Forum / Immer mehr Flecken auf der weißen Weste
Die „westlichen Demokratien“ verstehen sich als weltweites Vorbild für Menschenrechte, für Rechtsstaatlichkeit, für demokratische wie bürgerliche Freiheiten. Dieses Selbstverständnis der Europäer entspringt der „Magna Charta“, der „Erklärung der Menschenrechte“ sowie aus Errungenschaften wie dem allgemeinen Wahlrecht. Selbst wenn letzteres sich nur zögerlich durchsetzte. Im Land der Freiheit und Gleichheit, Frankreich, dauerte es bis nach dem Zweiten Weltkrieg, ehe die Frauen wählen durften. Im Mutterland der „direkten Demokratie“, der Schweiz, durften die Frauen erst ab 1971 an die Urnen.
Die „westlichen Demokratien“, das sind neben uns Europäern zunächst die USA, das Land der Freiheitsstatue, sowie ehemals imperiale Ableger wie Australien, Kanada oder Neuseeland. Gar Indien, die zahlenmäßig „größte“ Demokratie der Welt. Mit temporären Ausnahmen werden die Transplantate europäischer Kultur in Süd- und Mittelamerika zu den Demokratien gerechnet sowie, ehrenhalber, Japan und Südkorea.
Formal gesehen finden Wahlen fast überall statt. Selbst fest etablierte Diktatoren stellen sich periodisch dem Votum „ihres“ Volkes. Wobei Gegenkandidaten meistens handverlesen sind. Wie vor kurzem bei Putin in Russland. Oder bei Marschall Al-Sissi in Ägypten. Petro-Monarchen ersparen sich solche Maskeraden. Der Papst im Vatikan-Staat wird ja auch nur von einer begrenzten Zahl Kardinäle auserwählt.
Nationalismus ist auf dem Vormarsch
Die weltweit größte Demokratie ist ein Sonderfall. In Indien wird ein neues Parlament gewählt. Narendra Modi will eine dritte Amtszeit. Der Ministerpräsident modernisierte seit 2014 Indien wirtschaftlich und infrastrukturell, machte sich gleichzeitig die Medien und selbst die Gerichtsbarkeiten gefügig. Der um Modi organisierte Personenkult ist nur vergleichbar mit jenem eines Stalin oder eines Mao. Vor allem betreibt Modi eine oft blutig endende Hatz gegen die islamische Minderheit des Landes. Er verfolgt eine rassistische Politik der totalen Hinduisierung des indischen Subkontinents.
Wie Putin Nawalny und andere Widersacher eliminierte, schreckt auch das Modi-Regime nicht vom Ausschalten politischer Widersacher ab. Pakistan meldet die Ermordung von mindestens 20 indischen Oppositionellen auf seinem Territorium. Für Modis Mann fürs Grobe, Innenminister Amit Shah, waren es „Terroristen“. Dennoch habe Indien die Morde nicht veranlasst. Pakistan ist selbst keine Vorzeige-Demokratie. Gerichte verhinderten eine Wiederwahl des populären Imran Khan. Doch auch ein demokratisch untadeliges Land wie Kanada sieht die lange Hand Indiens hinter dem Mord an einem Sikh-Aktivisten in British Columbia.
Die viel gerühmte Demokratie ist abhängig vom jeweils geltenden Wahlrecht. In den USA, in Großbritannien, auch in Indien herrscht das K.o.-System. Gewinner eines Wahlkreises wird der Kandidat mit zumindest einer Stimme mehr als all seine Konkurrenten. Somit kann eine Partei die absolute Mehrheit der Sitze mit bloß einem guten Drittel der Gesamtstimmen erreichen. 2019 errang Modis BJP die absolute Mehrheit im indischen Parlament. Obwohl die „Partei des Indischen Volkes“ bloß 37% der abgegebenen Stimmen erreichte – bei einer Stimmenthaltung von 40% der möglichen Wähler.
Kampf um die „Unabhängigkeit“ der Richter
Die viel gerühmte Demokratie hat ihre Tücken. Die Rechtsstaatlichkeit ebenfalls. Wirklich unabhängige Gerichtsbarkeiten sind zwar der beste Garant für bürgerliche Freiheiten und gegen staatliche Willkür. Doch Richter sind auch nur Menschen. Müssen nominiert werden. Wobei in vielen Demokratien der Kampf um die „Unfehlbarkeit“ der richterlichen Beschlüsse bei der Nominierung der Richter beginnt. Siehe rezente Entwicklungen in Polen oder in Ungarn. In den USA hat der Oberste Gerichtshof eine absolute normative Kraft. Deshalb finden im Senat die heftigsten politischen Schlachten um die Nominierung der neuen Bundesrichter statt. Der Präsident schlägt vor, eine Mehrheit der 100 Senatoren bestimmt den Auserwählten. In Obamas letzter Amtszeit blockierte die republikanische Mehrheit die Nominierung des vorgeschlagenen Richters. Was es Präsident Trump erlaubte, in der Folge drei erzkonservative Richter in den Obersten Gerichtshof zu entsenden, in dem nun sechs Republikaner und drei Demokraten sitzen.
Unter den Republikanern stechen besonders Judge Samuel Alito und Judge Clarence Thomas befremdlich hervor. Deren beide Ehefrauen sind sehr radikale Trump-Aktivistinnen, die an die „gestohlene Wahl“ glauben. Nach dem Sturm der Trump-Anhänger auf das Kapitol am 7. Januar 2021 wehte am Haus von Judge Alito die US-Flagge umgekehrt, mit den Sternen zum Boden weisend. Ein Symbol gegen den angeblichen „Wahlbetrug“ von Biden. Alito behauptete, er hätte von der Initiative seiner militanten Gattin nichts gewusst …
Die wechselnde politische Gewichtung erklärt, weshalb der Oberste Gerichtshof der USA vor Jahren urteilte, die Todesstrafe sei mit dem Grundgesetz nicht zu vereinbaren. Mit einer anderen Besetzung erlaubten die Obersten Richter bei unveränderter Verfassung einige Jahre später erneut die Todesstrafe. Die vom Obersten Gerichtshof vor Jahren verfügte Abtreibungsfreiheit wird nunmehr von Trumps Obersten Richtern durchlöchert.
Widerspruch zu allen Rechtsprinzipien
Wenn es dienlich ist, können „waschechte“ Demokraten gar die Justiz austricksen. Die USA unterhalten seit 1903 auf Kuba eine Militärbasis auf einer Fläche von 117 km2 – fast so groß wie der Kanton Remich. Nach den Attentaten vom 11. September 2001 organisierte Präsident Bush seinen Kreuzzug gegen Bin Laden und Al-Kaida. Doch anstatt die gefangenen Terroristen vor Gericht zu stellen, wurden diese in Guantánamo inhaftiert und blieben somit außerhalb der Zuständigkeit amerikanischer Gerichte.
Der eigentliche Skandal ist nicht das Wegsperren von vermeintlichen oder echten Terroristen, sondern dass im Widerspruch zu allen Rechtsprinzipien, für welche die Demokratien weltweit eintreten, den Inhaftierten von Guantánamo kein Prozess gemacht wurde. Es gab nie ein Recht auf Verteidigung, kein Verfahren, keinen Richterspruch. Eingesperrt, basta!
Eine andere Demokratie, der Staat Israel, greift zu ähnlichen Methoden. Israel ist echten Terroranschlägen ausgesetzt. Nicht zuletzt am 7. Oktober 2023, als einige Hundert Hamas-Aktivisten Kibbuze und eine Rave-Party überfielen, an die 1.300 unschuldige Menschen töteten und an die 300 Menschen vieler Nationalitäten als Geiseln verschleppten.
Dass Israel sich wehren musste, ist eine Selbstverständlichkeit. Verankert im Völkerrecht. Doch vergreift die Netanjahu-Regierung sich in ihren Methoden. Die israelischen Gefängnisse füllen sich mit „Terroristen“, denen nie der Prozess gemacht wird. Zirka ein Drittel aller Inhaftierten sind in „administrativem Gewahrsam“. Darunter selbst israelische Staatsbürger arabischer Herkunft.
Um 30.000 bis 40.000 echte Hamas-Aktivisten zu eliminieren, lässt Netanjahu 2,2 Millionen Menschen – Kinder, Frauen, Kranke, Betagte – in Gaza hin und her jagen. Legt dort alle baulichen Strukturen, Schulen, Krankenhäuser, Wohnsiedlungen in Schutt. Lässt Verpflegung, Wasserzufuhr, Medikamente nur nach internationalem Druck durch. Wobei Hilfskonvois manchmal von fanatischen Israelis blockiert und gar zerstört werden.
Wer Israel kritisiert, wird als Antisemit abgekanzelt. Die Wahrheit ist eine andere. Die Hardliner um Netanjahu wollen in Gaza wie im West-Jordan ein Groß-Israel errichten, ethnisch gesäubert von Palästinensern, Beduinen, Drusen, selbst Christen. Dass eine steigende Mehrheit von Staaten in der UN-Vollversammlung dies verurteilen, gefolgt von immer mehr EU-Staaten und anderen bislang Israel-freundlichen Ländern, führt zur trotzigen Selbstisolierung der Netanjahu und Co. Dieser zählt offensichtlich auf einen Trump-Sieg im Oktober, da er mit Biden und steigenden Teilen der amerikanischen Öffentlichkeit zusehends auf Kriegsfuß steht.
Wenn 13 der 15 Richter des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag Israel dazu verurteilen, seinen totalen Zerstörungskrieg gegen die Bevölkerung von Gaza aufzugeben, hat dies nichts mit Anti-Zionismus oder Juden-Hass zu tun, sondern mit der objektiven Beurteilung von Fakten.
Gerade Staaten, die der Welt „demokratische Werte“ predigen, müssen ihr Handeln im Einklang bringen mit den so hoch gepriesenen ethischen Prinzipien. Weil dem immer weniger so ist, gerät die wahre Demokratie weltweit zusehends in Misskredit. Amerikaner wie Europäer verlieren ihren Glanz, und damit ihren Einfluss.
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