Sudan / Hungerkatastrophe: „Die Flüchtlinge essen auch Blätter oder Gras“
Der Bürgerkrieg im Sudan hat die schwerste Hungerkatastrophe weltweit ausgelöst. Hunderttausende Menschen sind sogar akut vom Hungertod bedroht. Die Mitarbeiterin des Welternährungsprogramms, Leni Kinzli, schildert die verheerende Lage und hat dennoch Hoffnung.
Wie gefährlich die Lage im Sudan auch für humanitäre Helfer ist, wurde erst kurz vor Weihnachten wieder deutlich: Bei einem Luftangriff auf eine Einsatzzentrale des UN-Welternährungsprogramms (WFP) wurden drei Mitarbeiter getötet. Ein WFP-Sprecher sagte unserer Redaktion, „trotz dieses unbegreiflichen Angriffs setzen wir unsere Arbeit fort und haben gerade erstmals seit Beginn des Konflikts die Hauptstadt Khartum mit einem Hilfskonvoi erreicht. Solche Erfolge sind ohne den Mut und die Widerstandskraft humanitärer Helferinnen und Helfer nicht möglich“. Er betonte zugleich: „Als humanitäre Helferinnen und Helfer dürfen wir niemals Ziel sein.“ Die Hungersnot und das Leiden der Menschen vor Ort schildert WFP-Mitarbeiterin Leni Kinzli, die regelmäßig im Sudan im Einsatz ist.
Tageblatt: Frau Kinzli, der Bürgerkrieg im Sudan gehört zu den hierzulande eher wenig beachteten Konflikten. Wie ist die Lage aktuell?
Leni Kinzli: Wir sprechen von der größten humanitären Krise weltweit. Es ist das einzige Land auf der Welt mit einer bestätigten Hungersnot. Die Lage ist katastrophal. In dem großen Lager für Binnenvertriebene, Samsam in Nord-Darfur, das in den vergangenen Monaten schwer zu erreichen war, haben die Menschen fast keinen Zugang zu Lebensmitteln. So geht es 1,7 Millionen Menschen im Land. Wir versuchen dort mit Essenslieferungen zu helfen.
Sie haben es also mit aktuell verhungernden Menschen zu tun?
Es sind Menschen, die die letzten Möglichkeiten, die sie haben, nutzen, um nicht an Hunger zu sterben. In Samsam etwa essen die Menschen trockene Nussschalen, also das, was die Öl-Mühlen in dem Gebiet nach dem Pressen von Erdnüssen für Öl normalerweise wegwerfen oder an die Tiere verfüttern würden. Die Flüchtlinge essen auch Blätter oder Gras. Sie haben keine richtige Mahlzeit am Tag. Das bedeutet, dass Kinder und Frauen schon an Unterernährung sterben.
Wie viele Menschen sind insgesamt im Sudan von Hunger betroffen?
Wir definieren Hunger mit einem Fünf-Stufen-System, wobei Stufe fünf die Hungersnot ist, wie wir sie im Samsam-Camp und vier weiteren Gegenden im Land sehen. Vor allem die Stufe drei betrifft sehr viele im ganzen Land. Das bedeutet akute Ernährungsunsicherheit: Die Menschen müssen ihr ganzes Geld ausgeben, um nur eine Mahlzeit am Tag zu bekommen. Sie können sich also nichts anderes mehr leisten, weder die Schule für die Kinder, noch Seife oder andere Hygieneprodukte. Insgesamt sind 24 Millionen Menschen im Sudan von Hunger ab Stufe drei oder höher betroffen. Also jeder und jede Zweite im Land.
Warum ist es so schwer, den Notleidenden im Samsam-Camp zu helfen?
Die Gegend in Nord-Darfur und die Stadt Al-Faschir sind seit fast einem Dreivierteljahr heftig umkämpft. Das Samsam-Camp ist davon nur 13 Kilometer entfernt. Außerdem leben da Menschen, die schon vor Ausbruch des aktuellen Konflikts auf Hilfe angewiesen waren. Wir haben also schon vor dem April 2023 für mindestens eine Million Menschen Essen verteilt.
Auf welchem Weg bringen Sie die Hilfslieferungen zu den Menschen?
Wir bringen die Nahrungsmittellieferungen mit Lastwagen zu den Notleidenden, helfen durch Bargeldtransfers, oder in Zusammenarbeit mit lokalen Gruppen wie zum Beispiel Suppenküchen. Der Weg geht meistens von Port Sudan am Roten Meer 2.000 Kilometer über Land und über Sandpisten durch die Wüste nach Al-Faschir. Dann haben wir es mit bürokratischen Hürden zu tun, überdies mit Überschwemmungen in der Regenzeit, wo es fast unmöglich ist, in die Region zu kommen. Zudem gibt es unterwegs viele verschiedene Milizen, Stammesgruppen, die bewaffnet und zum Teil selbst in Not sind. Es gibt Dutzende, wenn nicht Hunderte verschiedene bewaffnete Checkpoints, durch die wir die Lieferungen durchbringen müssen.
Wie können Sie dann überhaupt helfen?
In den vergangenen Wochen hatten wir Erfolg: Erstmals haben WFP-Nahrungsmittellieferungen für 12.500 Menschen Samsam erreicht und auch die umkämpfte Hauptstadt Khartum. Das waren erste Schritte.
Wie haben Sie das geschafft?
Wir konnten den Konvoi nach Samsam diesmal über das Nachbarland Tschad in den Sudan hineinbringen. Anstelle von 2.000 Kilometern mussten die Lkws also etwa 500 Kilometer fahren. Wir suchen immer wieder nach neuen Wegen, Nahrung zu liefern. Wir arbeiten aber auch mit Lebensmittel-Bons. Wenn es in der Umgebung lokale Märkte gibt – und es gibt sie tatsächlich selbst in Nord-Darfur immer noch –, geben wir den Flüchtlingen Bons mit einem QR-Code, den sie einlösen und damit direkt auf dem Markt Weizenmehl, Linsen-Öl und Salz kaufen können. Insgesamt konnten wir dieses Jahr im Sudan fast acht Millionen Menschen durch die verschiedenen Formen unserer Hilfe erreichen.
Viele Hilfsorganisationen klagen aktuell darüber, dass sie nicht das Geld zusammenbekommen, das nötig wäre, um die schlimmste Not zu lindern. Wie sieht es bei Ihnen aus?
Im Sudan sind so viele Menschen auf Hilfe angewiesen, dass es unmöglich ist, überhaupt so viel Geld zu sammeln. Eigentlich würden wir Milliarden benötigen, aber das ist unrealistisch. Deshalb konzentrieren wir uns auf die Menschen, die am dringendsten auf Unterstützung angewiesen sind. Das sind etwa acht Millionen Menschen, für die wir in den nächsten sechs Monaten noch etwa 500 Millionen Dollar benötigen. Geld, das wir noch nicht haben.
Was kann die internationale Gemeinschaft neben Geldspenden noch tun?
Ein großes Problem im Sudan ist der humanitäre Zugang. Das heißt: Alle Länder, die Einfluss auf die Konfliktparteien haben, sollten Druck machen, damit sichere Korridore für die humanitäre Hilfe entstehen. Diplomatisches Engagement auf höchster Ebene sehen wir leider nicht häufig genug und wenn, oftmals zu spät.
Ist es also hoffnungslos?
Was uns noch immer Hoffnung gibt, ist, zu sehen, wie die Menschen im Sudan einander unterstützen. Es gibt kleine Gemeindeküchen und Gruppen, die in Notsituationen reagieren und helfen. Es gibt viele Beispiele wie das von einem Arzt in der Hauptstadt Khartum, der 14 Stunden am Tag im Krankenhaus arbeitet, um zu helfen. Viele sind unglaublich mutig und gehen große Risiken ein, um andere zu unterstützen.
Verlassen auch viele das Land?
Wenn wir die Binnenvertriebenen mitzählen, haben wir im Sudan die größte Vertreibungskrise der Welt mit über elf Millionen Menschen. Davon sind drei Millionen schon in anderen Ländern – vor allem in den Nachbarstaaten. Aber ohne Unterstützung und Perspektiven für Familien vor Ort, werden auch einige dieser Menschen nach Europa kommen. Es wäre also auch viel kostengünstiger, die Menschen vor Ort zu unterstützten und eine politische Lösung zu suchen.
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