Menschen im Krieg / „Ich fühle mich in der Falle“: Die Kriegsgegner Svetlana und Alexej wollen Russland verlassen
Svetlana und Alexej leben beide im Raum Moskau. Sie sind gegen den Krieg und zunehmend verzweifelt. Beide wollen Russland in Richtung Europa verlassen. Doch nur einem von beiden könnte das gelingen.
Seit dreieinhalb Wochen führt Russland Krieg gegen die Ukraine. Die russischen Kriegsgegner verzweifeln zusehends. Ihr Präsident hat sie „Verräter“ genannt und die Mehrheit ihrer Mitbürger scheint hinter Wladimir Putin zu stehen. Zehntausende Russinnen und Russen haben das Land bereits verlassen, sind nach Europa oder, was auch jetzt noch möglich ist, in die Türkei geflohen. Doch längst nicht alle können einfach so weg.
Wenn die überzeugte Kriegsgegnerin Svetlana über die Sanktionen spricht, die der Westen gegen Russland verhängt hat, wirkt sie ratlos. Sie sei keine Politikerin, sagt die Musikerin und Lehrerin, die in der Region Moskau mit ihrem Mann und ihrem fünfjährigen Sohn lebt. Auch mit Wirtschaft kenne sie sich nicht wirklich aus. Deswegen könne sie auch nicht sagen, wie man diesen Krieg beenden könne. Eins sei aber klar, sagt die Frau, Mitte dreißig, im Telefongespräch mit dem Tageblatt, wegen der Strafmaßnahmen sei es ihr unmöglich geworden, Russland in Richtung Westen zu verlassen: „Diese Sanktionen halten mich gerade hier gefangen.“
Der Flugverkehr von und nach Europa ist eingestellt. Bereits zuvor waren die Ticketpreise für viele Russinnen und Russen in unerschwingliche Höhen gestiegen. Weil Svetlana ihr Geld online mit Sprachkursen verdient, ist sie inzwischen von einem Großteil ihrer Einkünfte abgeschnitten. „Ich fühle mich in der Falle“, sagt Svetlana.
Der kinderlose Alexej hat es da etwas einfacher. Der 38-Jährige verdient gut bei einem großen Unternehmen in Moskau. Sein größter Trumpf aber: Seine Mutter lebt in einem Land in Westeuropa, in dem er deswegen um ein Bleiberecht anfragen konnte. Jetzt wartet er auf die Antwort. Die Zeit drängt. „Ich bin mir fast sicher“, sagt Alexej, „wenn ich nicht in den kommenden zwei Wochen rauskomme, werde ich gar nicht mehr hier rauskommen“. Es fühle sich gerade an, als würde „sich eine riesige Betondecke auf Russland legen“. Seine Reise hat er bereits geplant. Mit dem Bus, erst nach Sankt Petersburg und von dort weiter nach Tallinn, nach Estland, in die Europäische Union. „Zur Not gehe ich zu Fuß“, sagt Alexej.
Wladimir Putin hat Menschen wie Svetlana und Alexej in seiner letzten Fernsehansprache am vergangenen Mittwoch direkt angesprochen. „Abschaum und Verräter“ nannte der Präsident des Landes all jene, die die offizielle Erzählung der „militärischen Spezialoperation“ in der Ukraine hinterfragen und den Krieg einen Krieg nennen. „Echte Patrioten“, sagte Putin, würden sie „einfach ausspucken wie eine zufällig verirrte Mücke“. Wenn Russen jetzt ins Exil gingen, sei das eine „natürliche Säuberung“, die das Land „nur stärken“ könne. „Es ist nicht mehr auszuhalten“, sagt Alexej, der die breite Unterstützung in der russischen Bevölkerung für den Krieg nicht verstehen kann. Den letzten Umfragen zufolge unterstützen rund 60 Prozent der Russinnen und Russen die „militärische Spezialoperation“, nur ein Fünftel sprach sich dagegen aus.
Wer „Fake News“ über die russische Armee verbreitet, dem drohen inzwischen 15 Jahre Haft. Die ersten Prozesse laufen bereits. Svetlana traut sich deswegen nicht auf Demos gegen den Krieg. Sie müsse an ihren Sohn denken, sagt sie. Alexej war am vergangenen Sonntag noch dabei in Moskau – obwohl er bereits einmal festgenommen wurde und sich die Strafe beim zweiten Mal erhöht. Seine Freunde und er seien „nur gelaufen“. Anders hätte die Polizei sie sofort aufgegriffen. Ein „Peace“-Zeichen zu tragen, reiche aus, um festgenommen zu werden, sagt Alexej. „Wir wussten, dass wir nicht mehr ‚Krieg’ sagen dürfen – jetzt wissen wir, dass wir auch nicht mehr ‚Frieden’ sagen dürfen.“
Seit Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine am 24. Februar gab es laut der Organisation OWD-Info mehr als 15.000 Festnahmen bei Demonstrationen gegen den Krieg. Auch am Sonntag sind in Russland nach Angaben von Bürgerrechtlern fast Tausend Menschen bei Protesten festgenommen worden.
„Ich will hier nicht mehr leben“, sagt Svetlana, die nicht wegkann. „Unsere Wirtschaft wird spätestens in einem halben Jahr ruiniert sein“, befürchtet sie. Und bereits jetzt seien die Menschen extrem polarisiert. „Ich habe Angst, dass es irgendwann zu Gewalt kommt, zu einer Art Bürgerkrieg“, sagt Svetlana. In ihrer Umgebung tauchten immer mehr „Z“-Zeichen auf, auf Privatautos, auf den Wägen von Kommunalverwaltungen. Der Kreml hat den Buchstaben zum Zeichen der Solidarität mit seinem Krieg gemacht. Es ist zu einer Art neue Swastika geworden. „Jedes Mal, wenn ich so ein ‚Z’ sehe, erschreckt es mich zu Tode“, sagt Svetlana.
Auch Alexej spricht von einer „Art Bürgerkrieg“. Aus Freunden seien Feinde geworden, sagt er, die Risse hätten Familien geteilt, sagt er. Es sei wie in einem „Kalten Bürgerkrieg“. Nachdem Alexej bei der ersten Demo festgenommen wurde, beschimpfte seine Großmutter ihn als „Vaterlandsverräter“. Seitdem haben sie nicht mehr miteinander gesprochen. Bei Svetlana sind es die Eltern. Sie rede zwar noch mit ihnen, zeige ihnen jene Bilder, die das russische Staats-TV verschweigt. Ihre Mutter fände es auch schlimm, wenn Zivilisten in der Ukraine sterben, sagt Svetlana. Doch jedes Mal komme rasch das große Aber: Aber, gebe ihre Mutter immer zurück, sie sei dazu erzogen worden, an ihr Land zu glauben, für ihr Land aufzustehen. „Sie tut mir leid“, sagt Svetlana, „sie weiß nicht, was passiert“.
Für Alexej sind die „vielen zerrissenen Familien eine der schlimmsten Folgen des Krieges in Russland“. Svetlana macht es „traurig, von allen der Feind zu sein“. Da sie gegen den Krieg sei, mache sie das zum Feind ihrer Regierung, ihres Staats. Auch der Westen sehe sie als Feind: „Wieso würde er mich sonst bestrafen, indem er mein Geld blockiert und mich daran hindert, dieses Land zu verlassen?“ Und natürlich sei sie als Russin ein Feind der ukrainischen Nation, die gerade so über alle Maßen leiden muss. „Das ist ja klar, so wie die gerade unter Russland leiden müssen“, sagt Svetlana. „Auf meinen Schultern lastet ein enormer Druck.“
Seit Wladimir Putin am 24. Februar die Ukraine attackierte, hat auch eine Massenflucht aus Russland eingesetzt. Hat Putins Krieg schon drei Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer aus ihrer Heimat vertrieben, so haben seither auch mehr als 200.000 Russinnen und Russen ihr Land verlassen, sagt der bestens vernetzte Bestseller-Autor Dmitri Gluchowski.
Svetlana und Alexej sind vorsichtiger geworden in den vergangenen Wochen. Svetlana hat einige ihrer alten Facebook-Posts bearbeitet, dort ist Putin jetzt kein „Lügner“ mehr. Sie versuche aber weiter, „Leute davon zu überzeugen, dass da wirklich ein Krieg ist“. Als Reaktion bekomme sie fast nur noch Hasskommentare. Alexej löscht regelmäßig seinen Browser-Verlauf am Handy. Für den Fall, dass Polizisten ihn kontrollieren würden.
In der Ukraine wurden durch den Krieg nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks bisher bereits zehn Millionen Menschen in die Flucht getrieben – 3,4 Millionen von ihnen flüchteten in andere Länder. Seit dem Kriegsbeginn am 24. Februar hat aber auch eine Massenflucht aus Russland eingesetzt. Schätzungen zufolge haben seither mehr als 200.000 Russinnen und Russen ihr Land verlassen. Mit Alexej hatten wir uns ein erstes Mal vor drei unterhalten, da klang er noch optimistischer, da wollte er noch in Russland bleiben. „Alles, was gerade passiert“, sagt Svetlana, „ist eine unbeschreibliche Tragödie.“
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