Ukraine-Krieg / Hart an der Grenze: Wie viel Zwang steckt hinter dem „heldenhaften“ Durchhalten?
Seit der russischen Invasion der Ukraine ist den meisten einheimischen Männern das Verlassen des Landes untersagt. In Solidarität mit dem überfallenen Land wird das öffentlich eher selten debattiert. Während Experten die Regelung menschenrechtlich unterschiedlich bewerten, weisen pazifistische Aktivisten auch auf den Zusammenhang mit dem Grundrecht auf Wehrdienstverweigerung hin – und dass es um dieses in der Ukraine ohnehin schlecht bestellt sei.
Ausreiseverbot in Luxemburg denkbar?
Eine „Mobilmachung“ wäre grundsätzlich zwar auch in Luxemburg möglich, aber mit einigen anderen Vorzeichen als in der Ukraine. Das teilt das Staatsministerium auf Anfrage des Tageblatt mit:
„Diese Möglichkeit wird im Gesetz vom 8. Dezember 1981 über die Requirierung im Falle eines Krieges (loi modifiée du 8 décembre 1981 sur les réquisitions en cas de conflit armé, de crise internationale grave ou de catastrophe) vorgesehen. Laut Artikel 8 können Bürger, in streng begrenzten Ausnahmefällen, für das öffentliche Interesse dienstverpflichtet werden. Die Requirierung beschränkt sich nicht ausschließlich auf Männer.
Auf weitere Anfrage heißt es noch: „Das Gesetz sieht kein Ausreiseverbot vor. Die requirierten Personen müssen aber sicherstellen, dass sie für die Aufgaben, für die sie angefordert wurden, anwesend sind.“ fgg
Der Krieg in der Ukraine, so waren sich viele Kommentatoren schnell einig, markiert eine Zeitenwende – schließlich sei das aktuelle Geschehen in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg praktisch unbekannt. Wie viel Vergessensarbeit man für eine solche Sichtweise leisten muss, hat die ZDF-Satireshow „Die Anstalt“ kürzlich gewohnt eloquent aufgezeigt.
Unbestreitbar ist die Schuld Russlands, den aktuellen Krieg begonnen zu haben und nun offensichtlich mit einer Schärfe zu führen, die praktisch alle Gebote der Menschlichkeit und Regeln der anerkannten Kriegsführung missachtet.
Dem daraus resultierenden Druck, in der Solidarität mit dem Angegriffenen vor allem kämpferisch zu denken, wird auch weit westlich der Ukraine im öffentlichen Diskurs mehr als nur zögernd nachgegeben. Die Friedensbewegung oder auch nur die vielfach gewachsene, eher skeptische Distanz zum eigenen Militär hat derzeit jedenfalls keinen leichten Stand. Beispielsweise wettert Ulf Poschardt in der Welt gegen die angebliche „Dekadenz“ der westlichen Gesellschaften und fordert: „Wir müssen wieder wehrhaft werden.“ „Der Diskurs brutalisiert sich“, stellen vorsichtigere Beobachter wie das Radio Bayern2 fest – und in der taz zeigt man sich „baff, wie abgeklärt wohlstandsverwahrloste Turnbeutelvergesser über Waffentechnik und deren Zerstörungspotenziale schwadronieren“.
Bewunderung statt nur Solidarität
Nicht nur für die grimmig-entschlossenen Anführer wie Wolodymyr Selenskyj oder die Klitschko-Brüder wird oft weit mehr als grundsätzliche Solidarität ausgedrückt, sondern regelrechte Bewunderung für ihre zupackende, offenbar todesverachtende Art. Das gilt auch für die ukrainische Bevölkerung, soweit sie sich „heldenhaft“ und unbeugsam dem Feind entgegenwirft – der wohl nicht nur selbst dachte, dass er doch haushoch überlegen sei und die Sache für ihn viel reibungsloser laufen würde.
Bilder und Clips von augenscheinlichen Zivilisten, teils hochbetagt, die hastig Molotowcocktails herstellen, mit Holzgewehren üben oder auch von praktisch unbewaffneten Mengen (oder sogar Einzelpersonen), die allein durch den unfassbaren Mut ihrer Entschlossenheit „Z“-Panzer zum Abdrehen bringen, avancierten schnell zu gern genutztem Material, ob in nüchternen Nachrichtenmagazinen oder den feixenden Kommentatoren der Late-Night-Shows.
Ob aber etwa unerfahrene, notdürftig bewaffnete Zivilisten sich wirklich einem Gegner entgegenstellen sollten, der anderswo bewiesen hat, dass er seine Angriffskraft rücksichtslos skalieren kann – diese Frage muss für das Narrativ der heldenhaften Entschlossenheit regelmäßig auf Seite treten. Wie generell die beunruhigende Frage, ob die behauptete Tapferkeit und Opferbereitschaft wirklich immer ganz freiwillig ist.
Für die Regierenden im angegriffenen Land wurden die Grenzen zwischen Soldaten und Zivilisten jedenfalls offenbar schnell fließend. „Wir werden jedem, der sein Land verteidigen will, Waffen geben“, erklärte Präsident Selenskyj am 24. Februar auf Twitter, während der ukrainische Innenminister Denys Monastyrskyj bei Telegram erklärte: „Heute ist der Moment, an dem jeder Ukrainer, der sein Zuhause beschützen kann, zur Waffe greifen muss.“
Grundrecht auf Verweigerung kaum verwirklicht
Um das Recht auf Kriegsdienstverweigerung, 1987 als allgemeines Menschenrecht anerkannt durch die Vollversammlung der Vereinten Nationen (UN), war es dabei in der Ukraine schon in der jüngeren Vergangenheit nicht gut bestellt, wie Beobachter erklären. So zählte etwa das „Europäische Büro für Kriegsdienstverweigerung“ im Report für 2021 die Ukraine zu den Staaten, die „kein sicherer Ort“ für Kriegsdienstverweigerer sind, weil diese dort „mit Verfolgung, Verhaftungen, Prozessen vor Militärgerichten, Gefängnisstrafen, Geldstrafen, Einschüchterung, Angriffen, Morddrohungen und Diskriminierung konfrontiert waren“.
Ein in der Ukraine prominent gewordenes Beispiel: Der (wegen früherer antisemitischer Äußerungen auch kontrovers betrachtete) Aktivist Ruslan Kozaba wurde 2016 in der Ukraine zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt: Während des Krieges in der Ostukraine hatte er sich medienwirksam für eine friedliche politische Lösung des Konflikts und gegen einen Militäreinsatz der ukrainischen Regierung engagiert. Amnesty International nannte ihn deshalb einen „politischen Gefangenen“. Als er im Juni 2021 mutmaßlich von ukrainischen Neonazis misshandelt wurde, verwiesen Medien auf die frühere Anklage wegen „Hochverrats“ – für den Kozaba aber gar nicht verurteilt wurde.
Rudi Friedrich vom deutschen Verein Connection, der sich international für Kriegsdienstverweigerer und Deserteure einsetzt, weist darauf hin, dass das ukrainische Parlament 2015 ein Gesetz verabschiedet habe, in dem „besonders scharfe Möglichkeiten festgelegt werden, wie die Armee auf Ungehorsam, Missachtung oder Ungehorsam gegenüber dem Befehlshaber, Gewaltanwendung und das Verlassen der Kampfposition reagieren kann“. Die Zeitschrift Newsweek interpretierte das Gesetz so, dass auf Deserteure oder Ungehorsame geschossen werden könne.
Vielstimmige Kritik
Und in eine entsprechende Situation kann ein (männlicher) Bürger der Ukraine schnell kommen – schließlich sind grundsätzlich alle Männer zwischen 18 und 27 wehrpflichtig – ohne das Recht einer vollständigen Verweigerung. Lediglich Angehörige zehn kleinerer religiöser Organisationen im Land können überhaupt einen Ersatzdienst leisten.
Die deutsche Menschenrechtsorganisation Pro Asyl stellte bei Betrachtung von Russland, Belarus und der Ukraine kürzlich fest: „In keinem der drei Länder wird das Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung in der Weise umgesetzt, wie es durch diverse internationale Gremien und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingefordert wird.“
Dabei hat die Ukraine, die über eine rund 200.000 Mann starke Armee verfügt (und etwa 300.000 Reservisten und Paramilitärs zählt) kurz nach dem Einmarsch der Russen den Zugriff auf weitere potenziell Wehrfähige durch eine andere, drastische Maßnahme gesichert: das weitgehende Verbot der Ausreise für Männer zwischen 18 und 60 Jahren. Die Videos von Männern, die sich an Bahnhöfen von verzweifelten Kindern verabschieden, werden auch im Ausland oft so kommentiert, dass Putins Krieg dazu zwinge. Dass auch die ukrainischen Grenzbeamten und eine eilig erlassene Verfügung im Rahmen des „Kriegsrechts“ den Individuen keine andere Wahl lassen, ist aber ebenfalls Teil der Wahrheit.
Ukrainian father saying goodbye to his daughter before he go to defend his country against the Russian invasion.#Ukraine pic.twitter.com/RQdItVPYxy
— Asaad Sam Hanna (@AsaadHannaa) February 24, 2022
Immerhin finden zwar etwa die Schicksale von „Transpersonen“ und von nicht-ukrainischen Flüchtlingen, die offenbar aus rassistischer Motivation am Verlassen des Landes gehindert werden, durchaus regelmäßig kritische mediale Beachtung. Das Eingesperrtsein von Männern, die nicht einer entsprechenden Minderheit angehören, wird aber weniger thematisiert. Das muss eigentlich erstaunen: Nicht nur immer stärkere Selbstbestimmtheit, sondern eben auch die Infragestellung von Geschlechterrollen ist in vielen europäischen Staaten schließlich nicht nur Gegenstand leidenschaftlicher Debatten, sondern drückt sich längst vielfältig in staatlichem Handeln aus.
„Relativ unproblematisch“
Prof. Dr. Robert Harmsen von der Universität Luxemburg ist, unter anderem, spezialisiert auf europäische Politik und Menschenrechte. Er findet den Zwang zum Dableiben und die Mobilmachung unter Kriegsrecht zunächst einmal „relativ unproblematisch“. Im Gespräch mit dem Tageblatt weist er darauf hin, dass die „Europäische Menschenrechtskonvention“ in Artikel 4 zwar das Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit erkläre – aber auch eine explizite Ausnahme für die Wehrpflicht. „Und auch in der internationalen Rechtsauffassung der Menschenrechte wird irgendeine Art der Wehrpflicht oder eines nationalen Hilfsdienstes allgemein als unproblematisch erkannt“, sagt Harmsen. Vergleiche man die Regeln in den europäischen Ländern, in denen es noch Formen der nationalen Wehrpflicht gibt, so handele es sich schließlich meist um reine Männerwehrpflichten – bei interessanten Ausnahmen, etwa in Schweden oder Norwegen.
Zur Frage einer möglicherweise diskriminierenden Ausgestaltung müsse man den menschenrechtlichen Grundsatz beachten, „dass jede Ungleichbehandlung objektiv gerechtfertigt und verhältnismäßig sein muss“. Ob das gegeben sei, so der Professor, sei also die entscheidende Frage.
Tatsächlich argumentiert, beispielsweise, die Schweiz, dass sowohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) als auch der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) in der Beschränkung der Militär- und Ersatzdienstpflicht auf Männer keinen Verstoß gegen das Prinzip der tatsächlichen Gleichstellung von Frau und Mann erkennen konnte.
„Die Auffassung der Menschenrechte ist international eher traditionell“, bilanziert Harmsen die Situation: Eine Evolution sei sicherlich denkbar – sowohl im Sinne des traditionellen Verständnisses von Geschlechtergleichheit als auch in dem eines nicht-binären Verständnisses. „Aber sowohl auf internationalen wie auf europäischen Ebenen ist es ganz klar noch nicht so weit“, meint der Professor.
Die russische Darstellung, die Ukraine missbrauche ihre Bevölkerung praktisch als menschliche Schutzschilde, wenn es einen Großteil an der Flucht hindere, ist für ihn scheinheilig: „Dieser Logik zufolge müsste es dann auch tatsächlich beachtete Fluchtkorridore geben, die Menschen ermöglichen, angegriffene Städte zu verlassen, was aber ganz offensichtlich nicht der Fall ist.“ Im Gegenteil gebe es ja auf russischer Seite „klare, regelmäßige Verstöße gegen Menschenrechte in jeder Definition – wie das massenhafte Angreifen von Zivilisten!“
„Ukraine auffordern, das Verbot aufzuheben“
Eine andere befragte Expertin hat andere Ansichten: „Das Ausreiseverbot verletzt das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Glaubensfreiheit. Dieses Recht schließt das Recht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen ein. Es wird durch den internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte und durch die Europäische Menschenrechtskonvention geschützt“, stellt Amy Maguire, außerordentliche Professorin für Menschenrechte und internationales Recht an der Universität Newcastle, auf Anfrage des Tageblatt fest.
Geduldiges Papier?
„Jeder hat das Recht, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen und in sein Land zurückzukehren.“
Artikel 13, Absatz 2, der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte
Außerdem trenne das Ausreiseverbot Familien und verweigere Kindern das Recht auf ein Familienleben. In einem Beitrag für das Online-Magazin The Conversation warnt sie zudem davor, dass das Verbot für die Ukraine auch zu einem Bumerang werden könne bei der internationalen Bewertung der russischen Aggression. Die Aufhebung des Verbots könne das Land jedenfalls vor dem Vorwurf bewahren, es würde die Zivilbevölkerung nicht schützen, wie es das humanitäre Völkerrecht verlangt. „Es ist eine Sache, Männer zum Militärdienst zu verpflichten und ihnen eine entsprechende Ausbildung und Ausrüstung zur Verfügung zu stellen“, heißt es in dem Artikel. „Eine ganz andere Sache ist es, Zivilisten daran zu hindern, aus einem Kriegsgebiet zu fliehen.“
Die Ukraine müsse dringend „die Rechtmäßigkeit ihrer eigenen Praxis im Auge behalten“. Es sei „rechtlich und ethisch falsch, Zivilisten zu zwingen, in der Gefahr zu bleiben, wenn sie die Möglichkeit und den Wunsch haben, zu fliehen“.
Sie „höre von jungen Männern in der Ukraine, die verzweifelt darauf hoffen, dass die internationale Gemeinschaft sich für sie einsetzt. Sie fragen mich, was getan werden kann, um sie in Sicherheit zu bringen“, erklärt Maguire – die sich in dieser Sache auch Engagement von Luxemburg vorstellen kann, das seit Anfang dieses Jahres im UN-Menschenrechtsrat sitzt. Das Land könne „die Ukraine auffordern, das Verbot aufzuheben“.
Amnesty International verschließt sich nicht völlig der Sichtweise, an der Flucht Gehinderte sogar indirekt als „menschliche Schutzschilde“ zu sehen. In einer auf Anfrage dem Tageblatt zugesandten Erklärung erinnert die Luxemburger Sektion daran, dass „diese Praxis [der menschlichen Schutzschilde, die Red.] ein Kriegsverbrechen darstellt, das unter das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs fällt“. Zwar erkenne die Menschenrechtsorganisation an, dass „die Grundrechte mit bestimmten staatsbürgerlichen Pflichten verbunden werden können“ – doch sie stellt auch fest: „Jede Person, die vor einem Konflikt flieht, hat das Recht, in anderen Ländern Sicherheit zu suchen, und hat das Recht auf Schutz ohne Diskriminierung. Die Konfliktparteien müssen alles in ihrer Macht Stehende tun, um das Leid der Zivilbevölkerung so gering wie möglich zu halten und vorrangig auf die humanitären Anliegen im Rahmen der Krise eingehen. Dazu sind sie sogar rechtlich verpflichtet.“
Verweigerer ohne langfristigen Schutz?
Derzeit genießen Flüchtlinge aus der Ukraine einen speziellen Schutzstatus in der EU, der, so der aktuelle Stand, drei Jahre gelten kann. Dafür ist auch kein Asylverfahren nötig – und das gilt ausnahmslos, also etwa auch für Menschen, die die Ukraine eigentlich nicht hätten verlassen dürfen.
„Das ist erfreulich“, stellt Rudi Friedrich vom Verein Connection zwar fest, macht sich aber dennoch Sorgen: Zwar habe der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Kriegsdienstverweigerung als Ausfluss der Gedanken‑, Gewissens- und Religionsfreiheit definiert, dies spiegele sich aber nach wie vor nicht im Flüchtlingsrecht wider: „Artikel 9 der Qualifikationsrichtlinie der Europäischen Union schließt einen grundsätzlichen Schutz für Kriegsdienstverweigerer faktisch aus und bezieht einen möglichen Schutzstatus allein auf die Verweigerung völkerrechtswidriger Handlungen und Kriege.“
Darum sei beim aktuellen Schutzstatus „zu bedenken, dass mit Auslaufen der Regelung die Frage relevant sein wird, ob und wie Kriegsdienstverweigerer in der Ukraine verfolgt werden“. Er ist der Ansicht, nicht nur Deutschland, sondern auch „alle anderen EU-Länder müssen diese Menschen, die vor dem Kriegseinsatz fliehen, unbürokratisch aufnehmen und ihnen ein dauerhaftes Bleiberecht ermöglichen“.
Eine schriftliche Anfrage zum Thema an den luxemburgischen Minister für auswärtige und europäische Angelegenheiten, Immigration und Asyl blieb unbeantwortet.
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Die Dummheit des Menschen ist unendlich, das zeigt sich immer wieder.