Musik / In jedem Ton liegt eine Hoffnung: Tocotronic veröffentlicht mit „Nie wieder Krieg“ Musik gegen die Vereinzelung
Mit 13 Alben und fast 30 Jahren Bandexistenz auf dem Kerbholz muss Tocotronic niemandem etwas beweisen. Auf „Nie wieder Krieg“ zitiert die Band Käthe Kollwitz, Ödon von Horvath und Sonic Youth und singt nur scheinbar dadaistisch über Sanifair und Herbes de Provence. In Wahrheit spannt die Platte einen Erzählbogen von Verzweiflung hin zur Hoffnung und verzahnt persönliche und kollektive Krisen.
„Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein“, „Die Idee ist gut, doch die Welt noch nicht bereit“, „Über Sex kann man nur auf Englisch reden“: Auf „Digital ist besser“ (1995), dem Debüt der Band um Sänger und Gitarrist Dirk von Lowtzow, war jeder zweite Songtitel ein T-Shirt-Slogan. Speziell der heutige Kultsong um die Jugendbewegung gab von Anfang an ein gutes Resümee einer Band, die ihre Politisierung zwar humorvoll und ein wenig um die Ecke dachte – sie aber stets ernst nahm und sogar als unabdingbar betrachtete.
Belegen tat sie dies während der Preisverleihung des VIVA-Musikpreises Comet im August 1996 – wer sich daran erinnert, dürfte sich, zumindest in einem popreferenziellen Kontext gesehen, alt vorkommen –, wo die Band in der Kategorie „Jung, deutsch und auf dem Weg nach oben“ einen Preis verliehen bekommen sollte.
Was damals durchaus Sinn ergab: Zusammen mit Bands wie Blumfeld und Die Sterne waren Tocotronic Teil der sogenannten Hamburger Schule, die sich u.a. durch eine ausgeprägte Linkspolitisierung und Selbstreferenzialität kennzeichnet(1). Zudem hatte die junge Band innerhalb von kürzester Zeit drei Platten – auf das Debüt folgten „Nach der verlorenen Zeit“ (1995) und „Wir kommen, um uns zu beschweren“ (1996) – herausgebracht und klang eigenwillig, kauzig und gleichzeitig mitreißend genug, um in der deutschen Musikszene für Aufmerksamkeit zu sorgen.
Die Band lehnte den Preis allerdings ab, was Bassist Jan Müller folgendermaßen begründete: „Wir sind nicht stolz darauf, jung zu sein. Und wir sind auch nicht stolz darauf, deutsch zu sein. Und auf dem Weg nach oben, na ja.“ Diese Verweigerungshaltung, die ein Sympathisieren mit der antideutschen Strömung nahelegte, war typisch für eine Band, deren allererster Song des allerersten Albums damit beginnt, dass von Lowtzow sich fragt, wieso er die Freiburger Fahrradfahrer so sehr hasst – ein Album, dessen vierter Song „Samstag ist Selbstmord“ heißt. Jahre später führt genau diese Haltung auf der Platte „Kapitulation“ (2007) zu einem Song, dessen Titel fast ein metaphysisches Statement ist: „Sag alles ab“.
Kurzum: Tocotronic brachte Politik, Selbstreferenzialität und Humor in die Popmusik – und dies zu einem Zeitpunkt, in dem der Pop hauptsächlich Hedonismus (Britpop) oder Weltschmerz (Grunge) besang.
„Komm mit in meine freie Welt“
Nach den ersten drei Platten, die allesamt zwischen Punk und geschrammelten DIY-Rocksongs oszillierten – manche warfen der Band vor, ihre Instrumente nicht zu beherrschen, und auch wenn das begeisterte Feuilleton von Lowtzows Texte stets lobte, wird beim erneuten Hören der ersten Platten klar, dass es damals begnadetere Sänger im Indierock gab –, wird die bestehende Klangpalette auf „Es ist egal, aber“ (1997) durch Synthies und Geigen angereichert, sodass sich wütende Tracks wie „Auf den Hund gekommen“ oder „Alles was ich will, ist nichts mit Euch zu tun haben“ mit ruhigeren Songs abwechseln: Auf „Sie wollen uns erzählen“ oder „Es ist egal, aber“ versucht von Lowtzow dann auch, einfühlsamer zu singen – mit mehr oder weniger Erfolg.
Auf den zwei folgenden Platten „K.O.O.K“ (1999) und dem selbstbetitelten weißen Album (ein deutlicher Verweis auf die Beatles) aus dem Jahr 2002 entwickelt die Band dann die Basis für den Trademark-Tocotronic-Sound, den sie auf der Berlin-Trilogie (die phänomenal guten, wenn auch im Schnitt etwas überlangen „Pure Vernunft darf niemals siegen“ (2005), „Kapitulation“ (2007) und „Schall und Wahn“ (2010)) noch mal perfektioniert.
Die Band verzichtet weitestgehend auf den Punk der Anfangstage, die Wut kanalisiert sich nunmehr in der Alltagsmetaphysik der von Selbstzweifel, Langeweile, Rebellion und Verweigerung durchdrungenen Lyrics. Auf instrumentaler Ebene dichtet Tocotronic dem klassischen Mid-Tempo-Indierock unzählige Variationen hinzu – bei Tocotronic sind die nur scheinbar einfach gestrickten Songs oftmals mehr als die Summe der einzelnen Teile.
Im Laufe der Jahre folgen einige Mutationen und Metamorphosen: 2004 wird die Band mit Neuzugang Rick McPhail (Gitarre) zum Quartett, die weiße Platte enthält, vielleicht weil dies nach Radioheads „Kid A“ unumgänglich ist, leichte Elektroelemente, 2007 löst sich ihre langjährige Plattenfirma L’âge d’or auf und die Band veröffentlicht bei Vertigo, sprich dem Major-Label Universal Music. Der Bandsound ist über die Jahre zahmer, gemächlicher, aber auch vielschichtiger und gewitzter geworden. Insgesamt aber sind sich Tocotronic über die Jahre treu geblieben, die Evolutionen von einer Tocotronic-Platte zur nächsten sind mittlerweile subtil. Und dennoch unterscheiden sich ihre Alben deutlicher als die Romane von Patrick Modiano – ein weiterer Meister der Beständigkeit innerhalb eines definierten stilistischen Rahmens.
Nach „Wie wir leben wollen“ (2013), einem verkopften, vielseitigen Doppelalbum, das laut von Lowtzow voller Doppelbödigkeiten war und zeigte, wie Pop zu einer diskursiven Ebene über kritische und queere Theorien werden konnte, ohne dabei (weitgehend) an Eingängigkeit zu verlieren, veröffentlichte die Band zwei Platten, die sich etwas von den (politischen) Slogans lösten und eine persönlichere Herangehensweise anpeilten.
Dabei war das selbst betitelte „Tocotronic“ (2015, auch noch bekannt, diesmal mit einem Verweis auf Weezer, als das „Rote Album“) hauptsächlich eine poppigere Platte, auf der Synthies und Samples das altbewährte Klangbild erweiterten und die stellenweise sogar an The Cure erinnerte. „Die Unendlichkeit“ (2018) – quasi von Lowtzows vertonte Autobiografie – war dabei definitiv dunkler, schwermütiger und melancholischer, als es der verspielte Vorgänger war – vom leichtfüßigen Nachfolger gar nicht erst zu reden.
„Es gibt uns immer noch, wir sind noch nicht vorbei“
Unendlich lange sollte es bis zur nächsten Klangmeldung von Tocotronic nicht dauern: Knapp zwei Jahre nach der letzten Platte meldete sich die Band mitten in der Pandemie mit „Hoffnung“ zurück, einem Track, der im Gegensatz zu vielen der in der Isolation zusammengeschusterten Songs über die Pandemie nicht nur ordentlich produziert, sondern auch wahrhaftig einfühlsam war – und in diesem Sinne Owen Palletts quasi gleichzeitig erschienenen „A Bloody Morning“, das durch sein Video, in dem Menschen einsam in ihren Wohnungen tanzen, noch ergreifender wird, ebenbürtig ist.
Der Song, der bereits vor der Pandemie entstanden war, bekam im Kontext des ersten Lockdowns eine zusätzliche, sehr konkrete Bedeutungsebene: Bei den Streichern, der Akustikgitarre, und von Lowtzows Text („Bleib nicht stumm/Ein kleines Stück Lyrics and Music/Gegen die Vereinzelung/In jedem Ton/Liegt eine Hoffnung“) denkt man unweigerlich an diese Zeit der totalen „Vereinzelung“ zurück – eine Zeit, deren Konsequenzen wir gerade zu tragen beginnen. Die gute Nachricht: Die „Hoffnung“ hat es, zusammen mit ein paar anderen schönen Balladen, auf die neue Platte geschafft.
Wer jetzt beim Wort „Ballade“ an ein langes und/oder langsames Alterswerk denkt und im Vorhinein kapitulieren möchte, sollte noch etwas weiterlesen: Im Vergleich zu den direkten Vorgängerplatten, die allesamt tolle Songs parat hatten, jedoch am Ende oftmals etwas ausfransten und an Überlängen litten(2), kommt „Nie wieder Krieg“ erstaunlich schnell auf den Punkt.
Dabei wirkt das auf Anhieb gar nicht so: Opener „Nie wieder Krieg“ ist eine etwas schleppende Ballade, die gegen Ende mit Weihnachtsglocken gar etwas kitschig daherkommt und folglich im Kontrast zum Titel steht, der das bekannte Käthe-Kollwitz-Plakat von 1924 quasi ironisch zitiert. So will Tocotronic auch auf der 13. Platte noch verwirren: Wo früher ein wildes Punk-Manifest den Titel ausgemalt hätte, liefert von Lowtzow heute ein intimistisches Stück über persönliche Zerrissenheit: „Er sieht an sich herab/Wirkt ziemlich abgeschabt/Ein Coupon von Sanifair/Gleitet in die Hand als er/Durch das Drehkreuz geht/Sich gegenüber steht/Und in den Spiegel schreit/Nie wieder Krieg“.
Trotzdem wirkt der Opener im Tracklisting etwas fehl am Platz, was das darauffolgende „Komm mit in meine freie Welt“ unterstreicht: Der kurze, schmissige Track mit Sonic-Youth-Dissonanzen überzeugt sowohl textlich wie auch musikalisch und wäre folglich, wie auch Kollege Frank Goebel meinte, der bessere Auftakt gewesen.
Überhaupt wird sich instrumental in den folgenden Tracks verdammt viel beim amerikanischem Indierock der 90er bedient: Das Riff der tollen Single „Jugend ohne Gott gegen Faschismus“, das den Sonic-Youth-Song „Youth Against Fascism“ und den bekannten Ödon-von-Horvath-Roman im Titel vereint, könnte auch aus den rockigeren R.E.M.-Zeiten stammen, das darauffolgende „Ich gehe unter“ verbindet die Euphorie eines gemächlichen Dinosaur-Jr.-Songs mit dunklen und gleichzeitig schelmischen Lyrics, die (vielleicht) die Bedeutungslosigkeit weißer, männlicher Intellektueller thematisiert: „Ich gehe unter/Ferner liefen/In die Geschichte ein/Das muss dir klar sein/Wenn du dich mit mir triffst/Die Welt verändert sich/Ohne mich“.
„Ich habe dich noch nie gesehen, oben bei den Lebewesen“
Nicht nur instrumental ist die erste Album-Hälfte kohärent: „Ich gehe unter“, „Ich tauche auf“ und „Ich hasse es hier“ spinnen einen erzählerischen Spannungsbogen über Trennung und Selbstauflösung. Interessanterweise sind der erste und letzte Song dieser Trilogie trotz dunkler Lyrics musikalisch eher lebensbejahend. Im Zentrum steht dabei das perlende „Ich tauche auf“, das mit der Sängerin Soap & Skin a.k.a Anja Plaschg nicht nur der erste gesangliche Gastauftritt der Band ist: Das in ein schönes Hall getauchte Duett ist Album- und Karriere-Highlight zugleich.
Auf „Nie wieder Krieg“ gelingt es Tocotronic zudem, die bei dieser Band manchmal von Füllern heimgesuchte zweite Plattenhälfte anspruchsvoll zu gestalten: Die B-Seite des Albums beginnt mit einer weiteren thematischen Trilogie, die mit den Titeln „Nachtflug“, „Ein Monster kam am Morgen“ und „Crash“ Metaphern der Verzerrung, der Entstellung des lyrischen Ichs zeichnen, aber auch die Flucht, die Bewegung und das Zeitverstreichen thematisieren. Auf der unbeschwert-melancholischen Berlin-Nocturne „Nachtflug“ singt von Lowtzow: „Das vorletzte Glas/Trink ich nicht aus/Dann mach ich mich mit den Vögeln/Auf den Weg nach Haus“, wo ihn anschließend das Morgenmonster begrüßt – „Ein Monster kam am Morgen/Tief schlief ich als es sich ins Zimmer schlich/Ich sah ihm in die Augen/Sah ihm ins Gesicht und erkannte mich“.
Auf diese mit Harfen, Streichern und Glockenspiel verzierte Ballade folgt das nach vorne peitschende, mit verspieltem Autotune aufwartendem „Crash“, auf dem Träume das lyrische Ich überholen, sich „gegen ihn wenden“ und ihn nachts auf der Straße „blenden“. Nach all diesen Verwandlungen ist der Erzähler dann auch „leicht lädiert/Wenn nicht gar derangiert“.
Aber auch wer lädiert und derangiert ist, darf noch hoffen und vermag es noch, zu lieben: Da wo die „Hoffnung“ einen realen Lichtblick darstellt, ist die „Liebe“ als Echo auf den Krieg im Opener zu verstehen, sieht von Lowtzow in ihr doch etwas Bedrohliches: „Sie hält dich im Griff/Und dreht dich um/Und schaltet dich stumm/Und verdunkelt den Hass/Nur so zum Spaß/Die Liebe kann das.“
Im Endeffekt wohnt dieser Platte, die den Bogen vom Krieg zur Liebe spannt, ergo thematisch auf den ersten Blick ziemlich episch klingt, eine wunderbare Leichtigkeit inne, eine Verspieltheit, die die einzig richtige Art ist, den eigenen Ruf zu verwalten. Tocotronic tut dies mit Selbstreferenzialität, viel Humor und hat den Blick stets nach vorne gerichtet – auch wenn da womöglich ein böser Traum, ein „Crash“ oder ein „Aufprall“ wartet.
Bewertung: 8 von 10 Punkte
(1) Siehe den Songtitel „Wir sind hier nicht in Seattle, Dirk“, der ein klarer Verweis auf die Kluft zwischen der Brutstätte des Grunge und der deutschen Hafenstadt ist.
(2) In einem rezenten Interview mit dem Musikexpress erklärt Schlagzeuger Jan Müller, die Band würde grundsätzlich jeden Song, den sie aufnimmt, unter irgendeiner Form veröffentlichen.
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