Kinderbetreuung / Interview mit Sozialexpertin Petra Böwen: „Aus armen Kindern werden arme Erwachsene“
Die soziale Benachteiligung wirkt sich nicht nur auf die schulische Bildung aus, sondern auch auf die außerschulische Betreuung. Familien mit geringerem Einkommen haben häufig das Nachsehen bei der Suche nach Betreuungsplätzen. Sozialexpertin Petra Böwen erklärt die Zusammenhänge.
Tageblatt: Jedes fünfte Kind in Luxemburg ist armutsgefährdet. Das Bildungssystem verringert nicht die sozialen Unterschiede, sondern vergrößert sie sogar. Welche Rolle spielen dabei die Betreuungseinrichtungen?
Petra Böwen: Wir sprechen hierbei von der formalen und non-formalen Bildung. Seit ein paar Jahren hat theoretisch jedes Kind Anspruch auf einen Platz in einer Kinderbetreuungseinrichtung (Crèche, Maison relais).* Bildungsminister Claude Meisch hat, seit er im Amt ist (elf Jahre, Anm. d. Red.) ein ganzes Bündel an Maßnahmen ergriffen und Sonderstrukturen geschaffen. Erst kürzlich kündigte er zusätzliche Angebote an. Das Problem ist nur, dass ein Großteil der benachteiligten Kinder keine Chance hat, einen Platz in den Einrichtungen zu bekommen. Das stellte vor kurzem die Organisation für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit (OECD) fest. 66 Prozent der Kinder aus finanziell schlechter gestellten Haushalten gehen leer aus, gegenüber 46 Prozent der Kinder aus besser gestellten Haushalten.
Die Einführung von Gratis-Kindertagesstätten wurde positiv betrachtet. Auch gilt als Ziel die flächendeckende Ausstattung mit Betreuungsplätzen.
Die Gemeinden sind verpflichtet, diese Betreuungsplätze anzubieten. Das eine ist, dass es nicht genügend gibt. Nach wie vor fehlen über 4.000 Plätze in „Maisons relais“. Das andere ist, dass es nicht genug professionelles Personal, also Erzieherinnen und Erzieher, gibt. Es wurden zwar Gesetze und Reglements verabschiedet, damit es die Plätze überhaupt gibt. Aber es wurde nicht geschaut, wie man das machen kann. Das Pferd wird sozusagen von hinten aufgezäumt. Wenn innerhalb von sieben bis acht Jahren die Zahl der Plätze von 8.000 auf mehr als 60.000 steigen … Man hätte sich schon vorher überlegen sollen, woher das Personal kommen soll und wie es adäquat ausgebildet werden kann. Die qualitativen Ansprüche sind sehr hoch – was auch gut ist. So heißt es, dass die Kinder, bevor sie in die Schule gehen, ein non-formales Angebot bekommen. Dann muss es aber auch die Möglichkeit geben, daran teilnehmen zu können.
Betrifft es also nicht nur die „Maisons relais“, sondern auch die frühkindliche Erziehung?
Ja. So kann es vorkommen, dass es zum Beispiel 400 Plätze und 600 Nachfragen gibt.
Liegt es in der Verantwortung der einzelnen Gemeinden?
Es ist eine Zusammenarbeit mit dem Ministerium, das seinen Anteil bezahlt. Andererseits müssen die Gemeinden die Plätze zur Verfügung stellen und das Personal haben.
Minister Meisch hat zur „Rentrée“-Pressekonferenz angekündigt, dass es neue Ausbildungsmöglichkeiten für Erzieherinnen und Erzieher am „Lycée Bel-Val“ gibt. Ist das noch immer zu wenig?
Das reicht nicht aus. Das andere große Problem betrifft die Ausbildung selbst. Sie haben in der Regel die „Educateurs diplomés“, die die Kinder betreuen. Die Leitung einer Einrichtung liegt jedoch in der Regel bei „Educateurs gradués“, mit einem Bachelor-Abschluss. Da ist der Fachkräftemangel noch viel größer. Außerdem werden die Herausforderungen größer: Viele Kinder brauchen mehr, speziellere oder professionellere Betreuung. Die Ausbildung am „Lycée technique pour professions éducatives et sociales“ (LTPES) bietet seit Jahren eine fachspezifische Ausbildung auf Deutsch/Französisch an. Mit der sogenannten Passerelle wurde eine einjährige Ausbildung eingeführt. Unter der letzten Regierung sollte die LTPES noch ein zweites Standbein in Belval bekommen. Jetzt heißt es, dass das „Lycée Bel-Val“ die Erzieherausbildung anbietet. Es ist zwar richtig, zu versuchen, neue Arbeitskräfte zu bekommen. Andererseits sind diese dann nicht mehr so gut ausgebildet wie am LTPES. Auf alle Fälle ist es ein qualitativer Unterschied. Auch die sprachspezifische Ausbildung – deutsch oder französisch – ist eigentlich ein Rückschritt und für mich eine falsche Botschaft an die Professionellen.
Zulasten der Kinder. Wie wirkt sich das soziale Gefälle aus?
Es ist längst wissenschaftlich erwiesen, dass es Kinder aus soziokulturell benachteiligten Haushalten viel schwerer haben. Aus armen Kindern werden arme Erwachsene. Es hat sich zwar vieles verbessert. Aber die Schicht spielt nach wie vor eine Rolle. Es gibt in Luxemburg das „Revis“, die Sozialhilfe, die sozial benachteiligte Familien finanziell unterstützt. Nach der Philosophie des früheren RMG-Gesetzes von 1986, damals das fortschrittlichste in Europa, sollten Bedürftige nicht nur finanzielle Unterstützung bekommen, um einen Weg aus der Armut zu finden, sondern erhielten ein ganzes Bündel von zielgruppenspezifischen Maßnahmen. In den letzten Jahrzehnten, nicht nur in Luxemburg, hat sich dies immer mehr auf die Arbeitsfähigkeit konzentriert. Dem Anliegen von Familienministerin Corinne Cahen (DP), die für das „Revis“-Gesetz zuständig war, liegt die Philosophie zugrunde, dass man über die Arbeit der Armut entrinnen kann. Dass dies so nicht stimmt, wissen wir inzwischen angesichts des hohen Anteils von „Working poor“ in Luxemburg. Natürlich gibt es Erwachsene, die aus irgendeinem Grund arbeitslos wurden und die dann unterstützt werden müssen, um wieder auf den ersten Arbeitsmarkt zu kommen. Aber für all die anderen gibt es im Moment keine adäquaten Maßnahmen mehr. Diese Familien müssen betreut werden.
Besonders betroffen sind nach wie vor Alleinerziehende.
Ja. Das „Office national d’inclusion sociale“ (ONIS) ist für die Maßnahmen zuständig. Im letzten Jahresbericht des Familienministeriums stand, dass es für mehr als 60 Prozent keine adäquaten Maßnahmen gab. Und ein großer Teil davon sind Alleinerziehende. Davon sind 87 Prozent Frauen. Das ist ein Dilemma: Die Alleinerziehende bekommt keinen Betreuungsplatz für ihr Kind, weil sie ja nicht arbeitet. So kann sie weder ihren Lebensunterhalt verdienen noch kann das Kind von der non-formalen Bildung profitieren. Das „Revis“ wird somit oft zur Armutsfalle, weil sie dispensiert wird von den Maßnahmen. Dadurch steigen ihre Schulden und die ihrer Kinder. Es ist ein Teufelskreis.
Aus diesem herauszukommen, dürfte auch für die Kinder schwierig sein.
Die soziale Schere geht immer weiter auseinander. Die Gutsituierten werden durch die Früherziehung immer früher vorbereitet und die anderen immer weiter abgehängt. Und wenn das „Revis“ gestrichen wird, dann trifft jede Sanktion immer, mit aller Härte, auch die Kinder.
Was ist die Lösung?
Geld allein reicht nicht aus. Luxemburg gibt enorm hohe Summen aus. Aber die Armut steigt trotzdem. Meiner Meinung nach besteht die Lösung aus vielen kleinen Mosaiksteinen. Das alte RMG-Gesetz sah, wie gesagt, stärker zielgruppenspezifische Maßnahmen vor. Hinzu kommt, dass sich die Maßnahmen auf die Zielgruppe der 25- bis 60-jährigen „Arbeitsfähigen“ konzentrieren. Die ADEM ist dazu da, die Menschen auf den ersten Arbeitsmarkt zu bringen. Das ONIS soll sie darauf vorbereiten. Aber alles richtet sich auf den Arbeitsmarkt und die besagte Zielgruppe. Für die 18- bis 25-Jährigen, die noch nicht Anspruch auf das „Revis“ haben und vielleicht noch nicht oder nicht mehr in einer Ausbildung sind oder studieren, gibt es keine geeigneten Maßnahmen. Und in die der ADEM darf wiederum ein „Revis“-Bezieher nicht rein. Die zielgruppenspezifischen Maßnahmen, die nicht mehr oder noch nicht auf dem Arbeitsmarkt sind, gibt es nicht mehr. Auch sind die einzelnen Zuständigkeiten regelrecht zerstückelt. Eine Person hat dann im Extremfall zwei, drei oder mehrere Sozialarbeiter. Leider sind die hochqualifizierten Sozialarbeiter immer mehr mit bürokratischen Tätigkeiten beschäftigt und können so immer weniger klassische Sozialarbeit machen, die aber für die sozio-kulturell Benachteiligten enorm wichtig ist.
* Nach Angaben des Bildungsministeriums gibt es in Luxemburg mehr als 880 Bildungs- und Betreuungseinrichtungen und „Mini-Crèches“ sowie 360 Tageseltern, die pädagogische Betreuungsplätze für mehr als 68.000 Kinder von null bis zwölf Jahren anbieten (Stand: 31. März 2024).
Die Sozialexpertin
Petra Böwen ist Expertin für soziale Themen und seit mehr als 35 Jahren an den Schnittstellen Soziales und Wirtschaft aktiv. Sie studierte Sozial- und Erziehungswissenschaften an der Universität Trier. Zuletzt hat die 62-Jährige an der Universität Luxemburg das Praxisbüro der Uni sowie den berufsbegleitenden Studiengang für Sozial- und Erziehungswissenschaften mit gegründet und geleitet. Seit 2022 arbeitet sie freiberuflich. Böwen berät, coacht, lehrt und forscht für und in Ministerien, Kammern und Organisationen zu Themen Armutsbekämpfung, Qualifizierung und Arbeitsmarkt der Sozialen Arbeit und sie entwickelt eigene Projekte. Ehrenamtlich engagiert sie sich in Vereinen und Gremien, die sich für den sozialen Zusammenhalt in der Gesellschaft einsetzen.
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