Thema Kindesmissbrauch / Im Kopf des Täters: Marieke Lucas Rijneveld schreibt in „Mein kleines Prachttier“ meisterhaft über ein Tabuthema
Marieke Lucas Rijneveld hat nach ihrem erfolgreichen Debüt „Was man sät“ dieses Jahr ihren zweiten Roman vorgelegt. Klassikern kann „Mein kleines Prachttier“ spielend das Wasser reichen.
Lasst uns mit dem Titel beginnen. „Mein kleines Prachttier“ prangt auf dem Cover von Marieke Lucas Rijnevelds neuestem Werk. Die Buchstaben in sattem Gelb heben sich deutlich von der armeegrünen Farbe des Schutzumschlags ab. Dabei kommt die Substantivgruppe selbst zunächst vielleicht ein wenig blass daher, ein wenig klobig, ein wenig schmalzig und schräg. „Mein kleines Prachttier“ würde sich gut als Spruch auf einem Lebkuchenherz eignen, das man seinem oder seiner Liebsten auf einem Jahrmarkt kauft, oder er könnte eingenäht sein in den Stoff eines Teddybärs, den man von irgendwo mitbringt als Zeichen seiner süßlich-rührigen Anbetung.
Ob nun direkte Anrede oder einfache Bezeichnung, mit der zugleich eine romantische Zugehörigkeit markiert wird, – die Phrase wirkt zunächst kitschig. Aber nicht nur das. Der ungute Beigeschmack ergibt sich aus der Zusammenführung der beiden Wörter „Pracht“ und „Tier“. Das Kompositum weckt beim zweiten Hinsehen finsterere Assoziationen, die durch die scheinbare Harmlosigkeit der Etikette hindurchschimmern wie der Rost unter nachlässig aufgepinseltem Lack. Man denkt – unterstützt durch das auf dem Einband abgebildete Geweih – an Jagd, an Trophäensammlung, an Beute. An Verfolgung und Tötung, letzten Endes.
Bezieht sich die Ausdruck „mein kleines Prachttier“ auf einen Menschen, und das tut er hier, beschwört er auch Bilder von gewaltvoller, körperlicher Inbesitznahme, von Nachstellung und Übergriffen herauf. Der Kosename „Prachttier“ entmenschlicht den Bezeichneten; durch seine sulzige Niedlichkeit wird das nicht nur nicht kaschiert, sondern geradezu wie mit einem Neonstift hervorgestrichen. Damit weist der Titel direkt ins abgründige Herz des Romans. Denn erzählt wird die Geschichte eines 49-jährigen Tierarztes, der sich in ein junges Mädchen verliebt und sie, als sie 14 Jahre alt ist, wiederholt vergewaltigt.
Ein erschütterndes Thema
„Mein kleines Prachttier“ ist, um es direkt auf den Punkt zu bringen, ein Roman, der durch seine Vieldeutigkeit, stilistische Finesse und erschreckende psychologische Ausgereiftheit mit Werken der Weltliteratur mühelos mithalten kann. Doch seine Lektüre ist auch, und das sei nicht als einfache Floskel vorgeschoben, anstrengend. Im Sinne von: aufwühlend, erschütternd, herzzerreißend. Dass sich das zum Teil aus der Themenwahl ergibt – geschenkt. Pädophilie und Kindesmissbrauch gehören zu den schwierigsten und härtesten Sujets, mit denen sich die Literatur auseinandersetzen kann.
Denkt man an Romane, die in dieselbe thematische Kerbe schlagen, kommen einem etliche in den Sinn. Mal besitzen sie eine höhere, mal eine niedrigere literarische Qualität, oft sind sie autobiografisch geprägt, schildern also reell erlebtes Leid, aus der Perspektive des Opfers. Da die meisten Missbräuche im engsten persönlichen Kreis passieren, wird oft – aber nicht immer – von Inzest erzählt. In Christine Angots 2021 mit dem „Prix Médicis“ ausgezeichnetem „Le Voyage dans l’Est“ ist der Schuldige der Vater. In Heidi Hassenmüllers „Gute Nacht, Zuckerpüppchen“ vergreift sich der Stiefvater an der jungen Protagonistin.
Übergriffe durch einen Freund der Familie
„Mein kleines Prachttier“ ist nun, wie explizit auf der ersten Seite vermerkt wird, reine Fiktion. Der Täter, der zugleich auch wie in Vladimir Nabokovs „Lolita“ als Erzähler fungiert, ist ein guter Freund der Familie, der Veterinär, der auf dem Bauernhof der kleinen Familie immer wieder nach dem Rechten sieht, dem alleinerziehenden Vater unter die Arme greift, die Kinder unterstützt – vor allem das junge Mädchen, das ihn durch seine „Merkwürdigkeit und Ängstlichkeit“, durch seinen Ideenreichtum und seine kindliche Naivität in den Bann schlägt.
Interessenterweise ist Rijnevelds Roman in Du-Form geschrieben. Als Leser wird man also nicht bis über den Haaransatz in die Wahrnehmungs- und Gedankenwelt des schon älteren Mannes Kurt eingetunkt, sondern erfährt durch ihn ebenso viel über das prismenartige Innenleben des von ihm begehrten Kindes. Denn dieses teilt seine Gedanken und Gefühle ohne Zurückhaltung mit ihm. Das Resultat sind Passagen wie die folgende: „[D]u wusstest schon damals, dass du etwas Wesentliches verlieren würdest, dass Erfolg dich verändern und zugleich etwas bewahren oder vielleicht sogar noch verschlimmern würde, nämlich die uferlose Leere, die schon jetzt in dir war, obwohl ich diese Symptome übersah, ich, der genau wusste, wann ein Tier krank war oder wann es zu viele Stresshormone bildete[…].“
Eine Fallstudie – aber nicht nur
Die rund 364 Romanseiten sind naturgetreu wirkende Abgüsse zweier ineinander verschachtelten Psychen, wobei die der Leidtragenden integral in der des Verbrechers aufgehoben ist. Auf morbid-faszinierende Art spiegelt die Erzählweise so den Inhalt, spielt das Sich-Bemächtigen eines anderen Menschen auch auf formaler Ebene durch und enthüllt damit auf kompromisslose Weise die Tragweite des Vergehens.
Dabei erscheint Kurt jedoch nicht wie ein Monstrum, das sich ohne Selbstreflexion und Gewissen auf ein wehrloses Mädchen stürzt, im Gegenteil. Er spricht, auch wenn ihn das nicht an seinen Taten hindert, seine moralische Schuld mehrmals im Roman an („ich erneuerte mich durch dich, meine himmlische Auserkorene, und sah nicht, dass ich dich zerstörte, oder ich wollte es nicht sehen“). Stückweise wird enthüllt, dass Kurt selbst ein Missbrauchsopfer ist – die Aggressorin war seine Mutter.
Gespräche mit Hitler und Freud
Durch die Beschreibung von Kurts Albträumen und Halluzinationen, in denen verschiedene Grundmotive wiederholt aus dem Dunkel des Unterbewusstseins emporsteigen, sich verdichten und neu zusammenfügen, erhält man einen Einblick in die tieferen Schichten von Kurts verwüsteter Seelenlandschaft. Sie kann man als schockierend exakte psychologische Beweisführung verstehen, anhand derer das Funktionieren von Traumata abzulesen ist sowie erklärt wird, wie es dazu kommt, dass sexualisierte Gewalt über Generationen hinweg perpetuiert wird. Dass sich der Roman durch seinen unglaublichen gedanklichen und sprachlichen Reichtum aber davor verschließt, als reine Missbrauchsgeschichte gelesen zu werden, macht seine eigentliche Stärke aus.
Als überwältigend multidimensional erweist sich in dem Bezug auch die Figur des jungen Mädchens – oder des „Vogels“, der sich nach eigenen Worten wahlweise auch in einen „Frosch“ oder „Otter“ verwandeln kann. Obschon das Kind dem Leser nur vermittelt als das angeredete „Du“ entgegentritt und auf die Unzuverlässigkeit des Erzählers punktuell hingewiesen wird, wird der genauen wie reichen Facettierung seiner Persönlichkeit überraschend viel Raum gelassen. So wird erzählt, wie sich die „Angebetete“ immer wieder seinen Fantasien hergibt, zwischen Junge und Mädchen „irrlichtert“ und intime Gespräche mit Hitler (!) und Freud, zwei imaginäre Begleiter, führt.
Unentrinnbar wirken schließlich die furchtbaren Höhepunkte, auf die sich die Geschichte zubewegt: der Missbrauch zum einen – und der spätere Selbstmordversuch des Mädchens zum anderen. Weitere quälende Vorausdeutungen sowie die Beschreibung der inneren Öde des Mädchens lassen kaum einen Zweifel daran, dass die Figuren – über die letzte Romanseite hinaus – auf einen rabenschwarzen Abgrund zuschlittern. Dem Leser selbst bleibt ein Gefühl diffuser Beklemmung, aber auch die Begeisterung für dieses besondere Werk, nach der Lektüre erhalten.
Marieke Lucas Rijneveld – eine vielversprechende Autorin*
Marieke Lucas Rijneveld ist ein Name, der spätestens seit vergangenem Jahr in der internationalen Literaturszene hoch im Kurs steht. Seine Trägerin, eine nichtbinäre niederländische Schriftstellerin und Dichterin, hat nämlich 2020 den International Booker Prize für ihr Werk „The Discomfort of Evening“ (auf Deutsch: „Was man sät“) erhalten und damit gestandene Autoren wie Daniel Kehlmann übertrumpft. Zu dem Zeitpunkt war sie 29 Jahre alt – sie gilt somit als die bisher jüngste Laureatin des Preises.
Weitere Aufmerksamkeit zog die Niederländerin Anfang dieses Jahres auf sich, als sie Teil der Kontroverse um die Übersetzung von Amanda Gormans „The Hill We Climb“ wurde. Zur Erinnerung: Gorman, afroamerikanische Dichterin und Aktivistin, las das Gedicht bei der Amtseinführung von Joe Biden am 20. Januar 2021 vor. Der niederländische Meulenhoff-Verlag gab wenig später bekannt, Rijneveld mit der Übersetzung dieses Textes sowie weiterer Gedichte von Gorman ins Niederländische betraut zu haben. Als daraufhin Kritik laut wurde – sie drehte sich um die Frage, warum keine schwarze Autorin dafür ausgesucht worden war –, teilte Rijneveld offiziell mit, dass sie die Aufgabe doch nicht übernehmen wolle.
*Marieke Lucas Rijneveld ist genderqueer, identifiziert sich also weder als ausschließlich männlich oder weiblich und bevorzugt deswegen im Englischen die genderneutralen Pronomen they/them. In dieser Rezension wurde sich in Angleichung an andere deutschsprachige Medienartikel, in denen Rijneveld selbst zu Wort kommt und ihr Einverständnis zur Nutzung der Femininform gibt, für den Gebrauch weiblicher Pronomen sowie Berufs- und Personenbezeichnungen entschieden.
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