Gesellschaft / Interview mit „déi Lenk“-Politikerin Line Wies: „Es müsste jeder Tag ein Weltfrauentag sein“
Die Ungerechtigkeiten fallen Line Wies (33) das erste Mal so richtig am Theater auf. Sie erlebt, wie festgelegt die Geschlechterrollen sogar im Kunstbetrieb sind, obwohl er sich als „frei“ versteht. In ihrer Masterarbeit in Soziologie arbeitet sie das Thema unter dem Titel „Genderpolitik und Sexualitäten“ auf. Als parlamentarische Mitarbeiterin von „déi Lénk“ arbeitet sie heute daran, dass sich einiges ändert und steht für eine junge Generation von Feministinnen.
Tageblatt: Frau Wies, Sie sind Politikerin, sitzen im Gemeinderat von Esch. Von 19 Räten sind 13 Männer. Wie ist es denn so in dem Männerclub?
Line Wies: Ich fühle mich als junge Frau nicht diskriminiert, wenn Sie das meinen. Aber diese Männerrunde hat schon etwas von „entre soi“, und wer jetzt der beste Rhetoriker ist. Ich erlebe das oft als Hahnenkampf, ohne dass dabei Kompetenzen an erster Stelle stünden.
Ich höre häufig, dass sich gerade junge Frauen in solchen Runden nicht ernst genommen fühlen …
Ich hatte das Gefühl nicht, aber ich habe auch dafür gesorgt, dass es nicht so ist. Ich gehe selbst gerne in die Offensive. Das hat mich sehr viel Arbeit und Energie gekostet. Als ich Sprecherin der „déi Lénk“-Fraktion im Gemeinderat wurde, wusste ich, dass sie bei meiner ersten Rede darauf warten, dass ich vielleicht anfange zu labern oder zu stottern. Das war ein Riesendruck, vor allem, weil es bei einer Budgetdebatte war. Aber das hat mich stimuliert, es allen zu zeigen. Typisch Frau, übrigens.
Wieso?
Als Frau investiert man sehr viel mehr Arbeit in eine Art autoritäre Selbstdarstellung als Männer. Da musste ich mich viel mehr anstrengen.
Wie wichtig ist Ihnen der Weltfrauentag, den es schon seit über hundert Jahren gibt?
Für mich ist das Symbolpolitik, womit ich das aber nicht als unwichtig abwerten will. Deswegen haben wir bei der JIF (Plattform von 14 Organisationen, die sich für mehr Frauenrechte einsetzen, Anm. d. Red.) diesen Tag zum Anlass genommen, einen Streik auszurufen. Das klingt kämpferischer, auch wenn Frauen an dem Tag kein Streikrecht haben. Das ist zwar genauso Symbolpolitik wie der Tag selbst, aber wir wollen uns damit von Blumensträußen oder Kaffeetreffen abgrenzen. Wir (bei der Plattform JIF) sind alle der Meinung, es müsste jeder Tag ein Weltfrauentag sein.
Sind Sie für die Quote oder dagegen?
Ich finde es nicht sehr wertschätzend, eine Quotenfrau zu sein. Aber wenn es sie nicht gäbe, säßen noch weniger Frauen auf wichtigen Posten.
Sind Sie das nicht auch? Sie haben im Gemeinderat nicht rotiert, wie es bei „déi Lénk“ üblich ist …
Das stimmt. Diese Entscheidung hat mir andererseits aber die Möglichkeit gegeben, mich politisch zu entwickeln. Manche Dossiers verstehe ich erst jetzt richtig … und baue mir ein Archiv im Kopf auf. Ich hatte, ganz ehrlich gesagt, nie das Gefühl, in dem Kontext eine Quotenfrau zu sein. Die Entscheidung zur Spitzenkandidatur war eine bewusste.
Was hat die Metoo-Bewegung gebracht?
Sehr viel. Sie hat es fertiggebracht, dass Frauen plötzlich darüber nachdenken: Ist mir das auch schon passiert? Wie sieht es eigentlich bei mir am Arbeitsplatz aus? Und sie hat an den „normalen“ Kräfteverhältnissen gerüttelt, die männlich geprägt sind.
Hat Metoo nicht auch Tabus gebrochen?
Mit Sicherheit. Das hatte einen sehr kollektiven Charakter. Eine fängt an, andere werden aufmerksam und trauen sich dann selbst, damit herauszukommen. Es ist ein schönes Zeugnis von Solidarität unter Frauen.
Frauen sind als Kassiererinnen, Kranken- und Altenpflegerinnen oder Erzieherinnen in, wie wir seit der Pandemie wissen, systemrelevanten Berufen tätig. Trotzdem erfahren sie wenig Anerkennung. Vom Händeklatschen können sie sich nichts kaufen …
Bei der JIF gibt es ein geflügeltes Wort: „Wenn wir Frauen streiken, steht die Welt still.“ Damit ist die systemrelevante Lohnarbeit gemeint, die am meisten von Frauen geleistet wird … aber auch die unbezahlte „Care“-Arbeit, das heißt Sorgearbeit von Frauen in Haushalt und Familie. Die würde die Volkswirtschaften einiges kosten. Das ist mittlerweile berechnet, und das kann sich kein Staat leisten. Und selbst wenn Frauen in systemrelevanten Berufen arbeiten, sind einige dieser Jobs schlecht bezahlt oder gesellschaftlich unterbewertet. Das ist ja etwas, das wir bekämpfen wollen und wofür der Feminismus eintritt.
Man könnte als ältere Frau, die mit dem Feminismus sympathisiert, aber das Gefühl haben, viel geändert hat sich da nicht. Oder?
Stimmt. Christine Delphy (französische Soziologin und Feministin, Anm. d. Red.) hat schon in den achtziger Jahren gesagt, „Les femmes travaillent plus. Deux fois plus“. Damit war gemeint, dass ein normaler Arbeitstag im Leben einer Frau nicht dann aufhört, wenn Feierabend ist und die Lohnarbeit abgeschlossen ist. Danach werden die Kinder in der Kita abgeholt, und zu Hause wird dann weiter gearbeitet – im Haushalt.
Hat der Elternurlaub da nicht einiges geändert?
Wir haben in Luxemburg keine neueren empirischen Studien, wie die Verteilung der Sorgearbeit zwischen Männern und Frauen ist und wieviel sich diesbezüglich geändert hat. Eine Beobachtung aber ist jetzt schon belegt: Männer nutzen den „Congé parental“ eher fragmentiert – also nicht komplett zu Hause, sondern einen Tag oder zwei die Woche. Sie arbeiten oft in Positionen, wo das kein Problem ist, natürlich auch weil Vaterschaft in der Unternehmenskultur als etwas Positives angesehen wird. Ob das jetzt in puncto Kinderbetreuung und Mitarbeit am Haushalt tatsächlich etwas geändert hat, müsste mal erforscht werden. Wenigstens nehmen Männer ihn jetzt eher in Anspruch, was nicht darüber hinwegtäuschen soll, dass viele sich das nicht leisten können.
Also ist der „Congé parental” eher was für Gutverdiener in unbefristeten Arbeitsverhältnissen?
Man erhält ja 80 Prozent des Gehalts während der Zeit. Und ich erlebe, dass viele, die in befristeten Verhältnissen arbeiten, sich das nicht leisten können – auch wenn sie in der Zeit gut verdienen. Ich spreche jetzt vor allem den Kunstbetrieb mit Projektarbeit und Zeitverträgen an. Der „Congé parental“ müsste auch für sie zugänglicher sein.
Sie haben sich in einem öffentlichen Statement sehr differenziert zur Petition für zwei freie Tage wegen Menstruationsbeschwerden geäußert. Warum?
Ich habe versucht zu erklären, dass das für Frauen eventuell zu einer weiteren Stigmatisierung am Arbeitsplatz führt. Frauen werden in Vorstellungsgesprächen, obwohl das nicht legal ist, ganz direkt gefragt, ob sie Kinder wollen. Wenn Männer Vater werden, hat das eher eine soziale Anerkennung zur Folge. Bei Frauen ist es nach wie vor eher diskriminierend. Sie fällt jetzt aus. Das ist diskriminierend. Ein „Menstruationsurlaub“ könnte eine weitere Hürde sein, Frauen einzustellen. Ich plädiere für eine Lösung, die genau das vermeidet, und will eine breite gesellschaftliche Debatte zu dem Thema. Arbeitszeitverkürzung ist für mich ein Teil der Lösung.
Hilft Gendern in der Sprache in Ihren Augen?
An Sprache manifestieren sich ja Gedankenwelten. Die Sprache bedingt, wie wir unsere Welt wahrnehmen. Gendern ist gewöhnungsbedürftig, manchmal nervig, aber ein Hilfsmittel, auf die gängige, ausschließlich „universell-männliche“ und heteronormative Perspektive aufmerksam zu machen. Wenn wir als Politiker es nicht machen, warum sollen sich dann unsere Wähler damit beschäftigen? Gendern hat ganz sicher eine Vorbildfunktion. Das ist wie mit den Quoten.
Die US-amerikanische Geschäftsfrau und Co-Geschäftsführerin von Meta Plattforms (vormals Facebook) Sheryl Sandberg hat mal gesagt, „die wichtigste Karriereentscheidung für Frauen ist die Wahl des Partners“. Unterschreiben Sie das?
Es braucht keinen Partner, um seine Karriere in den Griff zu bekommen. In einer Partnerschaft sollte es normal sein, sich gegenseitig den Rücken zu stärken. Es wäre doch sehr problematisch, wenn Frauen ihre Karriereentscheidungen vom Partner abhängig machen. Für mich ist ein wichtiger Teil der Frauenbewegung, dass Frauen lernen, für sich selbst zu sorgen. Gerade weil sie dazu erzogen werden, sich um andere zu kümmern.
Was brauchen Mädchen, um zu starken Persönlichkeiten zu werden?
Die Revolution. Ein komplett neues Gesellschaftsmodell, das auch auf Dauer die Werte, die man dem „Weiblichen“ zuschreibt, neu ordnet. Dann gelte Rosa nicht als „niedlich“ und unterwürfig, sondern als „Empowerment“. Und Sorgearbeit wäre nicht was für Schwächlinge, sondern das, was unsere Gesellschaft stärkt und die Wirtschaft dominiert. Sich sorgen als menschliches Grundprinzip halt.
JIF
JIF ist die Abkürzung für „Journée internationale des femmes“. Unter dem Kürzel haben sich zum 100-jährigen Jubiläum des Weltfrauentages 2011 rund 20 Organisationen (acht davon werden auf der Webseite erwähnt) zusammengeschlossen. Der Zusammenschluss hat Plattform- und Networking-Charakter und bringt sowohl die institutionalisierten Akteure der Frauenbewegung wie auch private Akteure mit ehrenamtlichem und militantem Hintergrund zusammen. JIF will die „politische Dimension des 8. März sowie die Errungenschaften des Feminismus als Konzept und Bewegung in den Vordergrund“ stellen, wie es auf der Webseite heißt. 2020 fand der erste „Fraestreik“ statt. Heute um 17.00 Uhr ist der nächste. Treffpunkt ist am Bahnhof der Hauptstadt. Info: fraestreik.lu
Zur Person
Line Wies (33): geboren 1988 in Luxemburg. Aufgewachsen in Esch; nach dem Abitur 2008 geht sie nach Paris, um Theaterwissenschaften an der „Sorbonne Nouvelle“ zu studieren. Danach arbeitet sie als Dramaturgin und Schauspielerin in Theaterkompagnien. 2015 erwirbt sie einen Masterabschluss in Soziologie an der „École des hautes études en sciences sociales“ (EHESS). Diese Erfahrung politisiert sie und bringt sie noch enger mit dem Feminismus in Berührung. 2017 kehrt sie nach Luxemburg zurück und tritt als Spitzenkandidatin von „déi Lénk“ bei den Kommunalwahlen in ihrer Heimatstadt Esch an. Mit 9,5 Prozent der Stimmen erringt die Partei zwei Sitze. Line Wies zieht als Gemeinderätin ins Rathaus der Minettestadt. Sie ist parlamentarische Mitarbeiterin ihrer Partei und arbeitet in deren Büro in der Hauptstadt.
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