Luxemburg / Heiß geliebt, aber schlecht besucht: Wie es mit den Bibliotheken weitergeht
Letzten Freitag stellte Henning Marmulla die Bestandsaufnahme zur Bibliothekslandschaft in Luxemburg in der Nationalbibliothek vor. Wenige Tage später trifft er sich mit dem Tageblatt auf ein Gespräch über persönliche Eindrücke und die geplante Gesetzesreform.
Henning Marmulla, freier Lektor und Kulturberater, grüßt aus der Ferne, bevor er auf dem Gelände der Rotondes in Luxemburg-Stadt zum Interview Platz nimmt. Schon bald blickt Marmulla auf das Jahr 2023 zurück: Damals betraute das Kulturministerium ihn im Rahmen der „Assises sectorielles des bibliothèques“ mit der Bestandsaufnahme zu den luxemburgischen Bibliotheken, deren Ergebnisse seit letzter Woche in Auszügen vorliegen. Der gesamte Bericht soll Ende des Jahres erscheinen.
Er schrieb 81 Bibliotheken an, führte Interviews mit öffentlichen, spezialisierten und wissenschaftlichen Bibliotheken, mit Verbänden sowie dem Netzwerk bibnet.lu. „Ich bin dafür quer durchs Land gefahren“, erinnert er sich. Marmulla ist sichtlich begeistert, wenn über die Leidenschaft seiner Gesprächspartner*innen „für die Bibliotheken, das Buch und den sozialen Austausch“ spricht. „Alle brennen für das Thema“, sagt er.
Geringe Nutzung der Bibliotheken
Umso bedauerlicher sind für ihn die Resultate der „Enquête de lecture et bibliothèques 2023“ (Kulturministerium/Ilres), die im Rahmen der „Assises“ präsentiert wurden: Nur 25 Prozent der knapp tausend Befragten sind in einer Bibliothek eingeschrieben. Über die Gründe kann Marmulla nur mutmaßen, doch er geht davon aus, dass viele Menschen die zahlreichen Bibliotheken im Land gar nicht kennen „Viele Menschen sind sich nicht bewusst, wofür sie eine Bibliothek überhaupt nutzen können“, meint er. Im gleichen Atemzug erwähnt er die „Besitzkultur“ in Luxemburg: Hierzulande überwiege in vielen Bereichen das Bedürfnis, Dinge zu besitzen, statt sie auszuleihen. Dabei könnten Zeitungs- und Vielleser*innen durch die Nutzung von Bibliotheken Geld sparen – immerhin seien die Angebote öffentlicher Bibliotheken kostenlos. Neben der Zeitungslektüre und der Buchausleihe stünden den Besucher*innen weitere Dienste zur Verfügung, wie Computer oder Kulturevents.
Der Sektor fordert in den Bereichen mehr Autonomiefreier Lektor und Kulturberater
Wiederholt schlägt er den Bogen zur Passion der Bibliotheksangestellten, die sich trotz kleiner Budgets und Personalmangels um ein abwechslungsreiches Programm bemühen. Die Gespräche mit ihnen sollen im Schnitt bis zu drei Stunden gedauert haben, offenbart Marmulla: „Es besteht großer Redebedarf.“ Der betreffe vor allem die geplante Reform des Bibliotheksgesetzes von 2010: Letzteres regelt die Kriterien für die Definition öffentlicher Bibliotheken, die vom Kulturministerium mitfinanziert werden. Hierfür müssen die Bibliotheken derzeit strenge Kriterien erfüllen. Diese bringen mit sich, dass drei (in Schengen, Junglinster und Bonneweg) der 15 öffentlichen Bibliotheken in Luxemburg vor dem Gesetz nicht als solche gelten.
Administrative Hürden
Auf vehemente Kritik stoßen seit Jahren etwa Detailvorgaben zu den Öffnungszeiten und Regelungen zum Bestand. „Der Sektor fordert in den Bereichen mehr Autonomie“, weiß Marmulla. Bibliotheken, die vom Kulturministerium bezuschusst werden, müssen wöchentlich zwölf Stunden geöffnet sein – davon eine an einem Werktag zur Mittagsstunde (12 bis 14 Uhr) und eine Öffnung einmal in der Woche bis 19 Uhr sowie mindestens zwei Stunden am Samstag.
Das widerspricht teilweise den Bedürfnissen der Nutzer: Aus der zuvor erwähnten Studie geht hervor, dass Besucher*innen der Nationalbibliothek vorwiegend längere Öffnungszeiten an den Wochenenden (21 Prozent) bevorzugen, während solche des Luxembourg Learning Center die Bibliothek generell früher (12 Prozent) und länger (18 Prozent) besuchen wollen. „Die unterschiedlichen Bedürfnisse sind der beste Beweis, dass eine staatliche Vorschrift unsinnig ist“, schlussfolgert Marmulla.
Ähnlich verhalte es sich mit den Kriterien zum Bestand: Momentan schreibe das Gesetz unter anderem ein Gleichgewicht zwischen den drei Amtssprachen (L, D, F) vor. „Nun spielen in Vianden aber andere Sprachen eine Rolle als in Differdingen“, gibt Marmulla zu bedenken. Er verweist in dem Kontext erneut auf die Umfrage von Ilres und konkreter auf das Leseverhalten der Personen, die 2023 mindestens ein Buch gelesen haben. „Englisch spielt für sie eine große Rolle“, beobachtet er. 49 Prozent der Befragten lesen regelmäßig oder oft Bücher auf Englisch – damit landet Englisch hinter Französisch (59 Prozent) und Deutsch (56 Prozent) auf Platz drei der meistgelesenen Sprachen in Luxemburg. Dies deckt sich nur bedingt mit dem Angebot der öffentlichen Bibliotheken, die vom Kulturministerium unterstützt werden: Hier machen Werke in Sprachen, die von den Amtssprachen abweichen, also auch Englisch, im Schnitt sieben Prozent der Sammlung aus.
Politische Antworten
Die Regierung will den Forderungen aus dem Sektor nachkommen. Kulturminister Eric Thill (DP) versprach den Bibliotheken im Rahmen der „Assises“ die gewünschte Autonomie und eine Überarbeitung der Kriterien, um vom Kulturministerium bezuschusst zu werden. In dem Sinne soll das bestehende Gesetz auch für spezialisierte Fachbibliotheken geöffnet werden. Thill präsentierte letzte Woche viele weitere Überlegungen zur Förderung bestehender Bibliotheken. Auch stellte er eine Machbarkeitsstudie zur Einführung einer digitalen Bibliothekskarte in Aussicht, die für alle öffentlichen Bibliotheken gelten soll. Außerdem kündigte er eine Anpassung der Unterstützung an den Index an. Thill will bis Ende des Jahres einen Gesetzesentwurf zur Reform des Bibliotheksgesetzes vorlegen.
Marmulla reagiert derweil mit einem Lachen auf die Bitte, drei politische Prioritäten im Hinblick auf die Reform zu benennen: „Ich habe mehr als drei!“ Er begrüßt u.a. den Willen des Kulturministeriums, die Autonomie der Bibliotheken zu fördern sowie die Aufnahme von spezialisierten Fachbibliotheken ins neue Gesetz. Er erwähnt aber auch die Barrierefreiheit: „Die Bibliotheken müssen unbedingt bei ihrem Streben nach Barrierefreiheit unterstützt werden.“ Viele Häuser seien Menschen mit Behinderungen immer noch nicht zugänglich. „An der Stelle braucht es auch kommunalen Willen zur Umstrukturierung“, so Marmulla.
Sein eigenes Verhältnis zu Bibliotheken hat sich aufgrund der Arbeiten an der Bestandsaufnahme jedenfalls verändert. Früher lieh er sich gelegentlich Bücher in der Nationalbibliothek aus, heute kann er es kaum erwarten, in einer Bibliothek an seinem nächsten Projekt zu arbeiten: „Ich habe Bibliotheken als Arbeitsplatz und sozialen Ort entdeckt und werde in Zukunft weniger kaufen und mehr ausleihen.“
4 Fragen an Tamara Sondag, Leiterin der Escher Bibliothek
Tageblatt: Frau Sondag, welche Schlüsse ziehen Sie aus den „Assises sectorielles des bibliothèques“?
Tamara Sondag: Ich freue mich, dass der politische Fokus jetzt auf den Bibliotheken liegt. Die öffentliche Befragung von 2022 sowie die Bestandsaufnahme aus dem Sektor zeigen, dass Handlungsbedarf besteht: Luxemburg verfügt derzeit nur über zwölf öffentliche Bibliotheken, die vom Kulturministerium als solche anerkannt werden. Es besteht ein deutlicher Mangel im Norden, Osten und Westen des Landes.
Was sind die größten Herausforderungen für den Sektor?
Schauen wir uns zunächst an, welche Anforderungen das Publikum an eine Bibliothek des 21. Jahrhunderts stellt: Sie soll vor allem ein „tiers-lieu“ sein, der verschiedene Dienste wie Wi-Fi, ein Restaurant oder Café, Konferenzen, Ausstellungen, Lesungen, PCs und Arbeitsplätze anbietet. Das weicht von der aktuellen Realität im Sektor ab – die öffentlichen Bibliotheken haben oft weder die personalen und finanziellen noch die räumlichen Ressourcen, um diese Nachfrage zu befriedigen. Zum Teil sind Bibliotheken eine „One-Woman-Show“, abhängig von Freiwilligenarbeit. Hinzukommt, dass das aktuelle Gesetz beispielsweise keine Fachbibliotheken umfasst. Die Ankündigungen des Kulturministers Eric Thill zeigen, dass die Bedürfnisse des Sektors erkannt und verstanden wurden.
Was muss sich auf politischer Ebene am dringendsten ändern?
Der Sektor verlangt vor allem größere Flexibilität bei den Kriterien, nach denen eine Bibliothek vom Kulturministerium als öffentlich anerkannt wird. Dies käme nicht nur den Regionen und den Nutzer*innen zugute: Es würde die Unterstützung anderer Bibliothekstypen ermöglichen. Die finanzielle Bezuschussung ist wesentlich, damit sich Bibliotheken zeitgemäß weiterentwickeln und neue, regionale und lokale Bibliotheken gegründet werden können. In meinen Augen ist zudem die Professionalisierung des Sektors wichtig, um die Anzahl an qualifiziertem Personal in den Bibliotheken zu erhöhen und dem Nachwuchsmangel entgegenzuwirken.
Im Zuge der „Assises“ war die Rolle von Bibliotheken als sozialer Begegnungsort Thema. Die Escher Bibliothek geriet 2023 wegen einer Kinderbuchlesung der Drag-Künstlerin Tatta Tom in den sozialen Netzwerken in die Kritik. Wie beeinflusst das Ihren Arbeitsalltag?
Die Lesung „Tatta Tom liest vir“ ist einer von vielen Programmpunkten der Escher Bibliothek. Das Konzept besteht seit 2019: Es wird aus Kinderbüchern aus unserem Bestand vorgelesen, die sich an ein junges Publikum richten. Diese Werke handeln von Toleranz und Diversität – Werte, die wir als Bibliothek vertreten. Als Bibliothek der Stadt Esch, die „LGBTIQ+ Freedom Zone“ und Teil des „Rainbow Cities Network“ ist, sind wir außerdem seit Jahren Partnerorganisation der Luxembourg Pride und organisieren in diesem Rahmen Veranstaltungen. Wir stehen also zu unseren Werten und werden diese weitervermitteln, sowohl durch unsere Kollektion als auch durch unser Rahmenprogramm. Die jüngsten Attacken von Hatespeech gegen Tatta Tom zeigen umso mehr, dass Bibliotheken als Safe Space benötigt werden: Sie stehen allen offen, unabhängig vom Alter, der Herkunft, dem Geschlecht, der Religion, Nationalität, Sprache oder des sozialen Status.
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