Musik / Gipfel der Erkenntnis: „Gnosis“ von Russian Circles
Mit Russland hat das Trio aus Chicago nach wie vor nichts zu tun, im Gegensatz zu British Sea Power, die sich aus Scham vor ihrer Heimat umgetauft haben und jetzt nur noch Sea Power heißen, haben sich die legendären Stoiker trotz der beschämenden Aktualität nicht in Ukrainian Squares umbenannt. Stattdessen veröffentlicht die Band eine Platte, die zeitgleich brachialer und filigraner als ihre Vorwerke ist – und auf der sich einige ihrer besten Tracks tummeln.
Christopher Nolans Filme spielen allesamt mit der Subjektivität jeglichen Zeitempfindens. Wer die Verschiebungs- und Verdichtungsspielchen in „Tenet“, „Inception“, „Interstellar“ als nerdigen Science-Fiction-Zeitvertrieb abstempelt, dem dürfte mit den pandemiebedingten Rallentandi und Accelarandi der Veröffentlichungen von Platten im Musikbetrieb beziehungsweise der Kluft zwischen Plattenerscheinungen und Touren zumindest eine kleine Idee gegeben sein, wie es sich anfühlt, in einem Universum der zeitlichen Relativität zu leben.
So dürften viele, die Russian Circles vor ein paar Monaten in der Kulturfabrik für ihr letztes Album „Blood Year“ touren sahen, aufschreien: Schon wieder eine neue Platte der mythischen Post-Metal-Band? Tatsächlich aber erschien „Blood Year“ kurz vor der Pandemie, die Tour sollte bereits 2020 bestritten werden und hat damit hat das Album bereits fast drei Jahre auf dem Buckel.
Dass die Band mit „Gnosis“ ihr nunmehr achtes Album veröffentlicht, entspricht einerseits dem für das Trio aus Chicago mittlerweile gewöhnlichen Veröffentlichungsrhythmus, andererseits zeugt es aber auch von einem Schaffensprozess, der für sie eher ungewöhnlich war: Während sich das Trio sonst eher auf einen kollektiven kreativen Prozess verlässt, bei dem sich ausufernde Jams nach und nach zu kohärenten Tracks herauskristallisieren, hat für „Gnosis“ jeder in seiner pandemischen Ecke komponiert – mit dem Ergebnis, dass die Songs auf „Gnosis“ mehr als sonst wie aus einem Guss klingen, sich das Album als Ganzes aber definitiv als facetten- und abwechslungsreicher als sein Vorgänger entpuppt.
Denn war „Blood Year“ nach dem tollen „Guidance“ (2016) eine Platte mit einem herausragenden Opener – „Arluck“ bleibt einer der besten Songs, die das Trio je geschrieben hat –, war sie auf Dauer ein wenig arm an Melodie, Dramaturgie und memorablen Tracks: Zum ersten Mal schien es, als verließe sich die Band auf ihren Ruf und ihre technische Brillanz, um ihrer Zuhörerschaft zwar ausgezeichnete, jedoch etwas redundante Musik aufzutischen – zum ersten Mal drehten sich die Amerikaner im Kreise.
Dabei schien es erst mal so, als wolle das Post-Metal-Trio sowohl das Riff-Gewitter des dunklen „Blood Year“ noch mal verstärken als auch die ganze angestaute Wut über das Weltgeschehen in ihren Songs entladen: Die beiden vorab veröffentlichten „Conduit“ und „Betrayal“ klingen so, als hätte man vielerlei Zutaten von Thrash und Black Metal zu einer Klangmaterie geformt, die alles, was gerade schiefläuft, zu einem sehr abstrakten, sehr dunklen und sehr wütenden Ausdruck bringt. „Conduit“ ist wie für den Moshpit in irgendeinem Kreis von Dantes Hölle geschrieben, klingt, als hätte jemand ein sehr übles Gewitter vertont und ist zudem nicht nur tanzbar, sondern auch noch irgendwo und irgendwie melodisch und wahnsinnig vielschichtig. „Betrayal“ ist weniger subtil: Hier versinkt der Moshpit erst mal irgendwo in der Anarchie der Katharsis, bevor der Song dann doch noch Struktur findet – es wirkt so, als schäle die Band aus der Abstraktion puren Krachs ganz langsam Splitter von Melodie heraus.
Brachial und filigran
Dies war ausreichend, um viele Musikkritiker dazu zu verleiten, „Gnosis“ als die härteste aller Russian-Circles-Platten zu bezeichnen – was definitiv eine grobe Vereinfachung ist. Man siehe nur den Titeltrack, der gleichzeitig die dritte Singleauskopplung ist – und der erste Song überhaupt, für den die Band einen Videoclip gedreht hat. Der Song beginnt als Hommage an Tool und die progressiveren ersten Platten „Enter“ (2006) und „Station“ (2008), bevor, wie in den besten Momenten von „Geneva“ (2009), das Wechselspiel zwischen Brian Cooks knarzendem, sägendem, tiefem Bass, Mike Sullivans Gitarrenriffs und Dave Turncrantz’ wirbelnden, kraftvollen Drums eine Spannung erzeugt wird, die sich in einem kathartischen, hochmelodischen Gitarrengewitter entlädt, auf das ein paar kräftige Riffs folgen. Hier kommt alles zusammen, was diese Band ausmacht, ohne dass „Gnosis“ auch nur eine Sekunde so klingt, als wolle man hier Zweitverwertung betreiben oder alle Idiosynkrasien der Band bewusst in einem Song auf die Spitze treiben.
Dazwischen gibt es einen Moment absoluter Ruhe und Schönheit – auf dem Interlude „Ó Braonáin“ spielt Mike Sulllivan wundersame Melodien hinein in eine Einöde, wie man sie von Bands wie Low oder den längst vergessenen Schweden von Logh kennt – sowie zwei lange, epische Tracks, deren Riff-Fundament klar in allmöglichen Varianten des Metal verankert ist, die aber stets ein fast unerwartetes Gespür für Melodie aufzeigen. Es ist eben dieses Gespür, das auf „Blood Year“ oftmals fehlte und das die Kompositionen dieser Band so ungewöhnlich macht: Man denke an die jauchzenden Gitarren, die das Riff-Gewitter „Vlastimil“ plötzlich in melancholische Gefilde eintauchen lassen oder aber auch an die strukturelle Finesse des Openers „Tupilak“, das, ein bisschen wie das brutalere Pendant zu „Gnosis“, ein Feuerwerk an Riffs, Ideen und musikalischer Raffinesse zündet und bei aller Härte nie die Melodie aus den Augen verliert.
Auf dem abschließenden „Bloom“ entlässt uns die Band zum ersten Mal mit ihrer ganz eigenen – sprich etwas druckvolleren (was die Drums anbelangt) und ätherischeren (was die Gitarren betrifft) – Variante von klassischem Postrock, wie ihn Mogwai und Explosions In The Sky seit nunmehr drei Jahrzehnten praktizieren. Nach dem Hagelsturm von „Betrayal“ ist das der perfekte Ausgleich – und schlicht und einfach wunderschön.
Auf dem (erneut ästhetisch phänomenalen) Cover der Platte sieht man zwei Gestalten, die auf einer Art abstraktem Bauwerk stehen. Soll man darin die Band als Arbeiter, die an der stets abstrakten Skulptur ihres Klangwerks schuften, deuten? Sind es zwei Menschen, die den Gipfel der Erkenntnis („Gnosis“) besteigen? Oder sind sie doch nur, wie Camus’ Sisyphos, zwei verlorene Wesen, die in der digitalen Abstraktion nach Sinn und Gestaltung suchen – und nach Abklingen der Platte wieder ganz von vorne, ganz unten, anfangen? Ganz gleich, ob und welche Hypothese zutrifft: Mit „Gnosis“ hat Russian Circles ihre Diskografie um einen weiteren Meilenstein ergänzt.
Bewertung: 9/10
Anspieltipps: „Gnosis“, „Conduit“
Info
Entstanden ist „Gnosis“ wieder einmal in Zusammenarbeit mit Converge-Gitarrist Kurt Ballou, dessen Produktion dazu beiträgt, dass diese Platte klanglich eine Wucht ist. Viele Anlagen und Kopfhörer dieser Welt werden folglich überfordert sein – weswegen man „Gnosis“ nur in optimaler Soundqualität hören sollte.
Und wer fürchtet, dass es nach der erst vor kurzem abgeschlossen Blood-Year-Tournee eine Weile dauern wird, bis man das neue Meisterwerk in europäischen Konzerthallen erleben darf, dem sei jetzt schon ans Herz gelegt, sich das Programm der anstehenden Cult-of-Luna-Tour näher anzuschauen – touren diese im Herbst 2022 noch mit Caspian (die man auf keinen Fall verpassen sollte), findet man für 2023 Tourdaten (u.a. in Brüssel), bei denen Russian Circles die schwedischen Post-Metaller begleiten werden – die jetzt bereits eine Auszeichnung für die besten Support Acts verdient haben.
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