Theater / „Intervention“ im Kasemattentheater – Ein ganz normaler Selbstbetrug
Rebekka Kricheldorfs „Intervention“ ist eine bitterböse Fabel über Abhängigkeit, Freundschaft und Sinnstiftung im späten Kapitalismus. Sandra Reitmayer verwandelt den Text in ein überzeugendes Kammerspiel mit prägnanten Dialogen, einer empathischen Figurenzeichnung und einem intelligent eingesetzten Bühnenbild. Nur wirkt das Stück manchmal zu viel wie eine Abhandlung über die Vor- und Nachteile des Rauschzustandes – und kommt in Luxemburg in reduzierter Version auf die Bühne.
Man kennt die Situation aus amerikanischen Sitcoms: Eine Figur soll den besten Freund auf ein Aperitif treffen, im Wohnzimmer des Kumpels erwartet sie jedoch eine Auswahl an Freunden, Bekannten, Familienangehörigen und Berufskollegen. Auf eine Tafel oder ein Schild hat jemand das Wort „Intervention“ gekritzelt, der spontan gebildete Hilfstrupp erklärt der erst mal ratlosen, schockierten oder erbosten Figur mithilfe von anmaßenden Urteilen, ungelenken Liebeserklärungen und heuchlerischen Euphemismen, dass sie auf die schiefe Bahn geraten ist und man ihr dazu verhelfen will, wieder den „richtigen“ Lebenspfad einzuschlagen.
An der ersten Szene von Rebekka Kricheldorfs „Intervention“ hätten Lewis Carroll und David Lynch durchaus Gefallen gefunden: Der Fußboden, ein von einem psychotropen Rausch verzerrtes Schachbrett, wirkt wie vom Architekten der „Black Lodge“ aus Twin Peaks konzipiert, darauf tanzen kostümierte Gestalten – eine trägt eine Drehscheibe mit abgebildeter Spirale, eine weitere erinnert an ein entstelltes, mehrarmiges Pendant von Spider-Man, noch eine fungiert eine unwahrscheinliche Kreuzung aus Lampenschirm und Qualle. Aus dem Off ertönt die Droge selbst. Sie philosophiert schelmisch über ihre soziologische Funktion und die Vielfältigkeit ihrer Erscheinungsformen: „Ich bin eine recht verwaschene Person.“
Kurz darauf verwandeln sich die animierten Objekte in Elemente der Inneneinrichtung einer hippen Wohnung zurück. Der Rausch ist vorbei, die Intervention kann beginnen. Annika (Eli Johannesdottir) hat Lillys (Eugénie Anselin) Jugendfreundin Frans (Anouk Wagener) und ihren Onkel Arkasha (Raoul Schlechter) in ihre Wohnung eingeladen. Der Grund? Sie macht sich Sorgen um Lilly, deren Leben sich nach ihrem Jura-Studium und einer gescheiterten Beziehung nunmehr auf das Weggehen und den Rausch fokussiert.
Verwaschene Figuren
Ein Treffen mit Lilly, so Annika, beginnt mit einem Restaurantbesuch im „wilden Schwein“. Meistens hat Lilly bereits vorgeglüht. Danach zieht sie durch die Nacht, die Bekanntschaften am Tresen werden nach einem für Annika bedenklichen Auswahlkriterium geschlossen: Wer weiter in die nächste Kneipe zieht, ist interessant, wer auf Alkohol verzichtet eine „frigide Sau“.
Kurz vor Lillys Eintreffen stellt sich heraus, dass sich die drei Figuren weder über das Ausmaß des Problems noch über die Vorgehensweise einig sind: Während Annika die im Laufe eines Abends von Lilly konsumierten Getränke auflistet, gibt Frans mit einem Schulterzucken zu verstehen, dass sie diese Quantität als völlig normal ansieht. Onkel Arkasha schlägt die direkte Konfrontation vor („Lilly, wir finden, du trinkst zu viel“), Annika verdeutlicht daraufhin, dass sie den optimalen Ablauf einer solchen Intervention recherchiert und man sich an ihr Narrativ zu halten habe. Als Lilly eintrifft, zeigt sie sich natürlich entsetzt darüber, dass Familie und Freunde ein Treffen hinter ihrem Rücken vereinbart und sie in einen Hinterhalt gelockt haben, um sich die „Deutungshoheit über ihr Leben“ zu sichern.
Viele Dialoge wirken wie auf den Luxemburger Alltag, in dem es fast unmöglich ist, der Gesellschaftsdroge Alkohol zu entkommen, maßgeschneidert – hierzulande wird schließlich jedes ach so banale Treffen mit einem Umtrunk abgeschlossen, oft steht dieser sogar implizit im Zentrum und wirkt als Köder für all diejenigen, die sonst kaum zum Konveniat, zur Konferenz oder zur Bauerntheatervorstellung erschienen wären. Vor der Aufführung am Freitag meinte jemand, es habe bisher kaum eine Vorstellung im Kasemattentheater gegeben, bei der keine Bierflasche im Publikum umgekippt wäre. Auch während „Intervention“ hörte man die Flasche klirren – kurz darauf fragt Lillys Onkel nach den Trinkgewohnheiten seiner Nichte. Es wirkte fast wie ein Regieeinfall.
„Il faut être toujours ivre“
Im Laufe von „Intervention“ hört man die gängigen Klischees der Befürworter des Hedonismus: Interessante Begegnungen erlebt man meistens während durchzechter Nächte, kein denkwürdiges Erlebnis hat je mit einer Tasse Fencheltee begonnen, ohne Alkohol und Drogen bestände die Weltliteratur aus sterbenslangweiligen Werken, die von ebenso sterbenslangweiligen Dichtern verfasst worden wären. Zeitgleich arbeiten die Figuren sich an den Argumenten der Abstinenzler ab – ein Fragebogen über Lillys Alkoholkonsum zieht den Zuschauer auch deswegen in den Bann, weil man sich selbst dabei erwischt, Annikas Rhetorik, die auf Schuldzuweisung und dem Generieren von Schuldgefühlen basiert, zu verurteilen. Kricheldorfs schnelle Dialoge sind clever, pointiert, und viele One-Liner funktionieren wahnsinnig gut.
Die verschiedenen Standpunkte werden auf die vier Figuren verteilt, deren Äußerungen sich aber im Laufe des Textes immer wieder an der Weltsicht der anderen Figuren reiben. Schnell verfangen sie sich in den eigenen Widersprüchen, verlaufen sich im Labyrinth ihres verzerrten Selbstbildes. Poetin Frans sieht sich selbst als „staatlich geprüfte Irre“, will nach dem Kredo von Charles Baudelaire („il faut être toujours ivre“) leben, könnte sich diese „vie bohême“ ohne elterliche Unterstützung aber gar nicht leisten, Annika hat ihre Karriere als Meeresbiologin für Mann und Kind aufgegeben und Onkel Arkashas Hippie-Fassade bröckelt während der Nacht langsam ab – selbstgemachten Schmuck an blasierte Touristen zu verkaufen war wohl doch nicht sein Lebenstraum. Für Lillys Freunde sind die Gene schuld, für den Onkel das soziale Umfeld: Kricheldorf zeigt, dass wir im Laufe unserer Existenzen zu Experten im Selbstbetrug werden und der Neoliberalismus niemanden wirklich glücklich macht. Das Einzige, was im späten Kapitalismus noch wächst, ist die Unzufriedenheit.
Es sind dann auch die vier Darsteller, die der mitunter etwas binären Rhetorik (ermutigt die Droge den kreativen Ausbruch aus dem Alltag oder ist sie bloße Flucht vor der Wirklichkeit?) die notwendige Dynamik verleihen – Johannesdottirs Annika ist von einer vorzüglichen Spießigkeit, Wagners Poetin schreibt furchtbare Lyrik und ist grandios von Klischees befangen, Schlechters Hippiefigur zeigt sich gen Ende von einer fast berührenden Tristesse und Anselin gibt den nervösen, aufgebrachten Wirbelwind – eine Figur, die sie in letzter Zeit vielleicht bereits zu oft verkörpert hat.
Einige Wendungen und Figurenentwicklungen sind zu voraussehbar und im Laufe der letzten Szene entwickelt Annikas Figur eine Tiefe, die sie während der ersten 70 Minuten nicht hatte. Dies wirkt wie ein verspätetes Postskriptum – hätte man Elemente dieser späten Epiphanie über die Handlung verstreut, hätte man sich diese etwas aufgesetzt wirkende Szene ersparen können.
Die Droge als Fiktionsgestalt
Im Originaltext von Kricheldorf ist die Droge eine fünfte Figur, die ständig in das Geschehen eingreift, in Sandra Reitmayers Inszenierung wird diese allegorische Figur an den Rand des Stückes gedrückt – der Monolog der Droge bildet hier nur noch die beiden Rahmenszenen des Stückes. Die Trennung von Allegorie und realistischer Handlung funktioniert szenisch äußerst gut, reduziert das Geschehnis aber zu einem soziologischen Fallbeispiel, an dessen Ende wie bei den Fabeln von La Fontaine eine zwiespältige Moral steht („jeder ist abhängig und wir betrügen uns ständig selbst“). So verpasst es Reitmayer, dem naturalistischen Kammerspiel auch inszenatorisch eine Tiefe zu verleihen, die durch das skurrile Bühnenbild nur angedeutet wird.
Am Ende stellt Kricheldorf fest, dass wir alle abhängig sind – „gefahrvoll ist zu allererst die Nüchternheit“, mahnt die Droge. Ein Morgen ohne Kaffee, ein Abend ohne Wein, Schmerzen ohne Tabletten, Liebeskummer ohne den lindernden Rausch – den Mut zur Nüchternheit haben die wenigsten. Selbst die Kargheit eines suchtlosen Lebens schafft eine latente Form von Sucht, weil man von jeder Lebenseinstellung, jeder Sinnstiftung, jedem Ritual abhängig werden kann. David Foster Wallace, der mit „Infinite Jest“ eine der wichtigsten und dunkelsten Fiktionen über Sucht geschrieben hat, kam zur gleichen Schlussfolgerung. „Intervention“ zeigt eindrucksvoll, dass unsere Gesellschaft von mehr oder weniger pathologisierten Abhängigkeitsstrukturen durchzogen ist – und wir alle äußerst unzuverlässige Erzähler unserer eigenen Existenzen sind.
Info
Intervention
Von: Rebekka Kricheldorf
Mit: Eugénie Anselin, Eli Johannesdottir, Raoul Schlechter, Anouk Wagener
Regie: Sandra Reitmayer
Bühne und Kostüm: Silvie Naunheim und Lisa Fütterer
Sounddesign: Marco Melis
Assistenz: Sara Goerres
Technik: Pascal Klein
Weitere Vorstellungen: am 27., 28. und 29. Januar im Kasemattentheater
Eine Koproduktion des Kasemattentheaters mit opderschmelz.
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