Gedichtband / Himmlische Literatur: Steffen Menschings „In der Brandung des Traums“ gruppiert viele berührende Texte
Mit dem Gedichtband „In der Brandung des Traums“ beweist der Intendant und Schriftsteller Steffen Mensching ebenso viel Gefühl für das Geschichtliche und historisch Wichtige als für banale Alltagsbegebenheiten – und das durch sie zusammengeflickte Wesen Mensch. Gedeihen tun seine lyrischen Bilder durch die einfache, nicht-experimentelle Sprache des Autors.
Wie Prosa, nur schöner. Eleganter, kompakter, frei vom Zwang, eine Storyline zu entwerfen und ihr Abschnitt für Abschnitt folgen zu müssen. Und doch beschreibend, berichtend, schildernd. So lassen sich Steffen Menschings Gedichte in „In der Brandung des Traums“ beschreiben. Der 1958 in Berlin-Lichtenberg geborene Theaterdirektor nimmt in seinen Texten einen erzählenden Gestus an, zeilenweise spannt er kleine und große Geschichten auf, stellt scheinbar triviale Szenen des Alltags oder auch geschichtsträchtige Momente in den Mittelpunkt des lyrischen Geschehens.
Am Ende des Texts wartet auf den Leser oft eine Überraschung, ganz so, als ob Mensching mit genau bemessenem Tempo, dramaturgischem Gespür für den Inhalt und präzis ausgewählter Sprache eine Verpackung auseinandergefaltet hätte, und nun läge in deren Mitte ganz unverborgen ein nicht vorausgeahnter Kern: Eine frappante Wendung, eine lakonische Schlussbemerkung, ein zerbrechliches Bild, mal wie mit verschmitztem Lächeln oder zarter Umarmung mitgeteilt. „Hier, nimm das mit“, scheint der Autor damit sagen zu wollen, bevor er den Leser ins unbestimmte Weiß nach Schlusspunkt des Gedichts entlässt. Auf dass er den finalen Gedanken vielleicht genau dorthin wieder mitnimmt, wo dieser seinen Ursprung hat: in Begegnungen mit anderen Menschen.
Die Frage, was uns ausmacht
Menschings Lyrik bricht kaum mit syntaktischen Strukturen oder grammatikalischen Regeln, sie streift umher im Gehege der gewöhnlichen, prosaischen Sprache. Gewöhnlich sind seine Texte jedoch nicht, oft sind es die originellen Perspektivwechsel oder der genaue empathische Blick auf Menschen oder Lebewesen unterschiedlicher Herkunft, die den Gedichten etwas Frisches, manchmal auch Unerhörtes verleihen. In „Himmlische Botschaft“ wendet sich das lyrische Ich mit einer Apostrophe an Außerirdische, die es für vielleicht oder gar wahrscheinlich „vernunftbegabt“ hält. Durchdekliniert wird die Frage, was passiert, wenn den extraterrestrischen Kreaturen die Voyager Golden Records in die Hände (oder vielleicht Tentakel?) fallen. Diese beiden, 1977 in den Weltraum geschickten goldenen Platten, die von einem Forscherteam unter der Leitung von Dr. Carl Sagan entworfen wurden, enthalten Datenmaterial über „den ganzen prallen Alltag der Erde“.
Meisterhaft gelingt es Mensching nun, den Blauen Planeten aus der Sicht der Aliens, für die wir ebenfalls Fremde sind, wieder in den Blick zu nehmen. Er schreibt: „[I]hr / werdet gerührt sein, […] / weil wir im Gegensatz zu euch nachweislich / im Gleichgewicht leben, das heißt, ohne Angst, Mangel[…].“ Dass die Außerirdischen nach der Entschlüsselung der Platten womöglich glauben, dass alle Erdbewohner in Glück schwimmen, ist verständlich. Immerhin hat nichts von den Problemen unserer Zeit oder auch den dunklen Phasen der Menschheitsgeschichte seinen Weg auf die Records gefunden. Mit der perspektivischen Verkehrung legt Mensching schlagartig offen, wie sehr der Mensch dazu neigt, gegenwärtige und vergangene Tragödien durch Auslassungen wegzuwischen. So eröffnet er den Diskurs darüber, was denn noch auf Sagans Platten hätte Platz finden können oder sollen – welche Unglücksfälle, Fehlschläge und Grauen ebenfalls zum Erbe der menschlichen Rasse gehören.
Fotografien in Versform
„Himmlische Botschaft“ ist nicht der einzige Text, der beeindruckt. In „Die kleine Frau Müller von der Pforte“ zählt Mensching eine Reihe von Personen auf, bis er in den letzten zwei Versen bekannt gibt: „Man ist angekommen / in einer Stadt, wenn man dort Tote wohnen hat.“ Dieser Satz verweist auf die schmerzlichen, schwer zu ertragenden Aspekte dessen, was wir als Heimat oder Zuhause bezeichnen. Woran machen wir unsere geografische Zugehörigkeit fest? Vielleicht auch an den dort erlittenen Verlusten, an den Bindungen zu Menschen, die dort einmal gelebt haben.
„In der Brandung des Traums“ ist ein zugänglicher wie bewegender Gedichtband, der einige wunderbare Texte beinhaltet. Sie gleichen literarischen Lichtbildern, wobei jedes in ganz eigenen Farben leuchtet. Insofern sei die Lektüre jedem ans Herz gelegt, der nicht nur etwas für himmlische Botschaften, sondern auch für himmlische Literatur übrig hat.
Info
Steffen Mensching: „In der Brandung des Traums“, Gedichte, Wallstein Verlag, Göttingen, 2021, 104 Seiten, 20 Euro
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