Analyse / Houston, wir haben ein Poem – Zur Debatte um die Forderung eines „Parlamentspoeten“
Drei Autoren haben in einem Artikel in der „Süddeutschen Zeitung“ für die Installierung eines „Parlamentspoeten“ im Deutschen Bundestag plädiert – und mussten in Folge sehr viel Kritik einstecken. Bei der Debatte wurde ein wichtiger Punkt bisher aber gar nicht berücksichtigt. Eine Analyse.
Wann kann man sich sicher sein, dass etwas so weit ins öffentliche Bewusstsein vorgedrungen ist, dass es eine gesellschaftliche Relevanz besitzt? Natürlich, wenn es dazu einen Wikipedia-Artikel gibt. Man danke den emsigen Autoren, die stets um die Vervollständigung der Online-Enzyklopädie und die Erweiterung des menschlichen Kenntnisstands bemüht sind. Es ist nun auch ihr Verdienst, dass es seit kurzem einen Eintrag zu „Parlamentspoet“ gibt. Seit dem 3. Januar geistert dieser Begriff durch die deutschen Medien und steht mittlerweile im Zentrum einer handfesten Debatte, die weit mehr als ein Sturm im Wasserglas oder auch eine Detonation in der verschrobenen Intellektuellenblase ist. Hier schalten sich viele verschiedene Parteien ein: Schriftsteller, Journalisten, Politiker und Menschen, die nichts von all dem sind, sich aber trotzdem zu Wort melden möchten. Worum geht es?
Anfang des Jahres veröffentlichten die Autoren Mithu Sanyal, Dmitrij Kapitelman und Simone Buchholz den Gastbeitrag „Dichterin gesucht“ in der Süddeutschen Zeitung (SZ). Ihre Forderung: Der Bundestag solle eine Parlamentspoetin oder einen Parlamentspoeten bekommen. Dahinter steht der Wunsch, die „Politik poetischer“ und die „Poesie politischer“ zu machen. Durch den Parlamentspoeten solle ein „diskursive[r] Raum zwischen Parlament und lebendiger Sprache“ geöffnet werden. Die Person, die das Amt fortan bekleide, hätte dementsprechend verschiedene Aufgaben zu erfüllen. Ihre Tätigkeit solle „als Irritation, als Störfaktor“ dienen, aber auch „Brücken bauen“, „Risse in unserer Gesellschaft heilen“. Dem Dichter obliege es, „parlamentarische Diskurse, politische Debatten und Strömungen“ in Texte zu gießen und „die sinnliche Welt des Fühlens, Sehens, Schmeckens, Metaphernfindens, der Synästhesie in den Bundestag“ zu bringen. Zugegeben: Hier kommt sehr viel zusammen, aber bleiben wir zunächst bei den Fakten.
In anderen Ländern schon Tradition
Als Vorbild dient den Artikelschreibern das Amt des „Canadian Parliamentary Poet Laureate“. Dieses wird vom kanadischen Parlament im Zwei-Jahres-Rhythmus abwechselnd an einen englischsprachigen und einen französischsprachigen Poeten vergeben. Im Augenblick ist die indigene Dichterin und Sozialarbeiterin Louise Bernice Halfe für die Volksvertreter in Ottawa tätig. Laut offizieller Website ist sie u.a. dazu verpflichtet, Gedichte zu schreiben, insbesondere für „wichtige Anlässe“ im Parlament, sich um das Sponsoring von Lesungen zu kümmern und den Parlamentsbibliothekar hinsichtlich des aktuellen Bücherbestands und eventueller Neuanschaffungen zu beraten.
Sanyal, Kapitelman und Buchholz haben sich bei ihrer Forderung auch von zwei anderen Ämtern inspirieren lassen: dem des „Poet Laureate“ und dem des „National Youth Poet Laureate“ im Vereinigten Königreich und/oder den USA. Die berühmteste Vertreterin des letzteren ist wohl die 23-jährige Amanda Gorman, die bei der Amtseinführung des aktuellen US-Präsidenten Joe Biden ein Gedicht vorlas und deren Bild auch den SZ-Artikel ziert. In allen Fällen handelt es sich um einen durch den Staat ausgezeichneten Dichter, wobei es nationale Unterschiede gibt, was seine genaue Funktion betrifft.
Gegenreaktionen folgten prompt
Was all das grundsätzlich zeigt: Der Ruf nach einem Parlamentspoeten erschallt nicht plötzlich aus den Tiefsten eines Elfenbeinturms, in dem bis dato ein politisches Vakuum herrschte, sondern stützt sich auf eine Tradition, die in anderen Ländern schon lange Bestand hat. Wie man gleichzeitig erkennen kann, wenn man sich durch die Kolumnen und Zeitungskommentare der vergangenen Wochen gräbt, bewahrte das die Autoren jedoch nicht vor spöttischen Reaktionen und einer weitgefächerten, teils polemischen, aber auch fundierten Kritik, die auf ihre Veröffentlichung folgte.
Die wesentlichen Punkte der Gegenseite: Mit den oben genannten Forderungen lade man der Poesie zu viel auf, gleichzeitig bliebe die von den Autoren entworfene Vision schwammig – wie das alles in seiner genauen Umsetzung aussähe, könnten sie selbst nicht sagen. Auch sei das anvisierte Bündnis zwischen Dichtkunst und Politik ein problematisches, immerhin würde hier erstere in den Dienst der zweiteren gestellt werden. Kritiker, die diesen Punkt stark machen, sprechen von „Minnesang im Bundestag“, FDP-Politiker Wolfgang Kubicki nennt es ein „elitäres Projekt“, denn: „Künstler sollen eigentlich Stachel im Fleisch der Herrschenden sein, nicht deren Angestellte“.
Das Risiko von Schmeichelreden
Die Gefahr bestünde also, um es mit anderen Worten zu sagen, dass es plötzlich hieße: „Wes brot ich ess, des lied ich sing“. Das verhielte sich konträr zu dem, was Günter Eich schon 1950 in seinem berühmten Gedicht „Wacht auf“ sagt: „Tut das Unnütze, singt die Lieder, die man aus eurem Mund nicht erwartet! / Seid unbequem, seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt!“ Dass Eich hier das aufrührerische Element der Literatur an ihr Unnütz-Sein, also an ihr grundsätzliches Nein, sich für einen konkreten Zweck vereinnahmen zu lassen, knüpft – geschenkt. So weit gehen die skeptischen Kommentarschreiber nicht, doch in ihrem Einwurf steckt ein ähnlicher Kern. Ihre Sorge: Die Widerhaken spitzzüngiger Verse drohten durch eine Verschwisterung von Poesie und Politik, in der es ein klares, ökonomisches und institutionell verankertes Machtverhältnis gibt, zu verschwinden. Die Werke des Parlamentspoeten verkämen so vielleicht zur reinen Panegyrik, zum propagandistischen Herrscherlob.
Dabei bleiben die Kritiker misstrauisch gegenüber der Aussage von Sanyal, Kapitelman und Buchholz, die Arbeiten des Parlamentspoeten sollten eben gerade provozieren, zum Nachdenken anregen und vor allem das politische Tagesgeschehen gegen den Strich bürsten: „Sich zum Beispiel zwei Jahre lang nur mit Rüstungslobbyismus beschäftigt – und der Bundestag muss das aushalten. Oder eine junge türkischstämmige Rapperin übernimmt das Amt“, schreiben sie in der SZ. Welche genauen Ergebnisse das zeitigen soll, lassen sie offen.
Über etwas wurde bisher nicht geredet
Jetzt mag man sich fragen: Was macht man mit dieser Diskussion, die in den ersten Januarwochen so viel Staub aufgewirbelt hat? Nun, lassen wir einmal die Pro- und Kontra-Argumente außen vor, denn sie bringen uns nicht weiter. Das Dafür und Dagegen wurden zur Genüge gegeneinander abgewogen; die anfängliche Forderung des Dreigestirns ist interessant, vor allem ambitioniert, aber auch in ihrer Konzeption unausgereift und auch – bedenkt man, was sie von der Dichtung fordern – unrealistisch. Das wurde noch und nöcher angemerkt.
Vielleicht lohnt es sich deswegen, ein Schlaglicht auf einen anderen Aspekt zu werfen. Anfang 2021 sagte Gorman: „Ich lerne gerade, dass ich nicht der Blitz bin, der einmal einschlägt. Ich bin der Orkan, der jedes Jahr kommt, und ihr könnt davon ausgehen, dass ihr mich bald wiedersehen werdet.“ Wie man sieht, sollte sie Recht behalten. Denn jetzt, ein Jahr nach der Amtseinführung Joe Bidens (20. Januar 2021), ist sie wieder zu sehen: als Foto-Motiv und symbolische Galionsfigur in einer öffentlichen Debatte, in der es nicht nur um die Frage geht, ob Deutschland einen Parlamentspoeten braucht, sondern auch darum, welche gesellschaftliche Rolle der Literatur und ja, besonders auch der Lyrik, zukommt. Denn sie, die Poesie, führt als Gattung schon lange ein Schattendasein.
Amanda Gorman als Symbol
Der erste Auftritt der jungen Afroamerikanerin änderte das nicht direkt, doch löste er nachhaltig etwas aus. Warum? Erstens zeigte er, welche Wirkmacht Lyrik entfalten kann, wenn sie in einen zeremoniellen Rahmen eingebettet und dadurch gesellschaftlich legitimiert sowie als hohe Kunstform zelebriert wird. Zweitens wurde der Poesie durch Amanda Gorman, die nach ihrem Vortrag bei einer renommierten Modelagentur unter Vertrag genommen wurde, ein persönliches Gesicht gegeben.
Mit diesem können sich einerseits all jene identifizieren, die aufgrund ihres Geschlechts, ihrer Hautfarbe oder auch eines anderen Merkmals diskriminiert werden und andererseits dient es, da es gängigen ästhetischen Idealen entspricht, als Projektionsfläche für all jene, die sich ein wenig im Glanz von aparter Jugendlichkeit sonnen wollen. Diese Verschränkung des Schmerzlichen mit dem Schönen, des Verwundeten und Unterdrückten mit dem Vitalen und Selbstbewussten, das Gorman (man denke an ihr sattgelbes Outfit) ausstrahlt, hat nicht nur einen bleibenden Eindruck hinterlassen, sondern auch der von ihr gewählten Ausdrucksform – dem lyrischen Sprechen – wieder den Nimbus des Mysteriös-Ruhmvollen verliehen. Gorman made poetry great again. Nun, nach einjähriger Inkubationszeit, den Aufwind des Neujahrs nutzend und kurz nachdem auch die junge Frau ihr aktuelles Werk „Call Us What We Carry“ veröffentlicht hat, heißt es in Deutschland: Wir brauchen einen Parlamentspoeten.
Vielleicht die falsche Baustelle
Aber ist das so? Denn – und das haben die Diskussionsteilnehmer bisher außer Acht gelassen – wer würde denn die Erzeugnisse des Poeten lesen und rezipieren? Würden die Texte in der Gesellschaft einen lauten Widerhall erzeugen? Oder vielleicht eine andere Frage: Kennt irgendjemand noch ein Bild, einen Ausdruck, eine Zeile aus Gormans „The Hill We Glimb“? Denn auch wenn die afroamerikanische Poetin der Dichtkunst wieder zu mehr Prestige verholfen hat, eine lebendige Lesekultur, die spezifisch auf diese Gattung gemünzt ist, existiert zurzeit nicht. Unter den drei Autoren, auf die die Idee eines Parlamentspoeten zurückgeht, ist nicht einmal jemand dabei, der selbst Lyrik schreibt. Und als Jan Wagner es mit seiner Anthologie „Regentonnenvariationen“ vor sieben Jahren auf die Spiegel-Bestseller schaffte, hieß es in einer Rezension des gleichen Mediums: „Wir beantworten die entscheidende Frage: Und das soll ich lesen?“ Solche Aussagen sprechen (Gedicht-)Bände.
Die Forderung nach einem Parlamentspoeten sollte man als Lyrik- und Literaturliebhaber gutheißen, weil sie offenbart, dass eine Entwicklung in Gang gesetzt wurde; dass es ein Bedürfnis nach einer reflektierten und gesellschaftlich relevanten Poesie gibt, welche die Dichotomie von Dichtung und Wahrheit (für Goethes Biografie lässt man das gelten) unterläuft – weil die Dichtung vielleicht manchmal näher an der Wahrheit dran ist als die prosaische Sprache oder auch das Politikersprech. Es ist aber verfrüht, nach einem solchen Amt zu fragen, wenn sich die Lese- und Rezeptionsgewohnheiten der breiten Öffentlichkeit zuerst ändern müssten und ein spezielles Finetuning bräuchten, um das Gesprochene und Geschriebene eines solchen Dichters angemessen aufnehmen zu können. Vielleicht sollte man, wenn man etwas zum Wandel beitragen wollte, da ansetzen und etwaige Kunstformen und Leseformate speziell fördern. Damit schürte man das allgemeine Interesse an der Lyrik – und womöglich bedürfte es dann gar keiner Parlamentspoeten mehr.
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Langsam wird es aber wirklich surreal.