Unterwegs in Mons / Glockentürme, Wikipedia auf Papier und eine gigantische Werkschau über Rodins belgische Jahre
Die Schau „Rodin. Une Renaissance moderne“ lockt zurzeit in den frisch renovierten Museumskomplex CAP (Culture, Art et Patrimoine) nach Mons. Die Stadtgeschichte des wallonischen Städtchens kann man sich vom Glockenturm aus wie im Kellergewölbe des CAP erschließen. Mit dem Mundaneum entstand in Mons lange vor Wikipedia das erste weltweite Schlagwortarchiv.
Im August 1837 soll Victor Hugo das im Südwesten Belgiens liegende Mons besucht haben. Fasziniert von der Stadt, beschrieb er diese in warmen Worten und doch recht abgehoben. Sie sei kurios. In Mons gäbe es keinen gotischen Glockenturm, denn die Stiftskirche Sainte-Waudru habe nur ein kleines, unbedeutendes Glockentürmchen aus Schiefer, aber die Silhouette der Stadt sei mit drei Belfrieden beladen. Über den höchsten dieser drei Türme, der an der Stelle des alten Schlosses am Ende des 17. Jahrhunderts errichtet wurde, schrieb er an seine Frau: „Figure-toi une énorme cafetière flanquée au-dessous du ventre de quatre théières moins grosses. Ce serait laid si ce n’était grand. La grandeur sauve.“
Die aus Mons stammende Stadtführerin des Tourismusbüros „Visit Mons“ regt sich noch immer auf, wenn sie an die Worte des französischen Dichters denkt: „Teekannen!!“, schnaubt sie kopfschüttelnd: „Victor Hugo, go to Hell!“ entfährt es ihr, während sie die Besucher:innen mit resoluten Schritten durch die Kulturhauptstadt der Wallonie führt. Vorbei am Rathaus, an dessen Fassade man einen kleinen Glücksaffen aus Bronze, ein Wahrzeichen von Mons, streicheln kann, geht es weiter zur Maison Losseau, einem herrschaftlichen Jugendstilhaus.
Nur einen Steinwurf von der Grand-Place in Mons entfernt, wirken die weißen, neoklassizistischen Fassaden eher nüchtern. Nur die mit Blumen und Fuchsienblättern aus Blattgold verzierten Metalltüren verraten den erlesenen Geschmack des einstigen Besitzers des Hauses, Léon Losseau. Um den Bestand zu schonen, müssen sich die Besucher:innen hier Socken über die Schuhe streifen und können so durch die herrschaftlichen Räume schlittern, deren Salons und Bäder im „Art-nouveau“-Stil noch detailgetreu erhalten sind.
„Wikipedia auf Papier“: das Mundaneum
Wie die Welt sich erklären ließ, bevor die Menschen an ihren Smartphones klebend wie Zombies durchs Leben sausten und über Google und Wikipedia Informationen sekundenschnell abriefen, kann man im Mundaneum erkunden. Aus zahlreichen Holzschubladen ragen hier aus dem einst als „Machine à penser le monde“ konzipierten Schlagwortarchiv noch Tausende von Karteikarten mit handschriftlich zusammengetragenen Informationen heraus. Ziel des 1898 von Paul Otlet und Henri La Fontaine in Brüssel unter dem Namen „Institut international de bibliographie“ (IIB) gegründeten Museums war es tatsächlich, das gesamte Schrifttum der Welt als Bibliografie in Zettelkästen zu erfassen. Das wirkt heute fast urig.
Im Musée Doudou verzieren Papierdrachen und bunt gestaltete Plakate den Eingang. Verspielt lockt dieses vor allem Kinder an. Jährlich werden hier mit dem „Concours Doudou illustré“ ein Wettbewerb für Bürger:innen ausgeschrieben und die besten Zeichnungen und Plakatentwürfe prämiert. Wie die Echternacher Springprozession in Luxemburg, gehört das Volksfest „Doudou in Mons“, das seine Wurzeln im 14. Jahrhundert hat, seit 2005 zum immateriellen UNESCO-Weltkulturerbe und zieht jährlich Tausende Besucher:innen an.
Seitdem Mons (deutsch: Bergen), das nur 2,5 Auto-Stunden von Luxemburg entfernt liegt und selbst mit dem Zug aus Arlon über Namur nur einen Katzensprung entfernt ist (und aus Deutschland von Köln aus bequem mit dem Eurostar zu erreichen), 2015 Kulturhauptstadt war, befindet es sich kulturell im Aufwind. Ähnlich wie nach Esch2022 künden nicht nur Kunstwerke im öffentlichen Raum von dem europäischen Großevent. Auch hier sind neue Kulturhäuser entstanden. So locken der gerade neu eröffnete Museumskomplex „Culture, Art et Patrimoine“ (CAP) im Stadtzentrum und schließlich die Wechsel-Ausstellungen im „Musée des Beaux-Arts“ nach Mons. Doch wie kommerzielles Bling-Bling wirkt hier selbst seit 2015 nichts. Eher sympathisch verschlafen wirkt die 100.000 Einwohner:innen zählende Kulturhauptstadt der Wallonie, in deren Gassen und an deren belebtem Hauptplatz man gern ein Bier trinkt.
Nach aufwändiger Renovierung und nach Ausstellungen über Vincent van Gogh (2015) oder Niki de Saint-Phalle (2018) lockt das „Musée des Beaux-Arts“ (BAM) nun mit einer weitläufigen Ausstellung über das Werk des berühmten französischen Malers und Bildhauers Rodin. Die Schau erstreckt sich über zehn thematische Räume und zeigt fast 200 der berühmtesten Skulpturen des Künstlers, darunter einige Monumentalskulpturen wie natürlich seinen berühmten Denker („Le Penseur“, 1881-1882), der seiner Zeit vom Künstler selbst als Wegweiser für die Moderne in Brüssel vorgestellt wurde, aber auch Zeichnungen, Drucke und Gemälde, die aus dem Musée Rodin in Paris, renommierten internationalen Institutionen (etwa Musée d’Orsay, Musées royaux des Beaux-Arts, Victoria and Albert Museum, Louvre) und Privatsammlungen stammen.
Den roten Faden der Ausstellung bilden Rodins sechs Jahre Tätigkeit in Belgien ( 1870-1876), in denen er zum Bildhauer wurde. Die faszinierende Schau beleuchtet seinen Umgang mit dem Körper, seinen Blick auf die Renaissance sowie eine neue Arbeitsweise als Zeichner.
Rodins belgische Jahre
Die Schau zeichnet nach, wie der anfangs verkannte Rodin, der dreimal an der „École nationale supérieure des beaux-arts de Paris“ abgewimmelt wurde, zur Bildhauerei kam. Sie bemüht aber auch seine enge Beziehung zu Belgien: „La Belgique – pays que j’aime comme mon atelier de plein air“ (Rodin, 1906), liest man im zweiten Ausstellungsraum. In seinen „belgischen Jahren“ wurde Rodin mit den flämischen Künstlern vertraut, die er auf seinen Streifzügen durch Gent, Lüttich und Antwerpen entdeckte. Neben Van Dyck, Teniers, Snyders und Jordaens soll ihn vor allem Rubens fasziniert und geprägt haben. Von ihm sollte er mehrere Gemälde aus dem Gedächtnis kopieren. Als 1899 seine erste Einzelausstellung in Brüssel stattfand, war er auf dem Gipfel seiner Schaffenskraft.
Rodins erste große Figur, die er nach den lehrreichen Jahren in Belgien schuf, wurde im Januar 1877 in Brüssel der Öffentlichkeit vorgestellt: „Das eherne Zeitalter“ war geboren. Für eine einfache Aktstudie warb Rodin den Soldaten Auguste Neyt an, der ihm ab Oktober 1875 Modell stand, und vollendete die Figur nach seiner Rückkehr aus Italien 1876. Von dieser Reise behielt er vor allem den Eindruck von Michelangelo, der ihm, wie er sagte, ein wenig von seinen „Geheimnissen“ hinterließ. Dennoch erhielt seine Skulptur des nackten Jünglings 1877 keine öffentliche Anerkennung … In der Schau in Mons wirkt sie heute mehr elegant schillernd, als provokativ.
Schwarze Zeichnungen
Unvergessen bleibt seine Skulptur „Le Cri“ (1886), die Kopfbüste eines schreienden Mannes, die die Blicke der Zuschauer:innen mit den weit aufgerissenen Augen beklemmend auf sich zieht. Im zweiten Stockwerk stoßen die Besucher:innen auf die emblematische Büste „Le Penseur“. Die weitläufige Schau widmet sich vor allem in den letzten Räumen seinen Zeichnungen und zeigt ihn als „Erfinder eines modernen Akts“.
Die letzten zwanzig Jahren seines Lebens konzentrierte sich Rodin auf Zeichnungen, die von seiner Erforschung der menschlichen Figur, aber auch des Raums und abstrakter Formen zeugen und im CAP erstmals umfassend zu sehen sind. Sein Name sollte einen Platz in der Geschichte als Vorläufer der modernen und zeitgenössischen Malerei einnehmen, der u.a. Schiele, Matisse, Klee und Picasso beeinflusste. Sie alle besuchten Rodins Ausstellungen von Zeichnungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Ab 1896 erfand Rodin eine experimentelle Praktik des ‚Blindzeichnens‘, bei der sein Blick ausschließlich auf sein Modell gerichtet war. So erzeugte er rudimentär anmutende, deformierte Akte und bildete einen Gegenpol zur klassischen Vorgehensweise.
Gespenstisch verschwommen und magisch abgerückt wirken Rodins Aktzeichnungen in der Schau in Mons. Ein weiterer Raum zeigt seine „schwarzen Zeichnungen“. In einer kargen Palette von Sepia, Schwarz-Weiß und Grau ausgeführt, zählen sie zu den schönsten grafischen Werken des 19. Jahrhunderts.
Berlinde de Bruyckere trifft auf Auguste Rodin
Dem aktuellen Trend folgend (vgl. etwa die Ausstellung „Erwin Olaf & Hans Op de Beeck – Inspired by Steichen“ im MNAHA 2022), werden hier die Werke Rodins den Werken der zeitgenössischen belgischen Künstlerin Berlinde de Bruyckere entgegengesetzt, die den Blick der Künstlerin auf Rodin offenlegen und in der Ausstellung in einen Dialog treten. Trotz der über hundert Jahre, die zwischen den beiden liegen, ergänzen sie sich in ihrer Körperkunst. De Bruyckeres geschundene Körper-Skulpturen bilden ein zeitgenössisches Echo zu Rodins Werk.
Wenngleich die Ausstellungskuratorinnen (Antoinette Le Normand-Romain und Christina Buley-Uribe) Rodins despotische Haltung gegenüber Frauen an keiner Stelle erwähnen, könnte zumindest die Gegenüberstellung mit de Bruyckeres Werken als Statement gewertet werden. Eine Randnotiz wäre es schon wert gewesen – zu erwähnen, dass Rodins weibliche Begleiterinnen, ähnlich wie bei Picasso, stets im Schatten „des Genies“ stehen sollten. So vor allem seine einstige Schülerin, Camille Claudel, die als Bildhauerin zeit ihres Lebens nie Anerkennung fand und im mittleren Alter in die Psychiatrie abgeschoben wurde.
In der Stiftskirche Saint-Waudru mitten in Mons werden Werke Rodins im Wechselspiel mit den Skulpturen von Jacques Du Broeucq (16. Jh) gezeigt. Skulpturen von de Bruyckere, die auf Holzpaletten belassen wurden und die Durchgänge säumen, wirken in der Kirche gespenstisch und fügen sich verblüffend in den sakralen Ort ein.
„Les Bourgeois de Calais“ im Garten des Bürgermeisters
Von der Grand-Place gelangt man über einen mit bunten Plastikblumen dekorierten Tunnel in den „Jardin du Mayeur“ des Rathauses von Mons. Geht man an einem Springbrunnen vorbei, so stößt man auch hier auf Rodin, diesmal im öffentlichen Raum: Die Skulptur aus Bronze „Die Bürger von Calais“ ist im Rahmen der Sonderausstellung von der Domaine de Mariemont nach Mons gebracht worden. Das Werk verkörpert das Opfer von sechs Männern während der Belagerung von Calais im Jahre 1347: ein Akt kollektiven Widerstands.
Rodins Skulptur markierte seinerzeit einen Wendepunkt: Indem Rodin mittels einer Gruppe von sechs Individualplastiken auf eine Hauptfigur verzichtete, holte er das Denkmal sprichwörtlich vom Sockel. Rodin stellte zudem keine mutigen Helden dar, sondern gebückte, zerlumpte Gestalten in ihrer Trauer und Verzweiflung und brach damit bewusst mit dem Kult des Heldendenkmals. Im Park des Rathauses in Mons wirkt diese Skulptur verzehrter Gestalten umso eindrucksvoller.
In der „Maison des collections“ im Kellergewölbe des CAP kann man sich die Stadtgeschichte von Mons sinnlich erschließen. Das Künstlerkollektiv VOID hat unter anderem eine immersive Klangvorrichtung für den Tunnel entwickelt, der das „Musée des Beaux-Arts“ mit dem Museum für Stadtgeschichte verbindet, und hinterfragt so die Identität der Stadt in ihrer klanglichen Dimension. Von den Glasfenstern in der Stiftskirche Saint-Waudru über die jahrhundertealte Bierbraukunst hin zu Koffern („mots-valises“), aus denen man Stimmen über die Stadtgeschichte lauschen kann …
Komplementär zur Erkundung der Stadtgeschichte im Kellergewölbe des CAP lohnt sich ein Gang auf den Glockenturm „Beffroi de Mons“. Den Belfried kann man zu Fuß besteigen, das gigantische Glockenwerk bestaunen und hier von oben auf die Stadt blicken und auf Bildschirmen die Straßen und Plätze von Mons heranzoomen. Mit seiner 5.500 Kilogramm schweren Glocke und 25 Tonnen Gewicht ist dieser im 17. Jahrhundert errichtete Turm einer der schwersten der Wallonie. Jede Viertelstunde erklingt hier ein Lied aus Mons: „La bière“, „Zandrine“ oder „La Chanson du ropieur“.
So lohnt sich ein Ausflug in die kleine wallonische Stadt in der beschaulichen Region Hennegau, in der sich 19 Weltkulturerbestätten bündeln. Wer einen Abstecher nach Mons plant, sollte auf jeden Fall im Mundaneum vorbeischauen und kann getrost sein Mobiltelefon stecken lassen. In den riesigen hölzernen Zettelkisten riecht es noch immer nach Wissen und Papier.
„Rodin. Eine moderne Renaissance, im Dialog mit Berlinde De Bruyckere“
Die Ausstellung „Rodin. Eine moderne Renaissance, im Dialog mit Berlinde De Bruyckere“ ist noch bis zum 18. August 2024 im „Musée des Beaux-Arts“ in Mons zu sehen. Tickets unter: www.cap.mons.be.
Der Katalog „Rodin. Une Renaissance moderne“, ist im Verlag Snoeck erschienen, 265 Seiten und zum Preis von 40 Euro im Museum erhältlich.
Informationen über Individualreisen nach und Wanderungen rund um Mons findet man unter: visitwallonia.be
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