Gesellschaft / In Luxemburg fehlen Arbeitsmediziner – „Alsat“ warnt vor Notstand
Eine Reform der Arbeitsmedizin und eine Ausbildung in dem Beruf im Land: Das fordert die „Association luxembourgeoise de santé au travail Asbl.“ (Alsat) – und zwar schon seit Jahren. Es fehlt an Arbeitsmedizinern im Land und an universitären Voraussetzungen für die Ausbildung des Nachwuchses.
Zwei- bis dreimal die Woche gibt Marc Jacoby Kurse zu Themen wie „Vorsorge für psychische Gesundheit“, „Neurowissenschaft und Sicherheit“ oder „Persönlichkeitsbezogenes Management“ für seine „Schützlinge“. Der Arbeitsmediziner und Präsident der Alsat ist bei ArcelorMittal zusammen mit zwei anderen Kollegen für zwischen 5.000 und 6.000 Beschäftigte zuständig. Das sind die Mitarbeiter der verschiedenen Betriebsstätten des Unternehmens des Stahlriesen in Luxemburg sowie anderer Unternehmen wie Paul Wurth, Aperam und Traxys.
Davon arbeiten rund 1.200 Menschen im administrativen Bereich. Prävention ist ein Schwerpunkt in seiner Rolle als Arbeitsmediziner, die in den Augen der Alsat viel zu kurz kommt. „Als Arbeitsmediziner wird man oft auf die Tauglichkeitsbescheinigungen reduziert“, sagt Jacoby. „Dabei ist Prävention viel wichtiger.“ Gesundheitsrisiken am Arbeitsplatz zu ermitteln und Faktoren am Arbeitsplatz zu überwachen, die Auswirkungen auf die Gesundheit des Arbeitnehmers haben können, sind die Schwerpunkte von Arbeitsmedizinern.
Es fehlt an Nachwuchs
Das legt der „Code du travail“ fest. Noch schlimmer sieht es beim „Service de santé au travail multisectoriel“ (STM) aus. Im STM sind 50.000 Unternehmen organisiert, die nicht wie ArcelorMittal einen eigenen arbeitsmedizinischen Dienst haben. Das heißt, der STM ist für 300.000 Beschäftigte zuständig. Konkret kommen auf einen der aktuell 50 Arbeitsmediziner beim STM 7.000 bis 7.500 Mitarbeiter, obwohl gesetzlich ein Arzt nur maximal zwischen 3.000 und 5.000 Mitarbeiter betreuen soll.
„Wir laufen immer hinterher und müssen dauernd Prioritäten setzen“, sagt Nicole Majery, Vizepräsidentin der Alsat und gleichzeitig Direktionsbeauftragte des STM. „Obwohl wir gerne mehr machen würden.“ Es fehlt an Arbeitsmedizinern. Von den 50 Ärzten beim STM arbeiten 43 in Teilzeit. Um den gesetzlich vorgeschriebenen Schlüssel von 5.000 Erwerbstätigen pro Arzt zu halten, müssten es 60 Ärzte in Vollzeit sein.
Es fehlt an Nachwuchs und die Situation ist lange bekannt. Schon 2012 hielt ein vom damaligen LSAP-Gesundheitsminister Mars Di Bartolomeo in Auftrag gegebenes Audit zur Situation der Arbeitsmedizin in Luxemburg ein „Rekrutierungsdefizit“ fest. Das gibt es vor allem bei Medizinern, die Luxemburgisch sprechen. Es liegt der Redaktion vor und rät, den Bedarf für die nächsten 15 Jahre bei steigenden Erwerbstätigenzahlen zu analysieren.
Fragebögen ersetzen die Untersuchung
An seinen Untersuchungstagen berät und behandelt Jacoby durchschnittlich 16 Beschäftigte pro Tag. Eine halbe Stunde nimmt er sich für sie Zeit im Sinne eines Vertrauensverhältnisses zwischen Arzt und Patient. Im „Service de santé au travail multisectoriel“ versucht man zwar auch das Beste, hat aber mit „Risikobranchen“ wie Transport, Baubranche oder Pflegekräften in Altenheimen eine ganz andere Klientel. Schon jetzt arbeiten beim STM vier Arbeitsmediziner, die über 65 Jahre alt und im Rentenalter sind.
„Wenn sie nicht da wären, wäre die Situation noch schlimmer“, sagt Majery, die seit 1996 als Arbeitsmedizinerin arbeitet. Um die Tauglichkeitsuntersuchungen für Taxifahrer, Elektriker, Schreiner oder Dachdecker zu garantieren, müssen andere Untersuchungen vor allem im Bürobereich durch Fragebögen ersetzt werden. Die häufigsten Probleme sind Knochen-, Gelenk- oder Rückenschmerzen. Hinzu kommen verstärkt psychische Probleme.
„Das eine hängt oft mit dem anderen zusammen“, sagt Jacoby. Er und seine Vizepräsidentin sind überzeugt, dass neben einer anderen Arbeitsteilung durch Delegieren an Fachkräfte für eine Ausbildung von Arbeitsmedizinern im Land gekämpft werden muss. Sie gibt es bislang nicht, was das nächste Problemfeld eröffnet. Sechs Jahre Studium absolvieren Mediziner im Durchschnitt, dann haben sie die Basisausbildung. Danach folgt die Spezialisierung zum Facharzt, die im Bereich Arbeitsmedizin noch einmal vier Jahre dauert.
Universitäre Ausbildung fehlt
Jacoby ist Allgemeinmediziner, Majery ist Chirurgin. Wer Arbeitsmediziner werden will, kann als Quereinsteiger nach zwei Jahren die „Autorisation de travail comme médecin du travail“ erwerben. „Médecin spécialiste en médecine du travail“ darf sich nur nennen, wer vier Jahre Weiterbildung zum Arbeitsmediziner macht. Für beides müssen Bewerber ins Ausland, da es die Ausbildung an der Universität Luxemburg noch nicht gibt.
Luxemburg hat eine Vereinbarung mit dem Nachbarn, um den praktischen Teil der Fachausbildung zu machen, kann aber die Theorie nicht anbieten. „Das hätten wir gerne“, sagt Jacoby, denn seit 2014 wird über eine Ausnahmeregelung zwischen Belgien und Luxemburg ausgebildet. „Das bedeutet eine Abhängigkeit, aus der wir angesichts des generellen Mangels herausmüssen“, sagt Majery. Die Ausnahmeregelung wurde erst letztes Jahr zwischen beiden Ländern verlängert.
„Wenn sie das nicht mehr tun, haben wir keine Lösung“, sagt sie. Jeder ausbildende Betrieb versucht, den Nachwuchs an sich zu binden. Das ist nicht nur in der Arbeitsmedizin so. Der Kampf der Alsat um die Zukunft der Arbeitsmedizin in Luxemburg dauert schon lange. Immerhin bewirkt das Mars-Di-Bartolomeo-Audit von 2012, dass der „Conseil supérieur de la santé et de la sécurité au travail“, wie er im „Code du travail“ vorgesehen ist, ab dann wieder zusammenkommt.
Keine nennenswerten Fortschritte
Der mit Ministerialbeamten, Unternehmens- und Gewerkschaftsvertretern sowie Arbeitsmedizinern und einem Juristen besetzte Rat hatte seit 1998 nicht mehr getagt. Er übt beratende Funktionen bei den Ministern aus, die für Gesundheit, Arbeit und soziale Sicherheit zuständig sind. Die Arbeitsmedizin steht nicht an oberster Stelle der politischen Agenda. Bis 2018 tagte der „Conseil“ regelmäßig, seitdem ist er erneut ausgesetzt.
Allerdings gibt es seit 2019 einen „Accord de principe“, dass die Ausbildung von Arbeitsmedizinern als Teil des neuen Studiengangs Medizin eingeführt wird. Das war kurz bevor das Gesetz vom 5. August 2020 erlassen wurde, das lediglich die Ausbildung für Onkologen, Neurologen und Allgemeinmediziner an der Universität Luxemburg regelt. An Lehrplänen dafür hat die Alsat mitgewirkt. In einem Brief, den die Alsat zusammen mit dem OGBL, LCGB und der UEL im Januar 2022 an Gesundheitsministerin Paulette Lenert schrieb, machte sie erneut auf die Notwendigkeit einer Ausbildung im Land aufmerksam.
In ihrer Antwort verwies die Ministerin auf eine Entscheidung der Universität Luxemburg in der Sache, die für Mai 2022 erwartet wird. Mittlerweile ist ein neuer Brief der gleichen Absender an die Gesundheitsministerin unterwegs, in dem die Unterzeichner die Aktivierung des „Conseil supérieur“ fordern. Praktisch passiert ist bislang (noch) nichts.
Arbeitsmedizin in Luxemburg
Die Arbeitsmedizin ist in unterschiedlichen Diensten geregelt. Das sind der „Service de santé au travail multisectoriel“ (STM), „Service de santé au travail de l’industrie“ (STI) für Industrieunternehmen, die „Association pour la santé au travail du secteur financier“ (ASTF) für die Finanzindustrie, der „Service inter-entreprises de santé au travail de l’entente des hôpitaux luxembourgeois“ für Beschäftigte im Gesundheitswesen. Daneben gibt es betriebseigene Dienste der Arbeitsmedizin. Diese gibt es bei ArcelorMittel, Dupont de Nemour, Cactus und CFL. Für Beamte gibt es einen eigenen arbeitsmedizinischen Dienst, die „Division de la santé au travail du secteur public“.
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