Ukraine-Krieg / Grenzerfahrungen: Die Flucht ist zum Alltag geworden
Bereits kurz nach dem russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 waren Hunderttausende von Menschen auf der Flucht.* Der Autor und der Fotograf dieser Reportage brachen damals ins polnisch-ukrainische Grenzgebiet auf und begegneten unter anderem dem freiwilligen Andrii Pateli, einem in Luxemburg lebenden Ukrainer.
Oksana kann die Tränen nicht mehr zurückhalten. Auf einem Stuhl kauernd, sagt die junge Frau, dass sie am Abend zuvor mit ihren beiden Töchtern im Alter von sechs und acht Jahren sowie ihrer Mutter in Przemyśl angekommen sei. „Die Leute sind gut zu uns“, sagt sie. „Sie gaben uns gleich etwas zu essen und brachten uns hierher.“ Mit „hierher“ meint sie das Tesco Center am Rand der nur wenige Kilometer von der Grenze entfernten Stadt. Die Neuankömmlinge werden mit Bussen zu der einen Monat zuvor noch leerstehenden Shopping-Mall gefahren, die zum Fluchtpunkt vieler Ukrainer geworden ist.
In dem früheren Einkaufszentrum hat eine Apotheke wieder geöffnet. Vor der Registrierungsstelle nebenan hat sich eine Menschentraube gebildet. An einem der Tische sitzen Freiwillige in gelben und orangefarbenen Westen. Nicht wenige von ihnen sind polnische Pfadfinder. Eine ehrenamtliche Helferin versucht, Ordnung in die Menge der Wartenden zu bringen. Wer registriert ist, bekommt ein Armbändchen ums Handgelenk. Ein paar Schritte weiter in der einstigen Schaufensterpassage liegen Matratzen mit Bettzeug auf dem Boden. Dazu Spielsachen, die gespendet wurden.
In den Fluren und Innenräumen der früheren Geschäfte ist es nicht erlaubt zu fotografieren. Eine Gruppe polnischer Soldaten patrouilliert und achtet darauf, dass keine Unbefugten den Schlafbereich betreten. Am Eingang des Zentrums verteilen die Helfer aus aller Herren Länder Essen. Auf ihren Westen steht zu lesen, welche Sprachen sie sprechen. Ein grauhaariger Mann, der einer jüdischen Gemeinschaft aus Mexiko angehört, geht telefonierend auf und ab, während eine Gruppe von Spaniern aus Alicante vor dem Haupteingang in einer großen Pfanne Paella zubereitet.
Ein paar Meter weiter werden an einem Stand Kaffee, Tee und andere Getränke angeboten. Zwei bärtige Skandinavier bringen auf einer Sackkarre Kisten mit neuen Hilfslieferungen herbei, die von Kleintransportern aus allen nur denkbaren europäischen Ländern abgeladen werden. Eine italienische TV-Journalistin sucht, in der Hand ein Mikrofon, nach Interviewpartnern. Ihr Kameramann eilt ihr hinterher. Ihre asiatische Kollegin ist bereits auf Sendung. In dem babylonischen Sprachgewirr sind die Flüchtlinge, um die es eigentlich geht, kaum zu hören. Sie fallen vor allem durch ihre verloren wirkenden Blicke auf. Auch ist ihnen die Erschöpfung anzusehen.
Shopping-Mall als Fluchtpunkt
Oksana hat sich die Tränen abgewischt. Sie komme aus Lwiw, sagt sie. Die junge Frau erzählt, dass sie geglaubt habe, die westukrainische Stadt bliebe von den Attacken der russischen Armee verschont. Ein Verwandter im Osten des Landes sei bei einem Raketenangriff getötet worden. Ein Freund habe sich in den ersten Tagen nach dem russischen Überfall am 24. Februar zur Armee gemeldet, erzählt Oksana. Er habe keine Woche überlebt. Ihr Mann musste, wie alle Männer von 18 bis 60 Jahren, im Land bleiben. „Um zu kämpfen“, fügt sie hinzu. „Dabei hat er noch nie eine Waffe in der Hand gehalten.“
Zum Tesco-Center hat uns Andrii gebracht. Der zu dieser Zeit 29-Jährige lebt seit 2016 in Luxemburg und ist in der Finanzbranche tätig. „Ich konnte nicht untätig in meiner Wohnung sitzen und aus der Ferne in den Nachrichten verfolgen, was in der Heimat geschieht“, sagt der Ukrainer. „Mein Vater und viele Verwandte sind noch in Kyiv, meiner Heimatstadt. Meine Mutter und meine Schwester verließen das Land mit dem Auto.“
Während der gut zweistündigen Fahrt auf der Autobahn von Krakau zur ukrainischen Grenze begegneten wir mehreren Militärtransportern. Die Hilfsgüter kommen zumeist mit zivilen Lastwagen oder Kleintransportern von Firmen, Hilfsorganisationen und Privatleuten aus ganz Europa. Ein Mann aus Süddeutschland erzählt, wie er mit Freunden einen Konvoi organisierte und über Nacht nach Przemyśl fuhr: Ein Lieferwagen war voll mit Medikamenten und Sanitätsartikeln, ein anderer mit Nahrungsmitteln, ein weiterer mit Kleidern.
Nicht nur für die Geflüchteten sammelt Andrii Material, sondern auch für die ukrainischen Soldaten und freiwilligen Kämpfer: kugelsichere Westen, Nachtsichtgeräte und Wärmebildkameras, Gasmasken und Stiefel, Helme und Kleidungsstücke. Die Lieferungen für die Front werden im Netz koordiniert. Wer etwas braucht, verschickt seine Bestellung über die sozialen Netzwerke. Gesucht wird auch nach mutigen Fahrern, denn ihre Mission ist riskant.
Neben dem Tesco Center haben ein paar Männer in Tarnuniform ihre Zelte aufgeschlagen. Sie hätten Spenden für die ukrainischen Kämpfer dabei, erklärt einer aus der Gruppe, der sich als Manuel vorstellt, aber auch für die Freiwilligen, die auf der Seite der Ukraine kämpfen. Er erzählt mit einem unverkennbar schwäbischen Akzent, wie er sich zusammen mit seinen Freunden auf den Weg an die polnisch-ukrainische Grenze gemacht hat, obwohl seine „Familie gar nicht froh darüber“ sei. „Die verstehen das nicht, dass ich so lange hierbleibe – länger als ich ursprünglich wollte“, sagt der Vater von fünf Kindern. „Aber ich spürte einfach, dass ich hier gebraucht werde.“
Vor dem Zelt nebenan stapelt eine weitere Gruppe Uniformierter Kisten mit sanitären Hilfsgütern und Kartons mit Babywindeln. Die Männer erweisen sich als wortkarg. Über ihrem Zelt weht eine estnische Flagge. „Unsere Nachbarn reden nicht viel“, bestätigt Manuel. „Aber sie machen einen harten Job. Jede Nacht fahren sie mit ihren Transportern in die Ukraine, um das Material dorthin zu bringen, ins knapp zwei Stunden entfernte Lwiw oder sogar weiter.“ Nach Kyiv etwa. Das liegt rund 650 Kilometer entfernt. Jederzeit können sie von den Russen beschossen werden.
Alberto, ein Kubaner, der seit mehr als 34 Jahren in der Ukraine lebt, mit einer Ukrainerin verheiratet ist und die doppelte Staatsbürgerschaft besitzt, hat sich zu den Spaniern mit der Paella gesellt. „Ich komme aus einem Dorf nördlich von Kyiv, nicht weit von Tschernobyl“, sagt er und stellt uns Frau und Tochter vor. Er erzählt von seiner Flucht: „Als sich die Russen näherten und wir ihre Artilleriefeuer und Schüsse hörten, beschlossen wir zu fliehen. Wir gingen zuerst 20 Kilometer zu Fuß auf einem unbefestigten Weg, bis wir an eine Stelle kamen, von wo uns ein Bus mitnahm. Dieser brachte uns zu einem Bahnhof.“ Nun will die Familie nach Spanien.
Menschenhändler wittern ihr Geschäft
Neben ihm wartet ein junger Pole namens Tomasz auf seine Mitfahrer, die er nach Masuren bringen möchte. „Ich kann vier Leute mitnehmen“, sagt er und hält ein Schild mit dem Zielort in der nordpolnischen Woiwodschaft hoch. Die Organisatoren in der Anlaufstelle sind darauf bedacht, die Kontrolle darüber zu behalten, wer wohin fährt. Als der Flüchtlingsstrom einsetzte, witterten Menschenhändler ihr Geschäft. Die Gefahr von Verschleppung und des sexuellen Missbrauchs hat sich unter den Flüchtlingen herumgesprochen. An den Zufahrten zum Gelände haben sich Polizeibeamte postiert, die die Autos auf ihre Passagiere hin überprüfen.
Im Aufnahmezentrum selbst gibt es eine Stelle, wo auch Personen aus der LGBTQ-Gemeinschaft und People of Color geschützt werden. Während weltweit die Hilfsbereitschaft in den Nachbarländern der Ukraine gelobt wird, haben Menschen ohne ukrainischen Pass, die in dem Land gelebt haben, häufig Schwierigkeiten auf der Flucht. So wird etwa berichtet, dass dunkelhäutige Menschen am Besteigen der Züge gehindert werden, während Ukrainer die Züge kostenlos nutzen dürfen und ohne Visum ins EU-Ausland einreisen dürfen. Die Organisation Afrique-Europe-Interact hat Busse an die Grenze geschickt, um insbesondere People of Color abzuholen. Einige seien bereits von polnischen Hooligans angegriffen worden, ist zu hören. Vor dem Eingang des Tesco-Centers stehen zwei Niederländer von der Organisation „Ebenezer Operation Exodus“, die sich in israelische Fahnen gehüllt haben. Nach eigenen Worten informieren die beiden Männer, die selbst keine Juden sind, jüdische Ukrainer darüber, wie sie nach Israel einwandern können.
Etwa hundert Meter weiter auf dem großen Parkplatz warten mehrere zur Abfahrt bereite Busse. Auf einem ist Portugal als Ziel angegeben. Gerade steigen die letzten Passagiere für die mehr als 3.000 Kilometer lange Fahrt ein. „Wir wechseln uns ab und machen so wenig wie möglich Pausen“, sagt einer der drei Busfahrer. Rafael, ein Mann in Tarnjacke, kontrolliert die letzten Vorbereitungen vor der Abfahrt. „Die meisten, die bei uns mitfahren, haben Verwandte in Portugal, die dort schon länger arbeiten“, erklärt Rafael. Er selbst stamme aus Braga und sei für eine Sicherheitsfirma tätig. „Früher war ich Feuerwehrmann“, sagt der 37-Jährige. „Ich habe mir gesagt: Denk nicht lange nach, geh einfach und hilf.“
Przemyśl ist zu einem der wichtigsten Knotenpunkte der Flüchtenden auf ihrem Exodus aus der Ukraine geworden. Zigtausende verlassen die gut 60.000 Einwohner zählende Stadt im Karpatenvorland im äußeren Osten Polens weiter in andere polnische Städte oder europäische Länder. 30.000 weitere kommen täglich an, erfahren wir bei der polnisch-ukrainischen Vereinigung im Stadtzentrum. Zu Friedenszeiten überschritten täglich mehr als 10.000 Pendler die Grenze, heißt es von offizieller Seite.
Auch in dem Gebäude des Kulturvereins sind Flüchtlinge untergebracht, wie überall zumeist Frauen, Kinder und Alte. „Die Menschen haben ihr Haus oder ihre Wohnung, ihre Heimat und vielleicht ein Teil ihrer Familie verloren. Sie kommen auf dreierlei Art und Weise: per Zug, per Bus oder zu Fuß. Viele sind traumatisiert und im Moment ihrer Ankunft nicht in der Lage, rationale Entscheidungen zu treffen“, erklärt eine Frau namens Lila. Sie ist von Beruf Innendesignerin, doch nun koordiniert sie ein Team von Freiwilligen, das sich unter anderem am Bahnhof um die Flüchtlinge kümmert: Darunter befinden sich medizinisch geschultes Personal ebenso wie Übersetzer.
Schlafen im Theatersaal
Im Theatersaal des Kulturvereins gibt es Schlafplätze. Rund 80 Personen finden in dem Raum Platz. „Wir sehen unsere Arbeit als Notintervention“, sagt Lila. Jeden Tag treffen vier bis fünf Züge am Bahnhof von Przemyśl ein. Einige der Passagiere wollen in Polen bleiben, andere mit dem nächstbesten Zug zum Beispiel nach Berlin oder Prag weiter. Zwar gelte es, die Menschen so schnell wie möglich zu verteilen, sagt Lila. „Einige brauchen eine besondere Betreuung, ob Kinder oder Alte – Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen.“
Während auf dem Vorplatz neue Busse ankommen, warten zahlreiche Geflüchtete in der Bahnhofshalle und den Seitenfluren auf die Weiterfahrt oder auf ihre Angehörigen, die noch unterwegs sind. Am Bahnsteig vor der Halle gibt es gratis SIM-Karten. Die örtliche Feuerwehr hat eine Mitfahr- und Übernachtungsbörse eingerichtet. Eine Gruppe von Helfern gibt Essen aus. Ein Kind liegt schlafend auf einem großen Koffer, eine ältere Frau hält ihren kleinen Hund an der Leine.
Derweil starrt Svetlana dauernd auf die Anzeigetafel. Sie wartet auf ihren Neffen und ihre Nichte. Die beiden sollen am Nachmittag mit dem Zug ankommen. Sie selbst ist 2014 aus der Gegend von Luhansk ausgewandert, als russischstämmige Separatisten dort eine unabhängige Volksrepublik ausriefen. Die Region steht so heftig unter russischem Feuer, dass von „apokalyptischen Verhältnissen“ berichtet wird.
„Ich habe in Prag gearbeitet, bin aber vor einigen Monaten nach Mykolajiw zurückgekehrt“, sagt die 29-jährige Anna. „Ein schlechtes Timing. Denn nun zerstören sie unsere Stadt.“ Die Russen haben Streubomben benutzt. „Ich bin mit meiner Mutter, meinem kleinen Bruder und meinen Tanten hier“, sagt Anna. „Meine Großeltern blieben. Mein Vater und mein anderer Bruder zogen in den Krieg.“ Sie habe Dinge gesehen, die sie nie zuvor gesehen hatte, geschweige denn sich vorstellen konnte – und über die sie jetzt nicht sprechen möchte. „Meine Stadt bietet keine militärischen Ziele“, sagt sie. „Dafür haben sie eine Milchfabrik und viele Häuser zerstört. Jeden Tag bete ich für meine Familie und dass der Krieg bald zu Ende geht.“
Den Krieg vor Augen
Ungefähr zehn Kilometer von Przemyśl entfernt liegt Medyka, ein kleines Dorf direkt an der Grenze. Von hier aus war zu hören, wie die russische Armee den nahen ukrainischen Militärübungsplatz mit Raketen beschoss. Die Einwohner sahen die Rauchwolken. Sie hatten den Krieg vor Augen, er war in unmittelbarer Nähe. Bei dem Angriff kamen mindestens 35 Menschen ums Leben. Wenige Meter vom Revier der Grenzpolizei haben freiwillige Helfer aus aller Welt ihre Stände und Zelte aufgeschlagen. Ein Italiener verteilt Pancakes, während ein paar Schritte weiter die Organisation United Sikhs indische Spezialitäten anbietet.
Bis tief in die Nacht kommen Ukrainer zu Fuß über die Grenze, passieren mit Kind und Kegel das Tor nach Polen. Einige ziehen oder tragen ihre Koffer und andere Gepäckstücke, eine Familie hat ihr Hab und Gut in einen Einkaufswagen gelegt. Die Freiwilligen verteilen unentwegt Speisen, Wasser und heiße Getränke. Zwischen den Ständen fliegen Seifenblasen umher, die sie den Kindern geschenkt haben. Am Tor verabschiedet sich eine Frau von ihrem Mann, der nicht über die Grenze darf. Die beiden umarmen sich. Dann muss der Mann zurück, um zu kämpfen. Sie schaut ihm lange nach.
Ein Mann aus Krakau, der sich Wojtek nennt, sagt: „Wir nehmen unsere Nachbarn aus der Ukraine gerne auf. Ich denke, sie finden hier auch leicht eine Arbeit.“ Nur müssten die Flüchtlinge besser über das Land verteilt werden. Große Städte wie Warschau oder Krakau, wo an den Bahnhöfen Feldbetten aufgestellt wurden, sind bereits am Limit angelangt. „Wir fühlen uns den Ukrainern nah“, erklärt Wojtek, „vielleicht weil wir mit ihnen die Angst vor Putins Großmachtanspruch teilen.“ Eine Ukrainerin, die für die Internationale Organisation für Migration tätig ist und namentlich nicht genannt werden möchte, sagt: „Russland bezeichnet sich als großen Bruder der Ukrainer. Jetzt ist klar: Wir Ukrainer haben einen Bruder verloren und dafür eine Schwester gefunden.“ Sie meint damit die Polen.
Ein Pianist als Friedensbote
Aus der Ferne ist das Klavierspiel von Davide Martello zu hören. Der Pianist hat sich auf den weiten Weg aus seiner Heimat am Rande des Schwarzwalds gemacht, um für die Flüchtenden zu spielen. Mit seinem Flügel, auf dem ein Peace-Zeichen gemalt ist, hat er schon zahlreiche Länder bereist. Er trat in Istanbul während der Proteste auf dem Taksim-Platz im Juli 2013 und auf dem Maidan in Kiew 2014 und im vom Krieg erschütterten Donezk auf. Er musizierte am Tag nach den Terroranschlägen von Paris im November 2015 vor dem Bataclan. Kürzlich habe er vor dem Bahnhof von Lwiw gespielt. Zu seinem Repertoire gehören Popklassiker ebenso wie klassische Klavierwerke. „Ich möchte die Geflüchteten mit meiner Musik willkommen heißen“, sagt Davide. „Zugleich will ich ein Zeichen für den Frieden setzen.“
Viele bleiben stehen und hören ihm zu. So Vlada: Die junge, blonde Frau hat Tränen in den Augen. Ihre Eltern sind noch in der Ukraine. „Sie wollen ihr Zuhause nicht verlassen“, sagt sie, „obwohl ich sie jeden Tag anflehe, wenn wir miteinander telefonieren, bleiben sie stur.“ Eine andere junge Frau, die sie erst vor ein paar Stunden kennengelernt hat, nimmt sie in die Arme. Sie sei eine Schauspielerin aus San Francisco, sagt diese und stellt sich als Venetta vor. „Fast so wie Vendetta“, fügt sie hinzu. Sie trägt einen Schal in den Farben der US-Flagge. „Ich konnte nicht untätig zu Hause bleiben, ich musste hierher und nahm das nächste Flugzeug nach Europa“, sagt die Amerikanerin. Als sie sich dem Grenzort genähert habe, sei Davides Klavierspiel von weitem zu hören gewesen. Ihre Begleiterin habe gesagt: „Wir haben es geschafft. Das muss Medyka sein. Der Sound von Medyka.“ Am Tag darauf möchte Venetta in ihrem Kostüm als Wonder Woman auftreten. Vielleicht vertreibe das die bösen Geister des Krieges.
Zwei Jahre später: Nach wie vor ist Przemyśl eine wichtige Zwischenstation für die Kriegsflüchtlinge. Mittlerweile leben rund 10.000 von ihnen in der Kleinstadt. Aber es kommen nur noch vereinzelt Flüchtende. An der Grenze ist es ruhiger geworden, die meisten Hilfsorganisationen sind nach unseren Informationen wieder verschwunden. Die internationale Aufmerksamkeit hat stark nachgelassen. Kürzlich blockierten polnische Landwirte die Grenzübergänge und die Bahnstrecke bei Medyka. Sie stoppten ukrainische Getreidewaggons.
Kürzlich habe ich Andrii wiedergesehen. Wir trafen uns in Luxemburg. Ein halbes Jahr hatte er an der polnisch-ukrainischen Grenze verbracht und geholfen. „Das mache ich jetzt, so gut es geht, aus der Distanz“, sagt der mittlerweile 31-Jährige. „Ich hatte mir damals ernsthaft überlegt, an die Front zu gehen und zu kämpfen. Doch das waren die Emotionen, die Wut und die Verzweiflung.“ Er weiß, dass er nicht für den Krieg geschaffen ist. Er will auf andere Weise helfen, indem er etwa Hilfslieferungen organisiert.
Seinen alten Job hat Andrii, der lieber nicht fotografiert werden möchte, aufgegeben. Eine Zeit lang arbeitete er als Koch auf einem Schiff. Seine Heimatstadt, sein geliebtes Kyiv, hat er nicht mehr gesehen. Seine Schwester ist inzwischen wieder dorthin zurückgekehrt. „Oft denke ich daran, wie es früher in Kyiv war, in meiner Kindheit und Jugend“, sagt Andrii. „Aber ich kann nicht zurück. Sonst würde man mich zum Militär einziehen und müsste ich in den Krieg.“ Zum Abschied steigt er auf sein Rennrad. Es ist gelb-blau.
* Bis Februar 2024 haben nach Angaben des UN-Flüchtlingskommissariats (UNHCR) rund 28,5 Millionen Menschen aus der Ukraine die Grenze in ein Nachbarland überquert. Die Gesamtzahl der im Februar 2024 in Europa registrieren Flüchtlinge aus der Ukraine beträgt 5,98 Millionen.
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