Serbien / Im Winter setzen sich nach Westen strebende Flüchtlinge erhöhten Risiken aus
Offiziell wurde die sogenannte Balkanroute 2016 geschlossen. Doch noch immer versuchen jährlich zehntausende Transitflüchtlinge auf dem Landweg nach Westeuropa zu gelangen. Für ihr Ziel setzen sie auch ihr Leben aufs Spiel.
Von unserem Korrespondenten Thomas Roser
Nur zwei frisch aufgehäufte Erdhügel sind von dem geplatzten Traum eines Lebens in Sicherheit und im Frieden geblieben. Tannenzweige, etwas Schnee und hölzerne Namenstafeln zieren die beiden Gräber am Rande des trostlosen Gottesackers im serbischen Sid. Von den Feldern des nahen Kroatien ist am Horizont das ferne Bellen eines Hundes zu hören: In Sichtweite ihres unerreichten Etappenziels liegen die 27-jährige Irakerin Fatima Haj Assad und die 45-jährige Syrerin Iman Alkazawi in Serbiens lehmiger Erde begraben.
Zwei ums Leben gekommene Mütter, zwei zerstörte Familien. Nur die Leichen der beiden Frauen vermochten Polizeitaucher und ein Fischer am 23. Dezember aus der Donau zu bergen. Die Leichen ihrer ertrunkenen Männer und Kinder haben die gurgelnden Fluten noch immer nicht preisgegeben: Bei dem Versuch, in der Morgendämmerung den reißenden Strom bei der Landgemeinde Karavukovo in einem selbstgesteuerten Boot in Richtung Kroatien zu überqueren, verloren sechs Flüchtlinge ihr Leben.
Zum Glück habe er in der Woche des Unglücks dienstfrei gehabt, sagt seufzend Vladimir Sulavic, der Koordinator des Auffangzentrums in Sid. Mit 210 Bewohnern sei das für Familien mit Kindern vorgesehene Lager relativ klein, so der hochgewachsene Serbe: „Hier kennt jeder jeden. Das Schicksal der beiden Familien hat alle hart getroffen.“
Hohe Dunkelziffer von Toten vermutet
Vermutlich hätten die Familien das für vier Personen zugelassene Boot auf eigene Faust gekauft, um mitten im Winter 40 Kilometer weiter nördlich die riskante Überfahrt nach Kroatien zu wagen, sagt Sulavic. Als das überladene Boot kenterte, hätten die Insassen kaum eine Chance gehabt: „Die Donau hat dort eine gewaltige, sehr starke Strömung. Selbst für erfahrene Schwimmer wäre ein Überleben bei den kalten Wassertemperaturen schwierig, von Frauen mit kleinen Kindern ganz zu schweigen.“
Einzelfälle sind die sechs ertrunkenen Flüchtlinge in dem Balkanstaat keineswegs. Ob bei versuchten Fluß- oder Zugpassagen: Laut Angaben von Serbiens Flüchtlingskommissariat haben 2019 mindestens 20 Menschen beim Versuch des illegalen Grenzübergangs ihr Leben verloren. Rados Djurovic, der Direktor des Zentrums zum Schutz für Asylsuchende in Belgrad, hält die Dunkelziffer für wesentlich höher: „Es kommen sicher mehr Menschen um, als offiziell bekannt ist. Einerseits werden die Leichen bei Hochwasser nie sofort gefunden. Andererseits melden sich Überlebende nie bei der Polizei.“
Fast ohne Vorfälle passierten hunderttausende von Menschen auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise 2015/2016 die Provinzstadt an der serbisch-kroatischen Grenze. Offiziell wurde die sogenannte Balkanroute im März 2016 geschlossen. Doch noch immer versuchen jährlich zehntausende Transitflüchtlinge auf dem Landweg über den grenzreichen Balkan nach Westeuropa zu gelangen. Für ihr Ziel gehen sie im Winter erhöhte Risiken ein – und setzen auch ihr Leben aufs Spiel.
Trotz des Winters sei die Zahl der Flüchtlinge wieder am Steigen, berichtet Djurovic. Die Zahl der Neuankömmlinge in Serbien betrage derzeit rund 180 Menschen am Tag – inzwischen sei wieder jeder vierte von ihnen ein Syrer. Auf „über 6.000“ beziffert er die wachsende Zahl der in Serbien „festhängenden“ Transitmigranten, die über Bosnien, Kroatien oder Ungarn nach Westen zu gelangen hofften: „Sie versuchen ständig, über die Grenze zu kommen – und werden von der Polizei der Nachbarstaaten ständig wieder abgedrängt.“
Allein an Serbiens Grenzen zu Kroatien und Ungarn komme es derzeit täglich zu 200 bis 270 Fällen des illegalen „pushback“, berichtet Djurovic. Gleichzeitig bestätigt er bosnische Presseberichte, wonach in den letzten Wochen vermehrt Flüchtlinge von Bosnien wieder nach Serbien zu gelangen suchten, um dort zu überwintern: „Wir sehen, dass einige Leute nach Serbien zurückkehren, weil die Zustände in Bosnien noch schlechter sind als hier.“
Aufnahmelager Adavci
Gebläse pumpen Warmluft zwischen die langen Reihen der Stockbetten im Aufnahmelager Adavci, einem früheren Autobahnmotel unweit von Sid. Wegen des verstärkten Andrangs sind mittlerweile zwei Drittel der 900 Insassen in den vier Großraumzelten des Lagers untergebracht. Im Winter sei die Fluktuation unter seinen vor allem aus Afghanistan stammenden Schützlingen deutlich geringer als im Sommer, berichtet Schichtleiter Djordje Dragovic. Zwar sei es im Winter „viel schwieriger“, die grüne Grenze zu passierten. Doch täglich würden beim Frühstück selbst zur kalten Jahreszeit „30 bis 40 Leute“ fehlen.
„Die Verzweiflung treibt den Menschen zu vielen Dingen“, erklärt Nikola Popov von Serbiens Flüchtlingskommissariat das Phänomen, dass die Grenzgänger selbst im Winter durch verschneite Wälder und über eiskalte Flüsse die riskante Passage in Richtung Westen suchten: Viele hätten sich für ihre Reise so stark verschuldet, dass sie so schnell wie möglich an ihr Ziel gelangen wollten.
„Die Leute haben kein Geld und keine Geduld mehr“, so auch die Erfahrung von Lagerleiter Sulovic: „Selbst wenn sie es bereits 10-15 Mal vergeblich versucht haben, über die Grenze zu kommen, nutzen sie jede Möglichkeit erneut – auch bei Schnee und Regen.“
Jede Verlängerung ihres Aufenthalts koste die Flüchtlinge Geld, so Rados Djurovic: „Sie wollen so rasch wie möglich weiter, solange sie dafür noch die Kraft und die Mittel haben.“ In den „völlig unzureichenden“ Bedingungen in Serbiens überfüllten Aufnahmelagern sieht er einen weiteren Grund für die riskanten Winterpassagen: „Niemand will in solchen Lagern länger bleiben – und überwintern.“ Ein Asylgesuch in Serbien sei auch wegen der geringen Erfolgsaussichten für die meisten keine Alternative: 2019 seien bis November gerade einmal 31 Asylanträge bewilligt worden.
Ziel ist ein Leben in Freiheit
Stumm sitzen die jungen Männer in Adavci über ihre Mobiltelefone gebeugt. Zwar würden sich die Lagerbewohner per Internet ständig über die wechselnden Routen informieren, auf denen Schicksalsgenossen die Passage nach Westen geglückt sei, berichtet Popov. Doch trotz Googlemap und GPS seien sie oft nicht mit den Risiken und Eigenheiten der ihr fremden Umgebung vertraut: „Mich fragte einmal im Lager Obrenovac ein Mann, ob es in der Save Krokodile gebe.“
Eine Krähe krächzt vom kahlen Geäst vor dem Aufnahmelager in Sid. Erst vor wenigen Tagen sei im nahen Bahnhof ein Palästinenser an einem Stromschlag gestorben, der auf einen Güterzug nach Italien geklettert sei, um nach einem möglichen Versteck für seine Familie zu suchen, erzählt Vladimir Sulovic – und schüttelt den Kopf: „Es war einfach furchtbar.“ Er und seine Kollegen würden ihre Schützlinge ständig auf die Gefahren der Zug- und Flußpassagen hinweisen: „Aber sie sagen nur: Was sollen wir denn sonst tun?”
Ein kalter Wind streicht über die Gräber von Fatima und Iman. Sechs muslimische Flüchtlingsgräber zählt mittlerweile der serbisch-orthodoxe Neue Friedhof in Sid. Und es könnten in diesem Winter noch mehr werden.
Das wichtigste Ziel eines jeden Menschen sei ein Leben in Freiheit, Frieden und Sicherheit, sinniert im Aufnahmelager von Sid der iranische Familienvater Aidin. Er sei „kein Wirtschaftsflüchtling“, versichert der bärtige Architekt: Er habe seine Heimatstadt Teheran wegen der religiösen Verfolgung seiner Bahai-Minderheit verlassen. Über ein Jahr hänge er bereits mit seiner Familie in Serbien fest. Doch für die erhoffte Übersiedlung ins „freie Westeuropa“ würde er das Leben seines Kindes und seiner Frau „niemals riskieren“: „Der Mensch ist für die Stadt gemacht, nicht für die Wälder – oder einen gefährlichen Fluss.“
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