Luxemburgensia / Gut Ding will Weile(r) haben?: „Lapsuus“ von Joseph Kayser
Ein Mann fährt in den Norden des Landes, um sich dort seiner Vergangenheit zu stellen. Nein, „Lapsuus“ ist keine literarische Nacherzählung von „Capitani“, sondern ein düsterer Roman über das Vergessen, der zu oft und nicht oft genug den Faden verliert.
Pit ist ein 55-jähriger Journalist, dessen Karriere in einer Sackgasse verlaufen ist. Eine Reportage für die Lokalredaktion über eine Glockenweihe bringt ihn zurück in seinen Heimatort.
Der Auftrag ist nicht nur seine letzte berufliche Chance, sondern auch, wie könnte es anders sein, ein Vorwand für einen Selbstfindungstrip, der allerdings ganz und gar nicht so erbauend sein wird, wie der Leser es zu Beginn vielleicht vermuten könnte – denn Pit leidet, was sowohl er wie auch Kayser während der Hälfte des Romans mehr oder weniger geschickt verstecken, unter merkwürdigen Ausfällen und kommt, ein bisschen wie Leonard Shelby in Christopher Nolans „Memento“ oder auch Ian McKellens alternder Sherlock Holmes in „Mr. Holmes“, nicht ohne Aufzeichnungshefte und Notizen klar.
So ausgeklügelt wie Shelby, der sich im Laufe seiner Ermittlungen mit Tätowierungen am eigenen Körper aushilft, ist Pits „Methode“, mit der er gegen die Vergessenheit ankämpft, jedoch nicht. Mit Nolans Shelby teilt er allerdings, soviel sei jetzt bereits verraten, ein vergangenes Trauma, das im Roman durch die zahlreichen Todesfälle angekündigt wird – ein Reh gerät unter die Räder eines Busses, ein Busfahrer erlebt einen tödlichen Unfall, ein Mädchen ertrinkt im Stockmoor, der Vater erschießt sich noch am selben Tag mit einer „für die Schweineschlacht bestimmten Betäubungspistole“: Auf den ersten 40 Seiten der Erzählung wird um Pit herum gefühlt im Minutentakt gestorben.
Zu Beginn der Erzählung – es ist Kaysers erster Roman in deutscher Sprache und sein erstes Buch bei den Éditions Guy Binsfeld – steigt Pit in einen Bus. Um ihn herum verschwindet die Kulisse im „kalten Regen“ und „schlagenden Böen“, nur ein „neonfahles Zeitungsgeschäft“ bleibt sichtbar, der mürrische Fahrer murmelt wiederholt, dies wäre der „Bus nach Weiler“, so als wolle er die eventuellen Mitfahrer warnen, entmutigen, abwimmeln, als könne es sich bei jeder Fahrt dahin nur um einen Irrtum handeln.
Diese dichte Atmosphäre der Einsamkeit, der Verlassenheit, dieser Eindruck eines menschenfeindlichen Biotops verfolgt ihn bis zum Zielort: „So fühlt sich also Heimat an, denke ich, und sie fängt genau dort an, wo der Bus stehen bleibt.“
Gegen den Dialog murmeln
Im Dorf scheint seine auf „Booking dot com“ abgeschlossene Reservierung auf wenig Interesse zu stoßen, der Wirt, der ihn gleich wiedererkennt, meint schulterzuckend, er habe halt keine Zimmer und schickt ihn zum pensionierten Lehrer, dessen Unterkunft weder geheizt noch zurechtgemacht ist: Gastfreundschaft geht anders, und das hier ist definitiv keine Variante der Geschichte des verlorenen Sohnes, der mit offenen Armen empfangen wird.
Der Stadtmensch Pit hat in diesem gottverlassenen, kinderlosen Dorf kaum Netzwerk und scheint sich allmählich vom Alltagsstress in der Großstadt lösen zu können, von der ihn in seltenen Netzwerkschüben schlechte Nachrichten erreichen.
Langsam gewöhnt sich der Ich-Erzähler an die Monotonie des kargen Dorflebens, verliert sich in der Regen- und Schneelandschaft, stößt auf das für Weiler so charakteristische Murmeln, das im Dorf jeden Ansatz von einem Gespräch unterbindet und ersetzt, findet Unterschlupf bei der einsiedlerischen Fotografin Susi, verliert seinen eigentlichen Auftrag langsam aus den Augen und wird von Kindheitserinnerungen und geisterhaften „Wiedergängern“ aufgesucht.
Das in Schnee und Regen gehüllte Weiler erinnert an David Lynchs „Twin Peaks“, in seiner menschenleeren Einöde, in der sich latent eine bedrohliche Stimmung entfaltet, aber auch an das Videospiel „Silent Hill“ – allerdings ohne die Unterwelt mit ihren kopflosen Monstern.
Denn das Monster in „Lapsuus“ ist der eigene Verstand, ist das schwindende Gedächtnis, das einem das eigene Leben wie den sprichwörtlichen Teppich unter dem Boden wegzieht. Pits Leben löst sich vor seinen Augen auf, wird zur „Abrisskante“ für den Sturm des Vergessens. Was im Strudel dieses langsamen Dahinschwindens übrig bleibt, sind eine gekündigte Wohnung, ein abgeschlepptes Auto, eine Trennung und eine Kündigung.
Um aus dieser tristen Wirklichkeit auszubrechen, erinnert er sich an die Figuren seiner Kindheit – an den zu früh gestorbenen, depressiven Vater, an die fremdgehende Mutter, an die Jugendliebe Anne, an den dämlichen Tim und an den Schulkamerad André, der für seine Andersartigkeit bestraft wurde, den er in Weiler wiedertrifft, der Bücher nach ihrem Geruch einordnet und den er zusammen mit Susi auf eine Reise nach Finnland entführt.
Labyrinthe des Vergessens
Wer über das Vergessen schreibt, kommt nicht drum herum, ein Labyrinth zu zeichnen, in dem sich die Figur verläuft. Kaysers Figur verliert sich zwar sehr wohl im Labyrinth seines schwindenden Gedächtnisses, diesem fehlt es aber etwas an Konturen, die Erzählung bleibt lange Zeit zu linear, zu deutlich gezeichnet: Was hier etwas fehlt, ist das Zyklische, sind die Kreise, die viele Erzähler des Vergessens ziehen.
Neben Leonard Shelby denkt man an Anthony Hopkins Paraderolle in Florian Zellers „The Father“, aber auch, worauf uns Bertrand Gervais in „La ligne briséee“, seinem wegweisenden Essay über das Vergessen in fiktionalen Erzählungen, aufmerksam machte, an die zerstreuteste Figur der Mythologie: Theseus, der sich nicht an den Kampf gegen den Minotaurus erinnert, der Ariadne auf Naxos vergisst und es genauso versäumt, die richtige Fahne am Mast seines Schiffes zu hissen, sodass sein Vater Aigeus im Glauben gelassen wird, sein Sohn wäre im Kampf umgekommen und sich im Meer ertränkt.
Kaysers Figur dreht sich sehr wohl im Kreis, ihr Gedächtnisschwund geht aber im Sog der vielen umrissenen Thematiken – Beziehungsunfähigkeit, Kindheit, Depressionen, die Zeit, der Tod, die Kluft zwischen Großstadt und Dorfleben – etwas unter und wirkt zudem, weil das Thema auf den ersten 70 Seiten nur angedeutet wird, danach etwas zu offensichtlich einsetzt und der Roman nicht subtil genug mit erzählerischer Unzuverlässigkeit jongliert, zu konstruiert.
Stinkende, schnaubende Aussteiger
Sprachlich zeigt sich Joseph Kayser deutlich ambitionierter als in seinen luxemburgischen Werken – lange, manchmal zu ausgiebige Beschreibungen des Regens, ganz so, als wolle der Autor dem Vorhaben seiner Figur, ein Buch über den Regen zu schreiben, Ausdruck verleihen, kennzeichnen die Erzählung und schaffen eine beklemmende Atmosphäre, auch wenn einige Beschreibungen über das Ziel hinausschießen und (wohl bewusst) redundant daherkommen.
So wirkt Kaysers Sprache an vielen Stellen durchaus stark und präzise, anderswo aber auch unbeholfen, bemüht und überambitioniert: Ständig „wirbelt“ irgendwo irgendetwas, die ungewöhnliche, etwas eitle Verwendung des Verbs „vereiteln“ taucht einen Tick zu oft auf, hier und da gibt es pleonastische Wortdopplungen innerhalb eines Satzes („Bis hinunter ins Tal schafft es das Weiß nicht mehr (…), mittels einer weißen Decke so etwas wie Schönheit vortäuschen zu können“), ein Neologismus scheitert kläglich (Pit verteidigt seine These, „Regenschnee“ sei ein besserer Begriff wie „Schneeregen“, mit der Begründung, „Schnee, Regen“ klinge nach zwei Wörtern – wobei es sich dem Verständnis des Rezensenten entzieht, wieso „Regen, Schnee“ nicht nach zwei Wörtern klingen sollte) und manchmal hängt auch der Satzbau schief („leichtes Hämmern unter der Schädeldecke und aufsteigende Magensäure verlangen nach etwas Essbarem“).
Die Figurenzeichnung ist zudem, besonders was die Frauenfiguren anbelangt, etwas platt, schablonenhaft – neben dem klischeehaft gezeichneten Autisten André, der an Peter Stillmann Jr. aus Paul Austers „City Of Glass“ erinnert, ist es vor allem die Fotografin Susi, die problematisch erscheint.
Ab ihrer ersten Erscheinung erwähnt Pit, dass sie „stinkt“ und kann es nicht lassen, ständig hervorzuheben, wie sehr sie ihn begehrt – und wie wenig er auf sie steht. Als er nach der ersten Begegnung ihr Angebot, bei ihr zu übernachten, ablehnt, vermutet er, dass sie eine „Umarmung oder ein Küsschen“ erwartet hätte, ein Nacktfoto von ihm macht sie an und als diese „Aussteigerin“, die der Autor wohl als starke Figur konzipieren wollte, gegen Ende dann endlich schnallt, dass er sie nicht vögeln wird, „schnaubt“ sie, dass sie nun „ins Bad gehe“, was Pit nur anmerken lässt, bei Tina hätte eine solche Bemerkung ihm „anderthalb Stunden Zeit für sich“ gegeben.
Klar, der Erzähler ist nicht mit dem Autor gleichzusetzen, es ist deswegen aber umso aufschlussreicher, dass es auch sonst keine starke weibliche Figur gibt: Die Jugendliebe Anne ist eine blasse Erscheinung, die nur auf einer Seite physisch auftaucht und schüchtern auf ihre „Fußspitzen“ schaut, Tina, die sich von Pit trennt, wird nur ein paarmal skizzenhaft und konturlos erwähnt. Auf der Vergangenheitsebene sieht es nicht viel besser aus: Pit erinnert sich an Mädchen, die beim Strippoker irgendwann zitternd in der Unterwäsche dasaßen und „so taten, als weinten sie“ – als könne er sich nicht vorstellen, dass ein solch demütigendes Unterfangen echte Tränen fordern konnte.
Übrigens: Der Titel ist nicht (nur) ein performativer Lapsus, dessen Signifikant wiederholt, wofür sein Signifikat steht und auch nicht, wie böse Zungen es meinen könnten, eine Selbstcharakterisierung des Buches – „Lapsuus“ ist das finnische Wort für Kindheit. Dass Pit oder dem Autor trotzdem der ein oder andere Lapsus widerfährt, schließt die polysemische Interpretation des Titels nicht aus. Nichtsdestotrotz: Im Vergleich zu den beiden Vorgängerwerken ist „Lapsuus“ definitiv ein Schritt in die richtige Richtung – wenn auch nicht für seine Hauptfigur.
Info
„Lapsuus“ von Joseph Kayser, 2021, Éditions Guy Binsfeld, 146 Seiten, 22 Euro.
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