Interview mit Dietmar Heidemann / Immanuel Kant – ein radikaler Denker von höchster Aktualität
Immanuel Kant, der große Philosoph der Aufklärung, wurde vor 300 Jahren geboren. Mit seiner „Kritik der reinen Vernunft“ revolutionierte er das Denken. Seine Definition der Aufklärung ist weltberühmt, sein kategorischer Imperativ hat nach wie vor Gültigkeit, seine Schrift „Zum ewigen Frieden“ ist ein grundlegendes Werk der politischen Theorie. Professor Dietmar Heidemann diskutiert am Mittwoch, 21. Februar, um 19 Uhr in der „Bibliothèque nationale du Luxembourg“ mit Margit Ruffing von der Kant-Forschungsstelle Mainz, Sabrina Bauer (Uni Luxemburg) und Nora Schleich (ErwuesseBildung) über Kants Aktualität.
Tageblatt: Herr Heidemann, wie kann man sich den großen Philosophen Immanuel Kant in seiner Zeit in Königsberg vorstellen, wo er die meiste Zeit seines Lebens verbrachte?
Dietmar Heidemann: Kants Zeit war unglaublich spannend, zumal in Preußen und besonders in Königsberg. Kant hatte das große Glück, dass er zur Zeit von Friedrich II., dem Großen, zumindest seine akademische Karriere beginnen konnte. Preußen war in mancherlei Hinsicht durch Friedrich ein sehr fortschrittlicher Staat, zum Beispiel, was die Universitäten und die Verwaltung anging. Mit Frankreich verglichen, das damals als Orientierungspunkt galt, war es sehr viel fortschrittlicher. Das hatte nicht zuletzt damit zu tun, dass in Preußen im Vergleich zu anderen Staaten, obwohl ein absolutistischer Staat, mit Friedrich dem Großen ein aufgeklärter Monarch herrschte. In Preußen war mehr möglich, etwa was die freie Meinungsäußerung betraf. Das heißt nicht, dass es völlige Meinungsfreiheit gab, aber doch etwa zumindest relative Religionsfreiheit. Mehrere Ministerämter waren von Philosophen bekleidet oder zumindest von solchen, die Philosophie studiert hatten. Nicht ohne Grund widmete Kant seine berühmte „Kritik der reinen Vernunft“ von 1781 Minister Karl Abraham Freiherr von Zedlitz. Dieser war für das Hochschulwesen zuständig und unterstützte Kant.
Das änderte sich jedoch nach Friedrichs Tod dramatisch, weil damit verschiedene aufgeklärte Köpfe von der Bildfläche verschwanden. Sie wurden ersetzt. Kant fühlte sich regelrecht „an Leib und Leben“ bedroht. Zedlitzs Nachfolger Johann Christoph von Woellner verfolgte eine ganz andere Religionspolitik im Auftrag des neuen Königs Friedrich Wilhelm II. (Neffe von Friedrich II., Anm. d. Red.) Das Woellnersche Religionsedikt von 1788 stellte für Kant eine ernsthafte Bedrohung dar. Woellner schrieb Kant, dass er sich „bei fortgesetzter Renitenz, unfehlbar unangenehmer Verfügungen zu gewärtigen hat“ und sich in Religionssachen nicht mehr äußern dürfte. Unter Friedrich dem Großen war das noch anders: Jeder sollte nach seiner Façon glücklich werden. Der König hatte nicht nur die Folter, sondern – bis auf wenige Ausnahmen – auch die Todesstrafe abgeschafft. Zu den äußeren Lebensbedingungen Kants zählte außerdem seine materielle Unsicherheit. Vor allem in den ersten Jahren nach seinem Studium lebte er in Nöten. Zwar kam er nicht aus ärmlichen, aber doch bescheidenen Verhältnissen und musste sich, wie viele seiner Freunde und Kommilitonen, als Hauslehrer durchschlagen.
Ein typischer Broterwerb für Intellektuelle jener Zeit …
Genau, später machten das unter anderem auch Fichte und Hegel. Das brachte Kant aber auch ein paar Vorteile. So unterrichtete er die beiden Stiefsöhne von Caroline von Keyserling. Graf Keyserling und seine Frau interessierten sich für Kants Sache und führten ihn in Königsberg in höhere Kreise ein. Bei ihnen hatte er einen Stein im Brett, vor allem bei der Gräfin. Nach vielen Jahren der bescheidenen Lebensführung verbesserte sich die materielle Situation des Philosophen erheblich mit dem Lehrstuhl, den er 1770 erhielt und auf den er schon seit Jahren gehofft hatte. Doch er publizierte erst einmal elf Jahre lang so gut wie gar nichts. In dieser Zeit arbeitete er an der Finalisierung seiner „Kritik der reinen Vernunft“, die er 1781 veröffentlichte. Kant war zu diesem Zeitpunkt zwar nicht unbekannt, da er schon zuvor versucht hatte, in die philosophischen Debatten seiner Zeit offensiv einzugreifen. Erst mit der „Kritik der reinen Vernunft“ gelang ihm jedoch ein großer Wurf.
Allerdings stieß er auch auf erheblichen Widerstand, was seinem außerordentlichen intellektuellen Mut geschuldet war, da er mit der „Kritik“ eine unglaublich radikale Position einnahm. Das ist vielen heute vielleicht nicht mehr so bewusst. Wenn man von Kant spricht, denkt man an den Philosophen des kategorischen Imperativs, des „Ewigen Frieden“ oder an den Erfinder des „Föderalismus“. Die Theorie der internationalen Politik ist ganz wesentlich von ihm geprägt worden. Aber Kant begann unglaublich radikal, geradezu provokativ. Er empörte mit seinem Buch nahezu die gesamte philosophische Zunft seiner Zeit – ganz nach dem Motto: „Ihr habt uns zweitausend Jahre Märchen erzählt. Damit ist jetzt Schluss.“ Dargelegt wird dies in der „Kritik der reinen Vernunft“. Meiner Meinung nach muss das Kant-Bild etwas verändert werden. Kant war nicht immer der brave Philosoph, der in Königsberg blieb und in dessen Leben sich von außen gesehen nicht viel ereignete. Intellektuell betrachtet, war er ein radikaler Philosoph.
Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“
Er war also ein geistiger Abenteurer, der Neuland betrat.
In der Tat. Mit seiner „Kritik der reinen Vernunft“ war alles auf einen Schlag komplett anders. Kant vertrat eine Position, die so gut wie alles infrage stellte – und zwar mit guten Gründen. Und er führte große konzeptionelle Neuerungen ein, die es vorher nicht gegeben hatte und die bis heute nachwirken.
Er gilt als der berühmteste deutsche Philosoph der Aufklärung, und berühmt ist auch sein Ausspruch: „Sapere aude – Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ Er hatte sicher auch Vorbilder.
Er nahm sicherlich vieles auf, etwa von Gottfried Wilhelm Leibniz, den er verehrte, oder von John Locke, den er respektierte, letztendlich aber für einen simplen Kopf hielt. Vieles, was Kant einführte, hatte es vorher nicht gegeben, wie etwa seine Kritik an den klassischen Gottesbeweisen. Diese stellen für Kant völlig vergebliche Versuche dar, die Existenz eines höchsten Wesens zu beweisen. Dabei identifiziert Kant im Detail die Gründe, weshalb man bis zu diesem Zeitpunkt nicht zu einer befriedigenden Antwort in dieser Frage gekommen war. Und er präsentierte eine ganz neue Lösung dieses Problems, die bis heute debattiert wird.
Was war an der „Kritik der reinen Vernunft“ so neu und revolutionär? Das Werk ist schließlich für viele alles andere als leicht zugänglich.
Sie haben völlig recht. Das Buch ist inhaltlich nicht leicht zugänglich für Menschen, die nicht eine entsprechende Vorbildung haben. Es ist zwar nicht elitär, aber die Sprache ist extrem anspruchsvoll. Sie besteht aus langen Sätzen und vielen Anspielungen, ohne dass Namen genannt werden. Das kann leicht zu Frustrationserlebnissen führen. Das Entscheidende an der „Kritik der reinen Vernunft“ ist Kants These, dass die Metaphysik als Wissenschaft nicht möglich ist: Was über Jahrtausende, von Platon über Aristoteles bis in die Neuzeit, behauptet wurde, dass man wissenschaftliche Aussagen über Seele, Welt und Gott in ihrer metaphysischen Bedeutung machen kann, zum Beispiel, dass das Weltganze raumzeitlich unendlich oder endlich ist. Oder dass materielle Gegenstände aus einfachen, unteilbaren Teilen bestehen oder aus unendlich vielen Teilen, oder dass wir einen freien Willen haben, oder die Existenz Gottes. Kant zeigt mit großem Aufwand, dass diese Beweise fehlerhaft und unhaltbar sind. Er behauptet dies nicht einfach in einem allgemeinen Sinne, sondern geht diese Beweise exemplarisch Schritt für Schritt durch und diagnostiziert im Detail, dass sie als Beweise einfach nicht funktionieren, da sie nicht bestimmte Bedingungen – die berühmten transzendentalen Erkenntnisbedingungen – erfüllen. Die Philosophen waren zwar mit den strengsten methodologischen Mitteln vorgegangen. Kant aber meinte, solche Beweise lassen sich, wenn überhaupt, nicht „a priori“, sondern immer nur mit Rückbezug auf Erfahrung führen. Sonst seien sie nichts anderes als ein philosophisches Glasperlenspiel.
Welche Wirkung erzielte das Buch?
Nach ihrer Veröffentlichung 1781 in der ersten Auflage wurde die „Kritik der reinen Vernunft“ durchaus wahrgenommen und erhielt mehrere Rezensionen. Eine berühmte war dabei vernichtend. Sie stammte von zeitgenössischen Philosophen, die den alten Auffassungen anhingen und die sich angegriffen fühlten. Kant brachte zwei Jahre später die „Prolegomena“ heraus, eine Kurzfassung der „Kritik“, in der er auf seine Kritiker einging. So kam der Stein erst recht ins Rollen – und er wurde berühmt. Nicht nur in Deutschland, sondern europaweit. Viele Philosophen pilgerten nach Königsberg, um den Superstar der Philosophie des ausgehenden 18. Jahrhunderts zu sehen. Kant erlangte Weltberühmtheit, danach nicht zuletzt durch die „Kritik der praktischen Vernunft“ (1788), die „Kritik der Urteilskraft“ (1790) und durch zahlreiche andere Schriften.
Berühmte Elemente seines Werks wie der Kategorische Imperativ wurden etwa in der „Kritik der praktischen Vernunft“ entwickelt, vorgestellt bereits in der „Grundlegung der Metaphysik der Sitten“. Genannt sei der Essay „Was ist Aufklärung?“ oder die Spätschrift „Zum ewigen Frieden“.
Ganz richtig, aber um noch kurz etwas zur „Kritik der reinen Vernunft“ zu sagen: Was Kants breite Wirkung dokumentiert und ihn auch in manchem zum Philosophen der Französischen Revolution gemacht hat, ist weniger das Politische, sondern die Philosophie der Freiheit – ein Idealismus der Freiheit. Kant versucht zu zeigen, dass man die Freiheit des Willens, um die es heute ja auch wieder so oft geht, theoretisch nicht beweisen kann, also nicht aus theoretischen Gründen, wie etwa die Physik die Gravitationskraft messen kann. Aber es gibt eine Möglichkeit, die Freiheit des Willens philosophisch transparent und nachvollziehbar zu machen. Man kann also Gründe anführen, die zeigen, dass die Freiheit des Willens möglich ist. Es gibt Philosophen, die meinen, Willensfreiheit sei eine bloße Konstruktion, in Wirklichkeit gebe es sie gar nicht. Denn es sei unsinnig, die Freiheit des Willens in einem System der wirkenden Naturkräfte anzunehmen. Kant bestreitet nicht, dass die Naturgesetze universal gelten, aber es gebe doch gleichwohl Gründe, am Begriff des freien Willens für die Moral festzuhalten. Das ist das Wichtige an der Kritik. Kant sichert den freien Willen, den er in der praktischen Philosophie benötigt, um die Möglichkeit moralischen Handelns zu beweisen. Das zeigt er in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ und in der „Kritik der praktischen Vernunft“. Moralische Handlungen und Verantwortung sind nur möglich, wenn der Wille frei ist.
Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit
Was sind die Eckpunkte in Kants Philosophie, die ihn heute noch so aktuell und modern machen?
Da würde ich mit dem Schlagwort der kritischen Aufklärung antworten, kritisch im Kantschen Sinne, einer Selbstbesinnung auf das Denken und auf die Legitimität der Quellen des Wissens oder der Erkenntnis. Das spielt gerade heute in Zeiten der sozialen Netzwerke und der Digitalisierung wieder eine Rolle, wenn es um die Kriterien geht, die man anlegen muss, um die Zuverlässigkeit der Quellen unseres Wissens und der Information in den sozialen Netzwerken oder Medien allgemein zu verifizieren. Das steckt schon in dem Aufklärungsgedanken. Kant sagt schon in der „Kritik der reinen Vernunft“, dass wir zunächst ein klares Verständnis der Quellen unseres Wissens haben müssen. Hier bietet Kant überzeugende Argumente an, auch im Sinne eines anderen Zentralbegriffs, den er geprägt hat: den der Autonomie, das heißt der Selbstgesetzgebung. Sich nicht nur auf andere zu verlassen, sondern auf die eigene Vernunft als eine Art von Selbstvergewisserung.
Wie kann man seine Bedeutung politisch einordnen?
Kant hält an der Monarchie fest, allerdings nur im Sinne einer aufgeklärten konstitutionellen Monarchie unter Freiheitsrechten. Gegenüber dem Widerstandsrecht ist er eher zurückhaltend, auch was Meinungs- und Pressefreiheit betrifft. Er hält Letztere zwar für wichtig, sie dürfe aber nur nicht zu Umstürzen führen. Grundsätzlich muss man sagen, dass Kant kein Demokrat im heutigen Sinne war. Er war sogar ausdrücklich kritisch der Demokratie gegenüber. Die politische Ordnung müsse zwar freiheitlich-republikanisch sein; was wir bei ihm aber nicht finden, ist eine Theorie der Institutionen, zum Beispiel des Parlaments als Volksvertretung. Kant hat das Konzept des Föderalismus erfunden. Die Form der Staatlichkeit, in die zuletzt alles einmündet, ist der Föderalismus freier Staaten. Dafür macht er sich schon 1784, also gut zehn Jahre vor dem „Ewigen Frieden“ von 1795, stark. Als Kontraktualist in der politischen Philosophie, in Anschluss an Jean-Jacques Rousseau, ist für Kant die bürgerliche Verfassung oder der Staat dem Naturzustand, also dem staatenlosen Zustand, vorzuziehen. Die Sozialisierung oder der Staat wird erreicht durch eine Kombination von Kultivierung, Moralisierung und Zivilisierung der Menschen.
Was bei ihm hinzukommt und was ihn noch heute so interessant macht, ist die Auffassung, dass das Argument der friedlichen Koexistenz unter staatlichen Gesetzen auch auf die internationale Politik angewendet werden muss. Denn obwohl sie den Zustand der bürgerlichen Gesellschaft bereits erreicht haben, können Staaten untereinander noch immer im Natur- und damit im Kriegszustand sein. Deshalb müssen Staaten auf internationaler, multilateraler Ebene in einen Vertragszustand überführt werden und einen föderalen Staat gründen. Sonst würden sie sich untereinander zerfleischen, was außerdem den negativen Effekt hätte, dass die friedliche Koexistenz der Bürger eines Staates gefährdet wäre. Denn schon Kant stellt fest, dass die Kosten von Kriegen zwischen Staaten immer auf die Einzelbürger abgewälzt werden. Dieser Befund ist gerade heute von größter Aktualität.
In „Zum ewigen Frieden“ (1795) verknüpfte Kant also die Prinzipien der Demokratie mit dem eines internationalen Staatenbundes. Er forderte einen Völkerbund, der alle „Kriege auf immer endigen“ lasse. Nach dem Ersten Weltkrieg, als der Völkerbund auf Betreiben von US-Präsident Woodrow Wilson gegründet wurde, griff man diese Idee wieder auf.
Dies war nicht völlig neu, gab es doch bereits Theorien der internationalen Beziehungen: Hugo Grotius, Samuel von Pufendorf, Abbé de Saint-Pierre. Aber derjenige, der es in eine Theorie gegossen hat, war Kant. Er strebte nicht den auch für ihn letztlich unrealistischen Superstaat an, sondern eine föderalistische Staatenunion. Er war sich bewusst, dass die Bürger eines Staates nicht in Sicherheit und sozialer ebenso wie ökonomischer Zufriedenheit leben können, wenn nicht friedenssichernde Maßnahmen auf der Ebene der internationalen Beziehungen sichergestellt sind. Das war für viele Philosophen ein Anknüpfungspunkt. Wer dies später unter Gegenwartsbedingungen theoretisch weiterentwickelt hat, war John Rawls: einmal in der „Theory of Justice“ (1971) auf der Ebene des Einzelstaates und als Anschlussprojekt in „The Law of Peoples“ (1999) auf der Ebene der internationalen Beziehungen. Was diese Idee noch aktueller macht, ist der sogenannte Kosmopolitismus. Mit dem Kosmopolitismus oder Weltbürgerrecht führt Kant neben dem Staats- und dem Völkerrecht eine dritte Rechtsebene ein. Demnach haben Besucher fremder Territorien Rechtsanspruch auf friedliche Behandlung nach den Grundsätzen der Hospitalität. Kant begründet dieses Besuchsrecht mit dem gemeinschaftlichen Besitz der Oberfläche der Erde und ihrer territorialen Begrenztheit. Das ist heute das brennende Thema, wenn es um Fragen der Migration geht. Das Visitationsrecht war eine völlig neue Idee. Heute ist die Herausforderung ungleich größer als damals, schaut man sich die globalen Migrationsströme an.
Bewegen wir uns inzwischen nicht wieder von der Idee des Weltbürgers weg, gerade in Zeiten des verstärkten nationalistischen Denkens?
Aus Kants Perspektive sicher. Seine Idee, dass man beim Besuch eines anderen Staates dort durchaus auch Rechte hatte, spielte eine große Rolle. Diese Idee ist Bestandteil seiner internationalen, föderalistischen Friedenssicherungstheorie.
Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde
Manche Politiker von heute – siehe Donald Trump – verhalten sich alles andere als moralisch und sittengerecht. Was würde Kant dazu sagen?
Bei Kant muss die Politik Ausdruck der Moral sein. Er ist der Auffassung, entsprechend der „Kritik der praktischen Vernunft“ und des kategorischen Imperativs sowie seiner späteren politischen Philosophie, dass die Prinzipien der politischen Entscheidungsfindung und des Handelns dem Sittengesetz gemäß sein müssen. Der kategorische Imperativ muss also Handlungsmaxime auch für den Politiker sein. Auch Gesetze dürfen nicht unmoralisch sein, etwa solche, die die Diskriminierung von Minderheiten legalisieren würden. Die politische Realität sah schon zu Kants Zeit anders aus, obwohl er überzeugt war, dass Friedrich der Große nach aufgeklärten moralischen Prinzipien handelte. Natürlich war Kant sich darüber im Klaren, dass man niemanden äußerlich zwingen kann, dem kategorischen Imperativ gemäß zu handeln. Moralisches Handeln ist für Kant nur möglich auf der Grundlage von Autonomie und folglich durch Achtung vor dem Sittengesetz, das heißt aus Respekt vor der Moral selbst. Dies lässt sich zwar zum Beispiel durch Erziehung motivieren, aber die Achtung der Moral beruht letztlich auf Vernunftautonomie.
Einerseits war Kant Kosmopolit und Universalist, andererseits findet man bei ihm im Frühwerk und in seinen Vorlesungen auch Äußerungen, die zweifellos rassistisch waren, etwa wenn er über Afrikaner und Asiaten sprach. Muss man dies heute einbeziehen, wenn man über Kant spricht, oder ihn einfach als Kind seiner Zeit sehen?
Man muss dies einbeziehen und darf es auf keinen Fall ignorieren. Dies ist – leider – auch eine Seite von Kant. Es gibt rassistische Äußerungen in seinen Texten, das ist eine Tatsache. Man kann und darf sie nicht wegerklären. Vieles, was Kant schrieb, beruhte auf Lektüre nicht überprüfter Quellen und auf dem, was er sich offensichtlich selbst zusammengereimt hat. Anders, als manche Kritiker behaupten, ist seine Philosophie aber nicht in ihrer Gesamtheit von Rassismus durchdrungen. Dass sie allein für den weißen, kultivierten mitteleuropäischen Mann gedacht sei, ist m.E. eine unbelegte These. Belegbar ist, dass Kant in Fragen des Kolonialismus und vielleicht auch des Rassismus seine Auffassung 1795 geändert hat. Denn im „Ewigen Frieden“ kritisiert er ausdrücklich das anmaßende, menschenverachtende und moralisch verwerfliche Handeln der Europäer in Amerika, Afrika und Asien.
Zur Person: Dietmar Heidemann
Dietmar Heidemann ist seit 2009 Professor für Philosophie an der Universität Luxemburg. Studium der Philosophie, Geschichte und Politischen Wissenschaften an den Universitäten Köln und Edinburgh. Seine Dissertation schrieb er über „Kant und das Problem des metaphysischen Idealismus“. Zunächst war er wissenschaftlicher Mitarbeiter und Assistent, dann Privatdozent in Köln. Danach bis 2009 Professor für Philosophie in New York. Seit 2019 ist Heidemann Erster Vorsitzender der renommierten Kant-Gesellschaft. Außerdem ist er Mitglied der Kant-Kommission der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. „Kant hat das wichtigste philosophische Buch der Neuzeit geschrieben, manche würden sogar sagen, das wichtigste philosophische Buch bisher: ‚Die Kritik der reinen Vernunft’ (1781/1787)“, erklärt Heidemann. „Seine ethische Theorie prägt bis heute unsere moralischen Überzeugungen, die moderne Gesellschaft und Kultur.“ Kant habe gezeigt, „dass jeder Mensch ein Selbstzweck ist und grundsätzlich nicht bloß als Mittel zum Nutzen anderer Menschen betrachtet werden darf“. Dies habe sich eindeutig gegen die Sklaverei gerichtet. „Kant entwickelte das Konzept des selbstkritischen Denkens, begründete die Idee der Menschenrechte und der Menschenwürde und erfand den modernen politischen Föderalismus. Weltweit gibt es eine große Anhängerschaft seiner Philosophie, nicht zuletzt auch in asiatischen Ländern, besonders in China.
Zum 300. Geburtstag
Immanuel Kant wurde am 22. April 1724 in Königsberg, dem heutigen Kaliningrad, geboren, wo er auch am 12. Februar 1804 starb. In dem zu Russland gehörenden Kaliningrad wird er noch heute verehrt. In der Stadt erinnern viele Plätze an den großen Philosophen. Russlands Präsident Wladimir Putin nannte ihn seinen Lieblingsphilosophen, wie die staatliche Nachrichtenagentur TASS meldete. Auf Putins Direktive hin plant die russische Exklave für das Kant-Jahr zahlreiche Feierlichkeiten. Die Kant-Gesellschaft hat ihren in Kaliningrad geplanten XIV. Internationalen Kant-Kongress 2024 aufgrund des Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine der dortigen Universität entzogen.
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Als ich vor ein paar Jahren diesen Text gelesen habe, habe ich mich gefragt, wieso Herr KANT uns in der Schule als Säulenheiliger präsentiert wurde.
▪ Das Gesetz ist erhaben, Micha BRUMLIK, 07.02.2004, welt.de.
Micha BRUMLIK, 1947 in Davos (Schweiz) geboren, lehrt Pädagogik in Frankfurt / Main und ist gleichzeitig Direktor des „Fritz-Bauer“-Instituts.
„Immanuel KANT, der größte Philosoph deutscher Sprache, respektierte den jüdischen Glauben, genauer gesagt: dessen zentrale Idee, mindestens so sehr, wie er die Juden als Volk missachtete. Das hinderte ihn nicht, zu einzelnen Juden geradezu herzliche Beziehungen aufzunehmen, um sich gegen andere wiederum in einer Weise zu verhalten, die nur als ressentimentgeladen zu bezeichnen ist. (…) Minder vorteilhaft ließ sich KANT über einen anderen jüdischen Philosophen, über das autodidaktische Genie Salomon MAIMON aus, dem er in einem Brief an REINHOLD aus dem Jahr 1794 vorhielt, seine kritische Philosophie nachzubessern – ‚dergleichen die Juden gerne versuchen, um sich auf fremde Kosten ein Ansehen von Wichtigkeit‘ zu geben. Auch in Tischgesprächen wurde KANTs Ressentiment deutlich – 1798 gab er zu Protokoll, dass die Juden, solange sie Juden bleiben, der bürgerlichen Gesellschaft nicht nützlich werden könnten: ‚Jetzo sind sie die Vampyre der Gesellschaft.‘ In der ‚Anthropologie in pragmatischer Hinsicht‘ schließlich ist in einer Fußnote gar von den ‚unter uns lebenden Palästinensern‘ die Rede, einer ‚Nation von Betrügern‘. Man mag das alles dem empirischen Menschen KANT zurechnen – wie verhielt sich sein systematisches Denken zum Judentum? Vor allem: wie sollen wir heute – nach der Massenvernichtung der europäischen Juden – einen Satz lesen, der sich in Kants nachgelassenen Reflexionen zur Moralphilosophie findet: ‚Die Euthanasie des Judentums ist die reine moralische Religion mit Verlassung aller Satzungslehren, deren einige im Christentum noch zurück behalten bleiben müssen‘.“ (…)
MfG
Robert Hottua