Tokyo 2020 / „Ich musste richtig heulen“: Raphaël Stacchiotti verabschiedet sich vom Hochleistungssport
Ein Kapitel ist beendet, ein anderes hat er bereits aufgeschlagen. Für Schwimmer Raphaël Stacchiotti waren die Olympischen Spiele der Schlusspunkt seiner Karriere. In Tokio feierte er einen emotionalen Abschied.
Lange hat sich Raphaël Stacchiotti gefragt, wie es wohl sein wird, wenn er im Tokyo Aquatics Center ein letztes Mal in seiner Karriere anschlägt. „Unvorstellbar“, beschreibt der 29-jährige Schwimmer, der nach gut 13 Jahren als Spitzensportler einen Schlussstrich unter seine Karriere zieht, das Gefühl nach seinem letzten Rennen. Es ist eine Mischung aus Erleichterung, Glück, Traurigkeit und Stolz. Einfach „extrem emotional“.
Als Stacchiotti unmittelbar nach den 200 m Lagen seine Familie am Telefon hat, kann er seine Tränen nicht mehr zurückhalten. „Ich musste richtig heulen“, so der 29-Jährige, der gerade das letzte Rennen seiner Karriere geschwommen ist. Das Ergebnis? Unwichtig. „Es spiegelt die Leistung meiner gesamten Saison wider“, sagt der Lagen-Spezialist ganz offen.
Am Ende schlägt er nach 2:03,17 Minuten an und belegt Platz 42 unter 45 Startern. Von seinem Landesrekord von 2019, 1:59,61, ist er meilenweit entfernt. Das ist an diesem Abend im Tokyo Aquatics Center, wie gesagt, nebensächlich für Raphaël Stacchiotti, dem gerade eine zentnerschwere Last von den Schultern gefallen ist. „Es ist das erste Mal, dass ich wirklich loslassen kann. Ich brauche nicht schon wieder die nächsten Ziele im Kopf zu haben. Es ist einfach fertig, ich bin am Ende angekommen.“
Pizza zum Abschluss
Die Erleichterung ist ihm anzuhören. Die vergangenen Monate waren hart für den Luxemburger, dem die Verlegung der Spiele überhaupt nicht entgegengekommen ist. Seine Lebensplanung war genau auf diesen letzten Höhepunkt im vergangenen Sommer ausgerichtet. Im September 2020 wurde er Vater von Zwillingen, zu Beginn dieses Jahres hat er seinen Job als Sportkoordinator bei der Gemeinde Bissen angetreten. Alles unter einen Hut zu bekommen, war eine Belastungsprobe für ihn, für seine Familie. „Es gab Momente, in denen ich hinschmeißen wollte“, hatte Stacchiotti vor dem Abschluss seiner sportlichen Karriere noch gesagt. Er und seine Familie haben auf die Zähne gebissen. Das Ende feierte er gestern Abend mit einem Stück Pizza im Olympischen Dorf. „Anschließend werden wir in kleiner Runde gemütlich zusammensitzen, etwas trinken und über die gemeinsame Zeit sprechen.“ Mit einer großen Abschlussparty im Olympischen Dorf wird es nichts. Hier macht Corona ihm wieder einen Strich durch die Rechnung.
Aus dem gleichen Grund konnte seine Familie nicht vor Ort sein. „Ich freue mich, wenn ich wieder bei ihnen bin und dann nicht mehr ständig zum Training muss.“ Die Zeit mit seiner Familie will er genießen. „Zeit mit ihnen verbringen, am Wochenende den Rasen mähen und mich noch mehr in meine Arbeit als Sportkoordinator einarbeiten.“ Stacchiotti wird nach seiner sportlichen Laufbahn nicht in ein Loch fallen, er hat den Übergang bereits vollzogen.
Tüftler und Träumer
Hinter Stacchiotti liegt eine Karriere mit vier Teilnahmen an Olympischen Spielen. Bei seiner Premiere 2008 durfte er die Luxemburger Delegation im Alter von16 Jahren bereits als Fahnenträger ins Pekinger Olympia-Stadion anführen. Damit ist er der jüngste Fahnenträger in Luxemburgs Olympia-Geschichte. Dass er es mit 16 Jahren zu Olympia schaffen würde, hatte der Bissener seinem langjährigen Weggefährten Laurent Carnol bereits Monate vor seiner Qualifikation prophezeit. „Als ich mich für Peking qualifizierte, hat er mir sofort gesagt, dass er mit mir dahinfahren würde“, erklärt der ehemalige Brustspezialist, der zwei Jahre älter ist als Stacchiotti. „Und einige Monate später hat er es in die Tat umgesetzt.“ Stacchiotti habe immer von sehr hohen Zielen geträumt und sich selbst auch hohe Ziele gesteckt, so Carnol, der ab dem Alter von 18 Jahren eigentlich sämtliche Großereignisse mit seinem Ettelbrücker Vereinskameraden gemeinsam erlebt.
Das Talent machte sich bereits sehr früh bei ihm bemerkbar. Nach seiner Olympia-Premiere wurde der Lagen-Spezialist zweimal Europameister bei den Junioren. Die Erwartungen waren dementsprechend. Den Druck ließ er sich allerdings nie wirklich anmerken. Seine lockere Art zeichnete ihn immer aus. Bei den Spielen der Kleinen Europäischen Staaten, bei denen er 40 Goldmedaillen gewonnen hat, hat er stets für gute Stimmung im Luxemburger Lager gesorgt.
Alwin de Prins, der 2008 ebenfalls im Alter von 29 Jahren seine letzten Olympischen Spiele bestritten hat, erinnert sich an einen Jungen mit „sehr viel Talent und einem guten Gefühl für das Wasser“. Stacchiotti sei immer ein Tüftler gewesen, der sich sehr für technische Details interessiert habe. „Er hat nach dem Training immer noch Dinge ausprobiert“, sagt der heutige Direktor des „Luxembourg Institute for High Performance in Sports“, kurz LIHPS. Für De Prins ist das auch der Grund, wieso Stacchiotti bereits in jungen Jahren sehr schnell geschwommen ist. „Er legte eine gewisse Besessenheit an den Tag, die man im Sport braucht.“ Für Carnol war es ebenfalls die Technik, die ihn bei Stacchiotti beeindruckte. „Das Gefühl für das Wasser, sein Start, seine Wende, das hat ihn ausgezeichnet.“
Spät eingelöstes Versprechen
Nach den frühen Erfolgen stellt sich nun aber auch die Frage, ob Stacchiottis Karriere nicht noch erfolgreicher hätte sein müssen. „Natürlich will man immer mehr, aber ich bin im Nachhinein sehr stolz auf das, was ich erreicht habe“, so der 29-Jährige. Für Carnol ist es eine sehr schwierige Frage, für De Prins ist sie fast philosophisch. Für beide spielen eine Menge Faktoren eine Rolle. Der Übergang vom Junioren- in den Seniorsbereich sei extrem schwer. „Es hängt auch davon ab, wie professionell man bereits in jungen Jahren trainiert“, so Carnol. Luxemburg hat auch erst mit dem LIHPS richtig professionelle Strukturen bekommen, um Athleten optimal bei diesen Übergängen zu unterstützen.
Carnol glaubt aber auch, dass ein olympisches Halbfinale oder noch zusätzliche Halbfinals bei Weltmeisterschaften vom Potenzial her drin gewesen wären. „Das hängt aber auch von so vielen Kleinigkeiten ab.“ De Prins sieht hierfür vor allem den Zeitraum zwischen den Olympischen Spielen 2012 und 2016. „Ich denke, von dieser Periode hatte Raphaël selbst auch viel erwartet. Nichtsdestotrotz blickt er auf eine sehr erfolgreiche Karriere zurück und kann sehr stolz auf das sein, was er erreicht hat.“
Dem pflichtet Carnol bei. Vor allem hat Stacchiotti noch relativ zum Schluss eine seiner hohen Zielsetzungen erfüllt. „2011, als wir in Schanghai bei der WM waren, hat Raphaël gesagt, dass er die 200 m Lagen unter zwei Minuten schwimmen würde“, erinnert sich Carnol. Es wurde am Ende eine 2:00,87 und es sollte bis 2019 dauern, bis er sein Versprechen einlösen würde. Es waren die 1:59,61, die ihn letztendlich nach Tokio bringen sollten und ihm den Abschluss bescheren sollten, den er sich gewünscht hat. Und das erneut als Fahnenträger. Besser hätte sich der Kreis nicht schließen können.
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Nicht die einzige katastrophale Leistung der Luxemburger in Tokyo. Schlimm, was die für eine Summe an Geld bekommen und dann solche Leistungen bringen, zum Heulen