Luxemburg / Hürden im Alltag einer Frau mit Sehbehinderung: „Das muss nicht sein“
Stolperfallen, Orientierungslosigkeit und der fehlende Zugang zu wichtigen Informationen: Dinge, mit denen Colette Schmitz aus Düdelingen tagtäglich konfrontiert ist. Denn seit rund 20 Jahren lebt sie mit einem Sehhandicap und findet, dass viele Hürden des Alltags aus dem Weg geschafft werden könnten. Zum Internationalen Tag der Menschen mit Behinderung hat sie mit dem Tageblatt darüber gesprochen.
An einem regnerischen Vormittag im Dezember steht Colette Schmitz vor dem Hauseingang zu ihrer Wohnung in Düdelingen. Ein Mann, der in dem Wohngebäude Arbeiten erledigt hat, nähert sich von hinten. Darauf hingewiesen, tritt die 66-Jährige einen Schritt zur Seite – und stößt mit dem Mann zusammen. Denn sie hat ihn nicht gesehen, konnte es auch nicht. Colette Schmitz lebt nämlich mit einer Sehbehinderung. Vor rund 20 Jahren wurde bei ihr die genetisch bedingte Augenkrankheit Retinitis Pigmentosa diagnostiziert.
Wegen der Krankheit hat sich ihr Sichtfeld auf unter fünf Grad reduziert. Zwischen 160 und 180 Grad seien es bei einem gesunden Menschen. „Ich aber sehe alles wie durch einen sehr kleinen Tunnel, noch dazu sehr verschwommen. Gesichter erkenne ich nur, wenn man wirklich ganz nahe vor mir steht. In Düdelingen bin ich schon mal meinem Mann begegnet, ohne ihn zu erkennen“, erklärt die Rentnerin, die bis zu ihrer Pension als Büroangestellte gearbeitet hat.
Ungewisse Zukunft
Als Colette Schmitz Anfang der 90er Jahre von der Heidelberger Uniklinik ihre Diagnose erhielt, lag ihr Blickfeld noch bei 10 Prozent. Ihre Krankheit kann in der vollständigen Erblindung enden. „Es ist wie eine Lotterie: In zwei Monaten könnte ich blind sein, es kann aber auch sein, dass es noch fünf Jahre so wie jetzt weitergeht“, erklärt die 66-Jährige gefasst. In der Dunkelheit aber ist Colette Schmitz vollständig blind. Sie sieht dann gar nichts mehr, erkennt auch keine Umrisse.
Damit ist Colette Schmitz eine von zahlreichen Menschen, die in Luxemburg mit einem Handicap leben: Sie können nicht beziehungsweise fast nicht sehen oder hören, sitzen im Rollstuhl oder leben mit einer mentalen Beeinträchtigung. Auf die Bedürfnisse der Betroffenen wird am heutigen Internationalen Tag der Menschen mit Behinderung aufmerksam gemacht. Wie viele es im Großherzogtum sind, ist derzeit nur zum Teil erfasst. So weiß man beispielsweise, dass laut aktuellen Zahlen Ende Oktober insgesamt 1.196 Personen bei der Arbeitsagentur ADEM als Arbeitnehmer mit Handicap gemeldet waren. Hinzu kommen 298 Arbeitnehmer mit Handicap und zudem eingeschränkter Arbeitsfähigkeit.
Mehr Barrierefreiheit für Luxemburg
Einen Tag vor dem Internationalen Tag der Menschen mit Handicap wurde in der Luxemburger Chamber ein Gesetzesprojekt zur Barrierefreiheit im öffentlichen Raum und in Wohngebäuden gestimmt. Unter anderem Gemeinden, Restaurants, Kirchen und eben Komplexe mit mehreren Wohneinheiten sollen demnach unter anderem durch breitere Türen, niedrig angebrachte Lichtschalter oder Rampen für jeden zugänglich werden. Das soll nicht nur Menschen mit einem Handicap den Alltag erleichtern, sondern auch älteren Personen oder Menschen, die beispielsweise mit einem Kinderwagen unterwegs sind.
Einen allumfassenden Überblick zu der Anzahl der Betroffenen im Großherzogtum gibt es nicht – noch nicht. Denn bei der aktuellen Volkszählung werden zum ersten Mal auch Fragen zum Thema Handicap gestellt. Zudem sollen bei einer nationalen Umfrage laut Familien- und Integrationsministerium voraussichtlich Anfang 2022 Daten zu den Bedürfnissen und der allgemeinen Situation von Menschen mit einem Handicap erhoben werden. So wolle man laut Ministerium unter anderem herausfinden, woran es in Luxemburg mit Blick auf die Chancengleichheit eventuell fehle.
Alltägliche Hürden
Dass Menschen mit einem Handicap in ihrem Alltag mit vielen Hürden zu kämpfen haben, merkt man schon nach nur wenigen Minuten an der Seite von Colette Schmitz. Denn als die 66-Jährige an einem Dezembervormittag von ihrem Hauseingang in die Düdelinger Avenue Grande-Duchesse Charlotte abbiegen will, stolpert sie beinahe: Mitten auf dem Boden liegt ein achtlos abgelegter Karton. Colette Schmitz tastet den Gehweg vor sich zwar stets mit ihrem weißen Blindenstock ab; die Pappbox auf dem Gehweg ist ihr dabei aber entgangen.
Es sind aber ganz andere Dinge, die die 66-Jährige wütend machen, wenn sie sich beispielsweise zu Fuß zum nur etwa zehn Meter weit entfernten Bankschalter begeben will. „Erst vor ein paar Jahren wurde hier alles erneuert, doch es fehlen richtige Leitlinien“, bemängelt die ansonsten stets positiv wirkende Frau, während sie auf die neue „Shared Space“-Zone in der Avenue Grande-Duchesse Charlotte blickt. Entlang der Eingänge zu den Geschäften zieht sich zwar ein dunkler Streifen mit Rillen, doch das hilft Colette Schmitz bei ihrem Sehhandicap nur wenig: „Die Linien müssten weiß sein und dickere Noppen haben. Hier war wohl die Ästhetik wichtiger.“
Zudem ist auch die beste Leitlinie keine große Hilfe, wenn darauf – wie in Düdelingen, aber auch oft auf anderen Hilfslinien in Luxemburg – Mülleimer oder andere Gegenstände stehen. Würde Colette Schmitz auf ihrem Weg von zu Hause zur Bank dem dunklen Streifen auf dem Boden folgen, würde sie geradewegs in die schwarzen Tonnen rennen. Zum Geldautomaten geht Colette Schmitz ohnehin nur selten, denn dort trifft sie auf das nächste Problem: Das Gerät funktioniert vorwiegend per Touchscreen, während auf dem Bedienungsfeld mit den Zahlen zur Codeeingabe die Blindenschrift fehlt. Wie bei vielen Automaten in Luxemburg gibt es zudem zwar einen Ausgang für Kopfhörer, doch laut der Erfahrung von Colette Schmitz ist meist keine Software zur Sprachausgabe installiert.
Wunsch nach Autonomie
Dabei ist es für Menschen mit einem visuellen Handicap ein Problem, wenn Informationen nur auf Bildschirmen angezeigt und nicht laut ausgesprochen werden. „In der Warteschlange bei der Post bekomme ich beispielsweise nicht mit, wenn meine Nummer aufgerufen wurde. Mittlerweile kennen sie mich da, dann rufen sie mich“, berichtet Colette Schmitz. Im öffentlichen Transport funktionieren die Ansagen manchmal nicht oder diese können bei lauten Gesprächen leicht überhört werden: Ein Problem für Blinde, die nicht sehen, wo sie sich gerade befinden. „Ich bin auch schon aus Liften ausgestiegen und habe mich dann gefragt: ‚Wo bin ich hier?‘ Es gab keine Ansage und ich bin auf der falschen Etage aus dem Lift gestiegen.“ Die Folge: Orientierungslosigkeit.
Etwas wütend stellt Colette Schmitz fest: „Das muss alles nicht sein. Wir wollen lediglich so weit wie möglich autonom leben. Wir sind behindert, ja, aber wir werden in unserem Alltag zusätzlich behindert.“ Und doch kommt die energische Frau zurecht. Probleme damit, Unterstützung anzunehmen, hat sie nämlich nicht. Oft muss sie auch gar nicht erst um Hilfe bitten, die Leute seien von sich aus stets sehr zuvorkommend, erzählt sie lächelnd. Auch ihr Mann Pierre sei eine große Unterstützung. Bis Corona kam, sind die beiden oft zusammen in Urlaub gefahren: In Senegal und Kuba waren sie schon. Er beschreibt ihr dann, was gerade vor ihnen ist, beispielsweise welchen Stil die Häuser haben.
Die Dinge, über die sich Colette Schmitz ärgert, sind dabei nicht nur ein Problem für Menschen mit einem Handicap. Denn: „Jeder wird älter und sieht dann vielleicht schlechter. Durch einen Unfall kann es schnell passieren, dass man von einem Tag auf den anderen nicht mehr gehen oder sehen kann.“ Deshalb profitiert eigentlich jeder davon, wenn Lebensräume so gestaltet sind, dass sie für jeden frei zugänglich sind. „Es ist schon viel in Luxemburg gemacht worden“, stellt Colette Schmitz fest und sagt aber auch: „Es bleibt noch viel zu tun.“
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Den shard space zu Diddeleng ass den rengsten Horror fir sehbehennert Matmenschen !
De „shared space“ funktionéiert nëmme sou laang wéi keng oder héchstens ganz wéineg Auto’en do fueren. Dat muss engem dach schonn de gesonde Mënscheverstand soen.