Literaturkritik / Guy Rewenig geht in „Bärenklau“ auf Kriegszug gegen „Sensitivity Reader“
Klein, aber giftig, so könnte man Guy Rewenigs Büchlein „Bärenklau“ nennen: Bissig, ironisch und bisweilen überzogen, zieht der Autor gegen die politische Korrektheit vom Leder.
Ein vorgekautes Steak schmeckt nicht ganz so gut wie eine bluttriefende Picanha. Dem wird wohl jeder Fleischliebhaber zustimmen. Auch ist der Nitratgehalt von Tiefkühlspinat geringer als in frischem Spinat. Doch wie ist es mit der Literatur, seit die Verlage Sensitivity Reader beschäftigen, die Romane oder Sachbücher nach Formulierungen durchsuchen, die Anstoß erregen könnten?
In welche Richtung Guy Rewenig mit seinem Buch „Bärenklau“ will, ist schon der Hülle des 90 Seiten schmalen Büchleins zu entnehmen. Allerdings kleidet er sich nicht im Kampfanzug des Polemikers, sondern schlüpft in die Rolle von Lina Mack, einer besonders gewieften Vertreterin der Sensitivity-Reader-Gilde, die die Autoren – hierbei sei die männliche Variante genannt, weil die besonders schlimm ist – regelmäßig zusammenpfeift, wie es nicht einmal der Bundesligaschiedsrichter Deniz Aytekin („Karten, Pfiffe, fette Bässe“) macht.
Typisch Rewenig
Rewenig pflegt in „Bärenklau“ seinen gewohnt subversiven Stil. Auf dem Umschlag sind die üblichen „sensitiven“ Korrekturen angebracht: Bärinnen statt Bären, überhaupt sein Name ist zu maskulin (als weibliche Form bietet sich Guillotine an), und Klau klingt nach Diebstahl – das könnte als Anstiftung zur Straftat gedeutet werden. „Bärenklau“ könnte zudem militante Tierschützerinnen auf den Plan rufen. Deshalb hat der Autor mit seinen 77 Jahren – darf das Alter erwähnt werden oder ist dies ab 30 nicht altersdiskriminierend? – eine Triggerwarnung (beep) vorweggeschickt und auf die Gefahren des invasiven Doldenblütlers aufmerksam gemacht, der etwa zu Fieberanfällen und Schweißausbrüchen führen kann. Fragt sich nur, wer dem titelgebenden Gewächs am nächsten kommt: der Autor oder die „Sensitivity Readerin“?
Schlachtbank der Zensur
Letztere ist ganz und gar von ihrer Mission überzeugt: „Ohne sensitivity geht es nicht.“ Dem Publikum einer Konferenz erklärt sie ihre Aufgaben: Schlechte Dinge aus dem unartigen (entarteten?) Sprachgebrauch der Autoren entfernen, also alles, was mit Neid, Missgunst, Streit, Ausgrenzung, Verfolgung, Krieg, Zerstörungen aller Art zu tun haben könnte. Also alles? Am besten gleich die gesamte Weltliteratur auf die Schlachtbank der Zensur, von Auster, Beckett, Céline bis hin zu Twardoch und Zweig.
Stattdessen sollen Eintracht, Harmonie, Sanftheit, Entgegenkommen, Freundlichkeit, Verständnisbereitschaft, Einfühlungsvermögen, uneingeschränkte Solidarität vorherrschen. Nicht einmal Rosamunde Pilcher würde aufgenommen werden, die Bibel schon gar nicht. „Alles Leiden sollten wir vermeiden.“ Leidenschaft muss raus, her mit der gepflegten Langeweile!
Mack würde es nicht dulden
Lina Mack geht noch weiter. Die Inquisitorin moniert: „Am späten Abend fängt es an zu schneien.“ Spät sei negativ, Abend immer kompliziert und führt zu Albträumen, und der Schnee ist heute gar unrealistisch. Sie unterstellt dem Autor, sich auf das Hässliche zu kaprizieren. „Die Straßenbahn ist überfüllt.“ Negativ! „Die Fahrgäste kommen sich vor wie Sardinen in der Büchse.“ Das impliziert den Massenmord an einer Spezies (Tierschutz). Und dann diese ultramännerlastige Thematik beim Autor. Mack will dem Autor die Macken austreiben, sein Bewusstsein schärfen (erinnert sei an die inquisitorische Wahl der Waffen) und zeigen, dass die Welt nicht nur aus Männern besteht, sondern zur Hälfte aus Autofahrerinnen und Fußgängerinnen, Vegetarierinnen und Fleischfresserinnen – und Bewundererinnen von Blasinstrumenten.
Mit dem wenig dezenten Hinweis auf eine Bücherverbrennung strapaziert der Autor sein Metaphern-Repertoire. Sensitivity Reader aus womöglich marginalisierten Gruppen sind weder Kampftruppen aus der Reichsschrifttumskammer noch Vorboten eines Armageddons der literarischen Freiheit.
Den absoluten Tiefpunkt erkennt sie, als die sensible Leserin von einer „Straßenbahn ohne Dach liest“. Für die würde es nie und nimmer eine Fahrerlaubnis geben. „Die von Ihnen imaginierte Straßenbahn gibt es nicht“, sagte sie. Was heißt: Fantasie gehört wohl nicht in die Literatur. Dann würde es auch nicht Behemoth, den riesigen sprechenden Kater aus Bulgakows „Meister und Margarita“ geben – und Berlioz wäre nicht in einer Pfütze verschütteten Öls ausgerutscht und nicht von einer Straßenbahn erfasst worden, die ihm den Kopf abtrennte. Ganz zu schweigen von Alex und seinen drei „Droogs“ in der Korova-Milchbar, die dort ihr Moloko Plus schlürfen. Keine Spatchkas und Dewotschkas, keine Malchiks, Jarbels und Tollschoks und schon gar nicht ultra-brutal. Das Buch „A Clockwork Orange“ von Anthony Burgess wäre nie erschienen, seine Verfilmung folglich auch nicht.
Die möglichst akribische Überprüfung von Büchern nach ihrer politischen Korrektheit durch Sensitivity Reader würde eine schöne neue Weltliteratur bar jeder Hässlichkeit ergeben. Eine „absurde Zensur“, wie es Salman Rushdie nennen würde. Schwache Autoren benutzten den Zensurvorwurf als Waffe, heißt es im „nützlichen Nachwort“ von Lina Macks Ausführungen.
Das würde Lina Mack natürlich zutiefst empört von sich weisen. Im Laufe ihrer Brandrede bei der Konferenz fragt sie das Publikum: „Können Sie mit einem Lötkolben umgehen? Sie sollten es versuchen. Der handliche Lötkolben wird gut Dienste leisten. Nehmen Sie ihn mit an die Bücherfront. Schnappen Sie sich einen vorurteilsstrotzenden Wälzer. Lassen Sie die zischende Stichflamme arbeiten. Löchern Sie den Wälzer. Zerlegen Sie das wuchernde Vorurteil zu Asche!“
Überstrapaziert
Mit dem wenig dezenten Hinweis auf eine Bücherverbrennung strapaziert der Autor Guy Rewenig sein Metaphern-Repertoire aber schließlich über. Sensitivity Reader aus womöglich marginalisierten Gruppen sind weder Kampftruppen aus der Reichsschrifttumskammer noch Vorboten eines Armageddons der literarischen Freiheit. Die sitzen vielmehr in den neurechten, nationalkonservativen und teils neofaschistischen Regierungen unter anderem in Budapest, Rom und bald auch in Washington, die die evolutionstheoretischen Schriften gerne aus dem Schulunterricht verbannen und durch die kreationistische Lehre ersetzen wollte.
Wenn Rewenig Lina Mack am Ende sagen lässt, dass eine leere Bibliothek besser sei als „unzählige Vorurteilsbazillen in der Bücherwand“, unterstellt er ihr zu meinen, dass es keine einwandfreien Texte gebe, und zu empfehlen, ständig den Rotstift parat haben zu müssen. Und wenn er Pläne erwähnt, nach und nach den gesamten Literaturkanon zu untersuchen, dann lässt er böses erahnen für auch den allerletzten Mohikaner, der sich noch in den Bibliotheken versteckt hat. Sollte der dort noch anzutreffen sein, dann findet er bei Guy Rewenig jedenfalls Zuflucht, den „Lederstrumpf“ der freien Autorenschaft.
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