Jahresbericht 2023 / Hilflos ausgeliefert? Über 1.000 Polizeieinsätze wegen häuslicher Gewalt in Luxemburg
Das Ministerium für Gleichstellung und Diversität präsentierte am Dienstag den Jahresbericht zu häuslicher Gewalt in Luxemburg, während Organisationen wie „La voix des survivant(e)s“ Missstände im Umgang mit den Betroffenen aufdecken.
„La violence domestique est une réalité au Luxembourg“, schreibt Yuriko Backes, Ministerin für Gleichstellung und Diversität, im aktuellen Jahresbericht des „Comité de coopération entre les professionnels dans le domaine de la lutte contre la violence“*. Das bestätigen die Zahlen der zuständigen Autoritäten, die am Dienstag vorgestellt wurden und sogar eine steigende Tendenz dokumentieren.
So schritt die Polizei 2023 öfter wegen häuslicher Gewalt ein, als noch im Vorjahr: Die Beamt*innen waren 1.057 Mal im Einsatz, was einem Anstieg von rund 8 Prozent entspricht. Die Zahl der Tatverdächtigen wuchs ebenfalls um 11 Prozent. Unverändert bleibt hingegen deren Geschlecht: Der Großteil sind nach wie vor Männer (67 Prozent), während die Leidtragenden vorwiegend Frauen (60 Prozent) sind. Die Altersgruppen zwischen 30 und 45 Jahren sind am stärksten von häuslicher Gewalt betroffen (36 Prozent der Leidtragenden; 49 Prozent der Tatverdächtigen). Die Einsatzkräfte wurden vor allem wegen Schlägen und Verletzungen alarmiert, die keine Arbeitsunfähigkeit zur Folge hatten (34 Prozent). Das zweithäufigste Motiv: Todesdrohungen (13 Prozent).
Nimmt häusliche Gewalt in Luxemburg also zu oder wird sie nur sichtbarer? Im Jahresbericht heißt es, die wachsenden Polizeieinsätze seien einem erhöhten Bewusstsein für das Thema, Informations- und Sensibilisierungskampagnen zu verdanken. Ein Argument, das mit Vorsicht zu genießen ist: Nach Zahlen des Statec (2022) suchten in der Vergangenheit nur 9 Prozent der Betroffenen physischer, psychologischer oder sexualisierter Gewalt Hilfe bei der Polizei – meistens, weil sie ihre Erfahrung als „pas assez grave“ einstuften oder die Kontaktaufnahme als sinnlos erachteten.
Ausbleibende Konsequenzen
Diese Befürchtung scheint sich teilweise zu bewahrheiten: Die Polizeieinsätze nehmen zu, doch die Platzverweise, die gegen die Tatverdächtigen verhängt werden, nicht. 2023 wurden 246 Wegweisungen ausgesprochen; 2014 waren es noch 327. Eine Erklärung hierfür liefert der Jahresbericht nicht, stattdessen vermittelt er folgende Information: „Les interventions policières en matière de violence domestique ne donnent pas systématiquement lieu à une expulsion.“
Dies stellt die Beratungsstelle für Verurteilte und Tatverdächtige, Riicht Eraus, laut Jahresbericht vor große Herausforderungen: „Un souci majeur du service reste celui des expulsions multiples (récidives) et des interventions policières répétitives ne menant pas à une expulsion.“ 30 Prozent der Personen, die Riicht Eraus nach ihrem ersten Platzverweis betreute, waren der Polizei bereits bekannt.
Kommt es nicht zum Platzverweis, stellt die Polizei dem Haushalt theoretisch einen Bericht aus, der ihren Einsatz belegt und die Betroffenen zur Eigeninitiative aufruft – „en recherchant de l’aide auprès des services d’assistance aux victimes et les services prenant en charge les auteurs“. Unter den Tatverdächtigen zeigt das wenig Wirkung: 2023 baten lediglich 21 Prozent davon Riicht Eraus um Hilfe. Dabei handelt es sich tendenziell eher um Frauen, die häusliche Gewalt ausüben. Insgesamt machten sie letztes Jahr jedoch lediglich 13 Prozent der Personen aus, die Riicht Eraus begleitete.
Wirkt der Appell an traumatisierte Familien ohnehin befremdlich, erreichen diese Informationen noch dazu nicht alle betroffenen Haushalte. Das geht aus einem Dokument der Organisation „La voix des survivant(e)s“ hervor. „Beaucoup de victimes ne reçoivent pas de rapport d’intervention ou même pas de numéro de rapport suite à l’intervention de la police“, ist dort nachzulesen. Ana Pinto, Präsidentin der LVDS, verwies das Tageblatt auf diese öffentlichen Dokumente, als es um eine Stellungnahme zum Jahresbericht bat. Die Dateien enthalten Forderungen der Organisation sowie Berichte über Zusammentreffen mit unterschiedlichen Ministerien, bei denen die Missstände im Umgang mit den Leidtragenden häuslicher Gewalt offen thematisiert wurden.
Das oben erwähnte Zitat entstammt beispielsweise einem Treffen mit Innenminister Léon Gloden (CSV) im März: Dort teilte die Organisation unter anderem Erfahrungen der Betroffenen im Kontakt mit der Polizei. Die Attitüde der Einsatzkräfte kommt zur Sprache. Die Leidtragenden berichten von dem „sentiment que la police n’expulse pas car ça lui permet de ne pas faire de rapport“ oder davon, nicht ernst genommen und zum Verzicht auf eine Anklage ermutigt zu werden. Es ist von einem Mangel an Empathie die Rede, vereinzelt sogar von der Solidarisierung mit den Tatverdächtigen. „Énormément de policiers préfèrent dire aux victimes de revenir le lendemain car dans la plupart des cas, ils savent qu’elles ne reviennent pas“, so eine weitere Aussage.
Die Liste der LVDS, die negative Erfahrungen mit der Polizei beschreibt, ist lang. Aus dem Grund fordert die Organisation, in die Ausbildung der Polizeikräfte – diese sieht grundsätzlich Schulungen zum Umgang mit Betroffenen häuslicher und sexualisierter Gewalt vor – und in das „Comité de coopération“ eingebunden zu werden. Beides wurde bis dato nicht umgesetzt. „Le manque de moyens dédiés par la police à ces violences se répercute directement sur leur traitement judiciaire“, schlussfolgert die Organisation.
Der Jahresbericht des „Comité de coopération“ liefert auch hierzu Zahlen: 2023 wurden die Bezirksgerichte in Luxemburg-Stadt und in Diekirch mit 1.592 Dossiers betraut und fällten 185 Urteile zu häuslicher Gewalt. Darüber hinaus verzeichnete die Staatsanwaltschaft drei Morde, die zum derzeitigen Stand der Ermittlungen mit häuslicher Gewalt in Verbindung stehen könnten. In zwei Fällen waren die Opfer und die Schuldigen verheiratet; in dem anderen Fall handelte es sich um ein Eltern-Kind-Verhältnis. Allgemein findet häusliche Gewalt zu 75 Prozent innerhalb romantischer oder ehemals intimer Beziehungen statt.
Leere Versprechen?
Yuriko Backes verspricht in dem Jahresbericht und der entsprechenden Pressemitteilung einen Drei-Punkte-Plan, um häuslicher Gewalt entgegenzuwirken: die obligatorische Begleitung der Gewalttäter*innen durch die Beratungsstelle „Riicht Eraus“ und die Bestrafung all jener, die dagegen verstoßen; die Einrichtung einer Auffangstruktur, die 24/7 die allumfassende Unterstützung der Betroffenen garantieren sowie deren Re-Traumatisierung verhindern soll; die Ausarbeitung des ersten nationalen Aktionsplans gegen geschlechtsspezifische Gewalt. „Soyez rassuré que nous continuons à œuvrer ensemble pour une société sans violence par le biais d’un meilleur encadrement professionnel de personnes concernées par la violence domestique“, betont die Ministerin außerdem. „Cette lutte est une priorité pour moi et le gouvernement entier.“ Sie versichert eine „tolérance zéro“ im Hinblick auf jede Gewaltform.
Wie ernst es die gesamte Regierung mit dem Kampf gegen häusliche Gewalt meint, wird sich zeigen. Die LVDS verweist in dem Zusammenhang jedenfalls zu Recht auf die erste Rede zur Lage der Nation von Premierminister Luc Frieden (CSV): „Bei der Rede zur Lage der Nation wurde die häusliche Gewalt gegen Frauen, Männer und Kinder mit keinem Wort erwähnt.“ Die Organisation ist enttäuscht, auch wenn sie Verständnis dafür aufbringt, dass in der Ansprache nicht jedes Thema Platz finden kann. „Es wäre jedoch wichtig gewesen, das Thema zu erwähnen und klarzustellen, dass die Regierung diesbezüglich eine Null-Toleranz-Strategie verfolgt.“
* In dem Komitee vertreten sind: Ministerium für Gleichstellung und Diversität, Justizministerium, Innenministerium, Polizei, Bezirksgerichte Luxemburg-Stadt und Diekirch, Service d’assistance aux victimes de violence domestique (SAVVD und PSYea), Service d’aide aux auteurs de violence domestique Riicht Eraus.
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