Internationaler Tag des Schlaganfalls / „Habe eine Welt kennengelernt, die ich so nicht kannte“ – Porträt einer Betroffenen
Den 10. Oktober 2020 wird Anne Brimaire-Hoffmann nicht mehr vergessen. Seitdem ist ihr Leben in ein Davor und ein Danach geteilt. Es ist der Tag, an dem sie einen Schlaganfall erleidet. Ihr Weg zurück ins Leben ist steinig.
Es ist ein Samstagmorgen. Anne Brimaire-Hoffmann (43) will mit ihren Kindern, damals vier und zehn Jahre alt, in den „Escher Déierepark“. Sie sucht für den Kleinen noch eine Outdoorhose im Wäschekeller. Neben der Waschmaschine wird sie ohnmächtig. Sie selbst sagt: „Ich hatte keine Schmerzen, aber ich war sehr, sehr müde.“
Ihre Kinder finden sie und rufen ihre Schwiegereltern, die nicht weit weg wohnen. Sie rufen die Ambulanz. Es geht ins „Centre hospitalier Emile Mayrisch“ (CHEM). Sie kommt in der Ambulanz noch kurz wieder zu sich, bruchstückhaft sind die Erinnerungen an diesen Vormittag. Brimaire-Hoffmann erinnert sich daran, dass sie zunächst nicht realisiert, dass ihre gesamte linke Körperhälfte gelähmt ist.
Völlig unerwartet trifft es sie
Erst als eine Ärztin im Krankenhaus ihren linken Arm von der Liege hebt und er ungebremst herunterfällt, weil sie keine Kontrolle darüber hat, ahnt sie, was los ist. Bis dahin führt sie ein ganz normales Leben als Lehrerin, Ehefrau und Mutter ihrer zwei Kinder. Die damals 39-Jährige ist kerngesund und unterrichtet am „Lycée de garçons“ Esch in Vollzeit Geschichte.
Keiner der Risikofaktoren, die gemeinhin als Ursache herangezogen werden, trifft auf sie zu. Noch nicht einmal Kopfschmerzen kündigen das Ereignis an. Dieses Leben gibt es so nicht mehr. Der Schlaganfall trifft sie völlig unerwartet. Das ist das Davor. Das Danach beginnt mit insgesamt fünf Wochen Krankenhaus zwischen CHEM und Rehacenter, gefolgt von einem mühsamen Kampf zurück ins Leben.
Zu Hause wird einem erst richtig bewusst, wie schlimm es istSchlaganfallpatientin
Unmittelbar nach dem Schlaganfall sitzt sie im Rollstuhl, dann kommt der Rollator, sie muss erst wieder gehen lernen. Trotzdem sagt sie: „Ich hatte enormes Glück.“ Sie kann weiterhin sprechen und sich bemerkbar machen, obwohl die Muskeln der linken Gesichtshälfte zuerst nicht mehr funktionieren. Viele Leidensgenossen können das nicht und werden es auch nicht wieder können.
Es bleibt etwas zurück
Schlaganfälle schädigen Gehirnareale – je nachdem, wo sie stattfinden. Brimaire-Hoffmann kämpft. Anfangs wiegt ein Handy in der linken Hand gefühlt Kilos. Alltägliche Handlungen wie Haare kämmen, Toilettengang, Duschen oder Treppen steigen sind unmöglich, später immer noch eine ungeheure Anstrengung. Der Autonomieverlust ist das Schlimmste für die junge Frau.
„Ich hatte das Leben einer gebrechlichen, alten Frau“, sagt sie. Das ändert sich nicht, als sie entlassen wird. „Zu Hause wird einem erst richtig bewusst, wie schlimm es ist“, sagt sie. Heute ist auf den ersten Blick nur noch wenig von dem Schicksalsschlag zu spüren. Lediglich ihr Gang ist anders und eine medizinische Manchette ragt über ihrem schwarzen Stiefel hervor. Sie trägt eine Maschine am linken Unterschenkel, um den Fuß zu stimulieren.
„Ich kann ihn nicht mehr heben und deshalb auch nicht abrollen“, sagt sie. Zwischenzeitlich unterrichtet sie wieder und geht offen mit ihrem Schicksal um. „Ich sage anfangs des Schuljahres, was mir passiert ist, und dann spreche ich nicht mehr darüber“, sagt sie. Ehrenamtlich arbeitet sie als Sekretärin im Vorstand von „Blëtz“, der einzigen Anlaufstelle für Schlaganfallpatienten im Land.
Dort hat sie selbst Hilfe bekommen zu einem Zeitpunkt, als die Überforderung nach dem Schlaganfall alles überschattete. „Man fühlt sich mit der Diagnose sehr alleine“, sagt sie. „Ich habe eine Welt kennengelernt, die ich vorher nicht kannte.“ Es ist nicht das Einzige, was bleibt. Abgesehen von ständigen Schmerzen im Bein, regelmäßigen Spritzen und zweimal pro Woche „Kinétherapeute“ sei sie nicht mehr so belastbar wie vorher, sagt sie. Ihr Alltag bleibt ein Kraftakt.
Das Phänomen Schlaganfall
Es wird zwischen zwei Arten von Schlaganfällen unterschieden: Der ischämische Schlaganfall wird durch ein Blutgerinnsel verursacht. Das sind 80 bis 85 Prozent der Fälle. Der hämorrhagische Schlaganfall hingegen wird durch das Platzen eines Gefäßes im Gehirn verursacht, was 10 bis 15 Prozent aller Schlaganfälle verursacht. Als Risikofaktoren gelten: Bluthochdruck, Bewegungsmangel, Übergewicht, Fettstoffwechselstörung, Rauchen, Vorhofflimmern, Diabetes mellitus, Stress, Alkoholkonsum, Arteriosklerose und Carotisstenose (Verengung der Halsschlagader). Seit der Gründung von „Blëtz ASBL“ im Jahr 2013 beobachtet die Anlaufstelle, dass die Zahl der jungen Menschen, die einen Schlaganfall erleiden, zunimmt. Frauen sind häufig vor der Menopause, zwischen 45 und 55 Jahren, betroffen. Bei Männern gibt es kein spezifisches Alter. Diese Beobachtungen werden auch auf europäischer Ebene von „Stroke Alliance for Europe“ und „European Stroke Organisation“ gemacht.
3 Fragen an Chantal Keller, Präsidentin von „Blëtz“
Stimmt es, dass es keine Statistiken zu Schlaganfallpatienten im Land gibt?
Leider ist Luxemburg eines der wenigen Länder in der EU, das über kein nationales Schlaganfallregister verfügt. Manche Krankenhäuser erfassen intern einige Daten. Wegen der hohen Arbeitsbelastung kommt es aber zu keiner systematischen Datenerhebung. Dies ist eine Situation, die wir sehr bedauern.
Es kursiert die Zahl von vier Schlaganfällen pro Tag allein in Luxemburg. Gerücht oder Realität?
Nach Angaben des Gesundheitsministeriums war ein Schlaganfall 2020 für 4,8 Prozent aller Todesfälle im Großherzogtum verantwortlich. Ganz konkret bedeutet dies, dass im Großherzogtum Luxemburg etwa vier Schlaganfälle pro Tag auftreten. Davon hatte ein Patient schon einmal einen Schlaganfall in seiner Vorgeschichte.
„Blëtz“ setzt sich für „Lotsen“ und ein Nachsorgezentrum im Land ein. Was muss man sich darunter vorstellen?
Die „Lotsen“ sollen die Patienten in den ersten zwölf Monaten nach dem Ereignis in allen Phasen des Therapieprozesses begleiten – zumal viele Patienten danach pflegebedürftig sind. Um das einzuführen, arbeiten wir sehr eng mit der „Deutschen Schlaganfall-Hilfe“, dem Rehazenter, dem „Domaine thermal“ in Mondorf und den vier „Stroke Units“ im Land zusammen. Mit den gleichen Akteuren arbeiten wir daran, ein Nachsorgezentrum im Land aufzubauen, um bereits erzielte Fortschritte bei den Patienten zu stabilisieren und größtmögliche Autonomie zu erreichen.
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