Gesellschaft / Internationaler „Rare Disease Day“: Leben mit einer seltenen Krankheit
Ratlose Ärzte und Patienten, die sich nach einer Odyssee durch Wartezimmer mit ihren Beschwerden allein gelassen fühlen: Menschen mit einer seltenen Krankheit haben es schwer. Oft dauert es Jahre, bis die Diagnose steht. Die „ALAN asbl. – Maladies rares Luxembourg“ ist eine Anlaufstelle, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, zu helfen.
Wenn Sylvie Loschetter (58) an ihre Kindheit und Jugend zurückdenkt, kommen unangenehme Erinnerungen hoch. Es ist eine permanente Suche nach Schatten und dem Drang, ihre Haut zu bedecken. Sie selbst bezeichnet sich als „Schattenspringerin“. Unter dem Einfluss von Tageslicht hat sie das Gefühl, als lägen ihre Hände und andere Körperteile in brennendem Feuer.
Ohne Kopfbedeckung, langärmelige T-Shirts und Hosen geht sie lange nicht aus dem Haus. Grillabende mit Kollegen oder Ausflüge sind die Hölle. „Als Kind habe ich mich manchmal im Auto in den Fußraum gekauert“, sagt sie. An Strandurlaube ist nicht zu denken. Jahrelang leidet sie unter extremen Schmerzen und blutunterlaufenen, geschwollenen Flecken auf der Haut. „Das schlägt auf die Seele“, sagt sie.
Die Ärzte sind ratlos, vermuten damals noch eine Art Sonnenallergie bei ihr. Erst mit 37 Jahren, im Jahr 2000, kommt heraus, was sie hat. Der Anruf eines Spezialisten aus Paris klärt, dass sie an „erythropoetischer Protoporphyrie“, kurz EPP, einer seltenen Stoffwechselkrankheit, leidet und zwar von Geburt an. Sie ist genetisch bedingt. Das passt ins Bild.
Die meisten Erkrankungen sind genetisch bedingt
Von 6.172 einzigartigen, seltenen Krankheiten sind 71,9 Prozent genetisch bedingt, hielten Forscher in einem Fachartikel, der im „European Journal of Human Genetics“ 2020 publiziert wurde, fest. 69,9 Prozent dieser Krankheiten treten im Kindes- und Jugendalter auf, hieß es dort weiter. Loschetter findet 2016 Hilfe in der Schweiz.
In Zürich wird ihr seitdem alle acht Wochen ein Röhrchen mit dem Wirkstoff Afamelanotid unter die Haut an den Hüften eingepflanzt. „Seitdem ist es wesentlich besser“, sagt sie. „Ich muss mich nicht mehr verstecken.“ Die neun Forscher des Fachartikels schätzen, dass weltweit zwischen 263 und 446 Millionen Menschen von einer seltenen Erkrankung betroffen sind.
Das entspricht einem Prozentsatz zwischen 3,5 bis 5,9 Prozent der Gesamtbevölkerung. Auf Basis dieser Prozentsätze schätzt die ALAN, die die zentrale psycho-soziale Anlaufstelle für Betroffene ist, dass in Luxemburg rund 30.000 Menschen an einer raren Krankheit leiden. Der psychische Druck ist enorm.
Lange wissen sie nicht, was mit ihnen los ist. Kollegen und Familie reagieren oft nicht so, wie es vielleicht tröstend wäre. Fragen nach dem Verlauf und der Lebensperspektive bleiben unbeantwortet. Die Suche nach einer Diagnose ist quälend. Das will die Anlaufstelle ALAN ändern.
Die Anlaufstelle gewinnt an Bedeutung
Deren Direktor ist seit 2019 Daniel Theisen (52). Der Rehabilitationswissenschaftler und Doktorand der katholischen Universität Löwen (B) kommt damals zur rechten Zeit. Ein Jahr zuvor wird der nationale Plan zu seltenen Krankheiten beschlossen. Darin werden die seltenen Krankheiten offiziell als „Problem der öffentlichen Gesundheit“ anerkannt, was sie damit ins Licht der Öffentlichkeit rückt.
Der nationale Plan definiert zahlreiche Ziele, von denen einige – trotz erschwerender Coronabedingungen – schon umgesetzt sind. Vor einer Woche ist der erste „Guide national des maladies rares“ fertig geworden. Er vereinigt alle Adressen und Erklärungen zu bestehenden Anlaufstellen im Land. Die Infoline für Betroffene, Familienmitglieder und Angehörige des medizinischen Bereiches ist bei der ALAN eingerichtet und es gibt eine enge Kooperation mit dem „Centre hospitalier de Luxembourg“ (CHL).
Die Klinik hat einen Zugang zu den „European Reference Networks“, das Experten zu seltenen Krankheiten europaweit vernetzt. „Der Zugriff auf diese Daten verkürzt einiges für die Patienten“, sagt ALAN-Direktor Theisen. Im Schnitt dauert es fünf Jahre, bis die Diagnose steht. Der Plan hat aber noch andere Effekte. Die Anlaufstelle erlebt einen regelrechten Höhenflug.
„Wie ein Pinguin“
562 Patienten haben im Jahr 2021 Hilfe erhalten, im Jahr davor waren es noch 402. Tendenz: steigend. Auch Laurent Agostino (25) kennt die ALAN, ist sogar Mitglied, hat die Dienste aber eher weniger genutzt. „Wir haben uns immer selbst schlau gemacht”, sagt er. An guten Tagen kann er knapp 300 Meter alleine gehen, danach muss er in den Rollstuhl.
Agostino leidet an einer speziellen Form einer degenerativen Muskelerkrankung. Der sperrige Name lautet Emery-Dreifuss-Muskeldystrophie, kurz EDMD. Seine Muskeln bauen sich nicht auf, sondern bilden sich zurück. Die Sehnen sind verkürzt. Nicken kann er beispielsweise wegen Versteifung – wenn überhaupt – nur schwer. Gehen ist nur auf Zehenspitzen möglich, sein Gang ist schwankend.
„Wie ein Pinguin“, sagt er lakonisch über sich selbst. Die Krankheit ist genetisch bedingt und nicht heilbar. Gibt es ein Medikament? „Gute Laune“, sagt er und lacht. Einkaufen gehen sei „nicht so sein Ding“, sagt er. Soweit er weiß, ist er der Einzige mit dieser Erkrankung in Luxemburg. „Wenn weniger als eine Person von 2.000 davon betroffen ist, gilt diese Krankheit als selten“, bestätigt ALAN-Direktor Theisen.
Agostino hat sich mit seiner Einschränkung arrangiert. Er arbeitet an der Schule, wo er sein Abitur gemacht hat. Das ist im Schülersekretariat des „Lycée de Garçons Esch/Alzette“ (LGE). Dort kennen ihn viele seiner jetzigen Kollegen noch als Schüler. „Wenn es Kisten zu schleppen gilt, wissen sie: nicht den Laurent fragen“, sagt er. Sein Humor ist echt bewundernswert.
„ALAN asbl. – Maladies rares Luxembourg“
Die ALAN besteht seit 1998 und feiert 2023 ihr 25-jähriges Bestehen. Die Asbl. hat nach eigenen Angaben circa 400 Mitglieder. Der „Rare Disease Day“ am 28. Februar ist der wichtigste Tag im Jahr für den Verein. Bei dieser Gelegenheit werden politische Entscheidungsträger und die Öffentlichkeit für rare Krankheiten sensibilisiert. Unter dem Titel „RaReflections“ veranstaltet die ALAN in diesem Jahr eine Fotoausstellung mit 16 großformatigen Porträts von Menschen mit seltenen Erkrankungen. Die Porträts stammen von der Fotografin Sophie Margue. Sie läuft seit 24. Februar 2022 in der „Verrière“ des Hauptbahnhofs Luxemburg und ist noch bis zum 31. März zu sehen. Die Vereinigung beschäftigt elf Mitarbeiter.
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