „Venus siegt“ und sein „Gentzen“ gemacht haben.
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