Booker Prize (1) / In „Second Place“ schreibt Rachel Cusk über die Freiheit, kaputt zu sein
In „Second Place“ porträtiert die kanadische Schriftstellerin Rachel Cusk das zwiespältige Verhältnis zwischen einer unbekannten Schriftstellerin und einem berühmten Künstler, dessen Werk für ihr Leben wegweisend war und den sie in ihren Wohnsitz einlädt, wo dieser ihr Familienleben nach und nach sabotiert. „Second Place“ ist ein sehr dichter, melancholischer Roman über das Verhältnis zwischen Kunst und Wirklichkeit, Schaffen und Leben.
Nach einer ersten turbulenten Lebenshälfte, die sie stets nur in rätselhaft-abstrakten, poetischen Andeutungen erläutert, hat sich M, eine relativ unbekannte Schriftstellerin, mit ihrem Partner Tony an die Küste zurückgezogen, wo sie ein unbeschwertes, leicht redundantes Dasein fristet, das im starken Kontrast zu ihrer Vergangenheit steht. Diese Vergangenheit wird in den starken ersten Sätzen von „Second Place“ quasi allegorisch umrissen: „I once told you, Jeffers, about the time I met the devil on a train leaving Paris, and about how after that meeting the evil that usually lies undisturbed beneath the surface of things rose up and disgorged itself over every part of life.“
Weil sie zwar die Nähe zum Kulturmilieu nicht unbedingt vermisst – recht früh erzählt sie von einer Begegnung mit einem selbstverliebten Schriftsteller, die quasi als pars pro toto für ihre Wertung der urbanen, selbstgefälligen Kulturschaffenden steht –, ihr die Nähe zur kreativen Energie des Kulturschaffenden jedoch fehlt, hat sie zusammen mit Tony das „Second Place“ ganz in der Nähe ihres Zuhauses errichtet. Regelmäßig empfängt das Paar Kulturschaffende, die sich dort in einer mehrmonatigen Residenz ungestört ihren aktuellen Projekten hingeben können. Das symbiotische Nebeneinanderleben folgt einem impliziten Regelwerk, in dessen Zentrum der Respekt der Privatsphäre und der unverbindliche Austausch stehen.
Weil das Werk von L, einem durch und durch exzentrischen Künstler, sie damals so geprägt hat, dass sie bei der Wahl ihres abgelegenen Zuhauses nur deswegen eingewilligt hat, weil die sumpfige Landschaft sie an ein Gemälde von L erinnert hat, ist es Ms innigster Wunsch, diesen Künstler einzuladen – mit der klammheimlichen Hoffnung, dass dieser nicht nur das Moor, sondern auch sie selbst spannend genug finden wird, um sie in einem seiner dunklen Kunstwerke zu verewigen. Als L nach langem Hin und Her endlich eintrifft, läuft natürlich nichts so wie geplant – der Künstler trifft in Begleitung der jungen, wunderschönen, unbeschwerten Brett auf, die M quasi zur Begrüßung vorschlägt, ihre grauen Haarsträhnen zu färben, das Paar kommt zudem mit einem Privatjet an und scheint an der rustikalen, jedoch liebe- und geschmackvoll eingerichteten Bleibe nur wenig Gefallen zu finden – Brett spricht von einer „cabin in the woods, straight out of a horror story“.
Empathie vorspielen
L ist eine teuflische Künstlerfigur, ein ewiger Agent provocateur, der den Familienalltag seiner Gastgeber auf den Kopf stellt – wobei sich die Frage natürlich stellt, inwiefern diese mühelose Umwälzung alteingefrorener Beziehungsreflexe und Verhaltensschemata absichtlich ist. Kann ein wahrer Künstler anders als durch seine Art, sein Leben so zu leben, wie es seine Kunst ihm auferlegt, bürgerliche Lebensweisen zu hinterfragen, ihren Rahmen zu sprengen, sie zu sabotieren? L, dessen Eltern einen Schlachthof betrieben und dessen durch und durch traumatische Kindheit ein dunkles, gewalttätiges Frühwerk gebar, das bei Kunstkritikern auf Begeisterung stieß, ist ein ruheloser Nomade, ein getriebener Künstler, der sich nirgendwo zu Hause fühlt, dem „Empathiespiel“ nichts abgewinnen kann und in dessen Gegenwart die Dinge konturlos und abstrakt werden. „Likewise he had never been able to build anything permanent with other human beings“, erklärt M. Ihr Partner Tony ist der genaue Gegenpol: „Tony refuses to see anything as a game, and by that he reveals how other people play games and how their whole conception of life derives from the subjectivity of the game-playing state.“
Im Gegensatz zum stillen, naturlieben Tony scheint für L alles ein Spiel zu sein: Wer mit der Tragik groß geworden ist, erkennt stets das Groteske hinter dem Ernst der Wirklichkeit und wer in der Kunst mögliche Welten schafft, weiß, dass unsere Realität in Wahrheit nur eine quasi zufällig ins Leben gerufene Variante von schier unendlich vielen möglichen Wirklichkeitsversionen ist: „I often think there’s just as much to be said about what you thought would happen as about what actually did.“ Ein bisschen wie Michael Shannons Figur im Film „Revolutionary Road“ brechen L und Brett das mühsam in die Bahnen geleitete Gleichgewicht im Haushalt auf und entstellen die Lebensgewohnheiten von Tony und M, aber auch von Ms Tochter Justine und deren Partner Kurt – Justine entwickelt sich vom melancholischen Ebenbild ihrer Mutter zu einer Kopie der unbeschwerten, freizügigen Brett, während Kurt dem manipulativen L auf den Leim geht und sich an der Schriftstellerei in der Form eines langatmigen Fantasy-Epos versucht. Trotz seiner Verspieltheit sieht L seine Existenz als gescheitert: „Don’t mistake my life for anything other than a tragedy“, erklärt er M in einem ihrer zögerlichen Gespräche.
„Nothing exists except what one creates for oneself“
Wesentlich sind in Cusks Roman aber weniger die Geschehnisse, sondern die Art, wie die Erzählerin diese mit ihren teils poetischen, teils metaphysischen, stets dichten Überlegungen über das Spannungsfeld zwischen Kunst und Wirklichkeit, Kunstschaffenden und Kunstrezipienten, über strukturelle Genderhierarchien, die die (Kunst-)Welt in männliche Selbstverständlichkeit (denn, so M, sogar männliches Scheitern bleibt immer noch eine Form der Freiheit) und weibliche Unsicherheit unterteilen, verknüpft. Wie viel kann der Künstler von der Welt absorbieren, und wie viel muss er der Welt zurückgeben? Ist das Leben jedes Künstlers ein Affront, eine Hinterfragung der Wirklichkeit – oder zumindest des Wirklichkeitskonsenses, der zu einem funktionierenden Gesellschaftssystem führt? Ist die Möglichkeit, seine Innenwelt in einem Kunstwerk nach außen zu tragen, ein Geschenk oder eine Last?
Obwohl sich L und M aus dem Weg gehen – bei seltenen kollektiven Treffen entgeht es M nicht, dass L sich stets so weit weg wie möglich von ihr platziert –, treffen sich beide immer wieder und sehen sich aufgrund der verstörenden Anwesenheit des anderen dazu gezwungen, sich mit sich selbst und der Vergangenheit auseinanderzusetzen. So zwingt Ls Distanz M, ihre eigene Weiblichkeit und dem von außen auferlegten Zwang, gefallen zu wollen oder zu müssen, zu konfrontieren: „I’m not the kind of woman who intuitively understands or sympathises with other women, probably because I don’t understand or sympathise all that much with myself.“ So zeigt „Second Place“ auch, wie Männer durch jahrhundertlange soziostrukturelle Dominanz Unterlegenheitsgefühle und Unsicherheiten bei Frauen quasi intuitiv ausnutzen – und wie solche Machtstrukturen auf ein Kulturmilieu, das sich auf heuchlerische Art durch Gleichheit, Emanzipation und Toleranz vom Rest der Welt abgrenzen will, abfärben.
Cusks „Second Place“, dessen Metatext – Mabel Dodge Luhans Memoiren über die Zeit, die Schriftsteller D.H. Lawrence bei ihr in Taos, New Mexico, verbracht hat – man nicht unbedingt gelesen haben muss, um die Erzählung in ihrer ganzen Tragweite zu erfassen, ist einer dieser Romane, deren textliche Dichte und Reichhaltigkeit bewirken, dass die Gedanken, Dialoge und Spannungsfelder zwischen den verschiedenen Figuren einen noch lange nach der Lektüre beschäftigen – auch wenn verschiedene erzählerische Manierismen mitunter etwas aufgesetzt wirken.
Zum Buch
„Second Place“ von Rachel Cusk, 2021 Faber and Faber, 210 Seiten.
Rachel Cusks Roman ist eines von 13 Büchern, die es auf die Long List des Booker Prize geschafft haben. Der Preis wird am 3. November verliehen. In den kommenden Monaten wird das Tageblatt die Romane der Long und Short List besprechen.
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