Interview / „Ich will mich etablieren“ – Tim Hall über seinen Wechsel zu Ujpest Budapest
Nach zehn Monaten ohne Spielpraxis ist Tim Hall in seiner neuen Heimat Budapest angekommen. Ein Interview über Zukunftsperspektiven, Komplikationen in der Vergangenheit und seine Rolle bei Ujpest.
Tageblatt: Wie hat es sich angefühlt, nach fast zehn Monaten Entbehrung am vergangenen Sonntag wieder auf dem Platz zu stehen?
Tim Hall: Es war ein sehr gutes Gefühl, vor allem weil wir gewonnen haben. Die Partie fing nicht so gut für mich an, weil ich einen Elfmeter verschuldet habe. Der Ball ist mir unglücklich an die Hand gesprungen und der Schiedsrichter hat mithilfe des VAR auf den Punkt gezeigt. Ich habe versucht, ihn noch darauf aufmerksam zu machen, dass ich mit der Absicht ins Duell gegangen bin, den Ball mit dem Kopf zu spielen, und es unmöglich für mich war, in der kurzen Zeit meinen Arm wegzudrehen, aber es hat nichts geholfen. Insgesamt war es aber ein toller Start und die Stimmung im Stadion war auch gut.
Bei Ihrer Premiere haben Sie mit Ujpest einen 2:1-Derbysieg gegen Honved Budapest geholt. Am Sonntag steigt das nächste Stadtduell gegen Ferencvaros. Sind Sie bereits im Budapester Derbyfieber angekommen?
Ich hätte mir erwartet, dass die Partie gegen Honved für mehr Brisanz sorgen würde. Es ist ein kleines Derby, aber bei uns redet jeder nur vom Duell gegen Ferencvaros am kommenden Spieltag. Diese beiden Vereine hassen sich und das bekomme ich hier tagtäglich mit. Ich merke, wie wichtig für die Spieler, Fans und Mitarbeiter von Honved das Duell gegen Ferencvaros ist. Seit vergangener Woche ist das Stadion bereits ausverkauft. Für mich wird dieses Derby auch ein Wiedersehen mit den beiden Mmaee-Brüdern Ryan und Samy, mit denen ich bei Standard Lüttich ausgebildet wurde (deren Bruder Jacky spielte zusammen mit Hall beim Progrès Niederkorn, Anm.d.Red.).
Bei Ujpest sollen Sie sich zum neuen Chef der Abwehr entwickeln. Ist es erstaunlich, einen solchen Vertrauensbeweis zu bekommen, nachdem Sie zehn Monate ohne Spielpraxis waren?
Ja, es ist ein Vertrauensbeweis. Dass ich der Abwehrchef werden soll, wird allerdings mehr in den Medien verbreitet, als dass es intern ein Thema ist. Ich spüre bei Ujpest ein gewisses Vertrauen, es ist aber nicht so, dass ich automatisch gesetzt bin. Ich muss mich bei jedem Training beweisen. Dass ich beim Meisterschaftsauftakt in der Startelf stand, ist mir aber nicht in den Schoss gefallen. In der Vorbereitung habe ich jede Partie bestritten und gute Leistungen gezeigt. Ich werde versuchen, die Rolle des Leader nach und nach anzunehmen, auch weil ich der älteste Innenverteidiger im Kader bin. Trotzdem will ich mich nicht zu sehr auf diesen Status konzentrieren, denn ich weiß, wie schnell es gehen kann im Fußball, wenn man keine Leistung bringt.
Wie schätzen Sie die ungarische Liga ein, im Vergleich mit ihren vergangenen Stationen?
Aktuell ist das sehr schwer einzuschätzen. Am vergangenen Samstag hatten wir ein Sechs-Punkte-Spiel. Für beide Teams stand viel auf dem Spiel und das hat dazu geführt, dass es sehr viele Duelle gab und taktiert wurde. Wir sind nicht zu unserem Spiel gekommen, obwohl wir eigentlich normalerweise guten Fußball spielen.
Sie haben einen längerfristigen Vertrag unterschrieben. Ist das nur Tinte auf Papier oder wollen Sie auch kommende Saison für Ujpest auflaufen?
Das werden wir sehen. Wie lange man bei einem Verein bleibt, hängt immer von sehr vielen Faktoren ab, und die Vertragslänge sagt auch nichts darüber aus. Man kann einen Sechs-Monats-Vertrag unterschreiben und trotzdem danach während Jahren bei einem Verein bleiben. Umgekehrt ist ein langfristiger Vertrag keine Garantie für einen langen Verbleib. Mein Ziel ist es grundsätzlich, mich in einem Verein zu etablieren und mich zusammen mit dem Verein weiterzuentwickeln.
Ich bereue es, dass ich Gil Vicente so schnell verlassen habe und keine Geduld hatte
In Ihrer Karriere haben Sie bereits bei elf Vereinen gespielt. Mit welchen Gefühlen blicken Sie auf diese vielen Wechsel zurück?
Ich wollte eigentlich nie nach nur einem Jahr den Verein verlassen. In meiner Karriere habe ich es aber gleich zweimal erlebt, dass mein Klub bankrott ging. In Lierse und in Lwiw. Bei Wisla Krakau war der Fall klar. Ich wollte meinen Vertrag auflösen, weil ich nicht mit Trainer Peter Hyballa klargekommen bin. Ich bereue es allerdings, dass ich Gil Vicente so schnell verlassen habe und keine Geduld hatte. Mir war zu diesem Zeitpunkt einfach nicht bewusst, dass ich in einer guten Liga spiele und ich als junger Innenverteidiger nicht sofort das Vertrauen erhalte. Auf der anderen Seite muss ich sagen, dass ich mir damals den Wechsel nach Krakau sehr gut überlegt habe. Mit Hyballa war ein Trainer im Amt, der mich im Jahr zuvor zu NAC Breda holen wollte. Zudem ist Wisla Krakau ein richtig geiler Verein. Es schien für mich eine fast perfekte Option zu sein.
Haben Sie heute mehr Geduld?
Das hängt von der Situation ab, aber generell würde ich sagen, dass ich mehr Geduld habe. Ich bin älter geworden und verstehe heute einige Dinge besser. Wenn ich aber als vierter Verteidiger auf der Tribüne sitzen würde und keine Chance auf einen Einsatz sähe, dann würde ich mich wohl mit großer Sicherheit nicht dafür entscheiden, meinen Vertrag auszusitzen.
Welche Ziele können kurz- und langfristig mit Ihrem neuen Verein erreicht werden?
In dieser Saison geht es darum, die Klasse zu halten. Im Moment müssen wir so schnell wie möglich viele Punkte holen und ich will mich als Stammspieler etablieren. Danach wird man sehen, wie die Pläne von Ujpest aussehen werden.
Mit Milos Kruscic hat Ujpest einen serbischen Trainer. Was für ein Typ ist er?
Er ist ein Trainer, der immer hundert Prozent im Training und im Spiel verlangt. Die Einheiten sind teilweise sehr lang und anstrengend. Heute hatten wir zum Beispiel ein zweieinhalbstündiges Training. Morgen und übermorgen sind die Einheiten dann aber wieder lockerer, damit wir topfit ins Spiel am Wochenende gehen können. Er gibt mir das Gefühl, dass man gut mit ihm klarkommt, wenn man das umsetzt, was er verlangt.
Es ist fast das Größte überhaupt, für die Nationalmannschaft zu spielen
Nach Lwiw und Krakau wohnen Sie wieder in einer Stadt mit sehr viel Geschichte. Welche Eindrücke konnten Sie bis jetzt von Budapest sammeln?
Ich wohne im 13. Bezirk, das ist sehr in der Nähe des Stadtkerns, aber ich konnte leider noch nicht so viele Eindrücke sammeln. Budapest ist riesig und ich muss mich erst einmal an meine neue Umgebung gewöhnen. Als ich hier angekommen bin, wurde ich in einem Hotel außerhalb der Stadt untergebracht, danach ging es sofort weiter ins Trainingslager in die Türkei. Die Stadt ist richtig toll und wenn das Wetter besser wird, werde ich mir auch die Zeit nehmen, sie zu entdecken – auch wenn man als Fußball-Profi teilweise weniger Zeit hat, als man denkt.
Wie wichtig ist für Sie persönlich eine Rückkehr in die Nationalmannschaft?
Sehr wichtig, das ist kein Geheimnis. Es ist fast das Größte überhaupt, für die Nationalmannschaft zu spielen. Leider habe ich bisher noch nicht sehr oft meine Chance erhalten. Ich werde weiterhin mein Bestes geben und darauf hoffen, dass ich irgendwann wieder berufen werde und spielen kann.
Steckbrief
Name: Tim Hall
Geboren am 15.4.1997
Position: Innenverteidiger
Größe: 1,90 Meter
Bisherige Vereine: F91, Standard Liège (B), 1. FC Saarbrücken, SV Elversberg (beide D), Lierse SK (B), Niederkorn, Karpaty Lwiw (UKR), Gil Vicente (P), Wisla Krakau (POL), Ethnikos Achnas (ZYP), Ujpest Budapest (UNG/seit dem 18.1.2023)
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