/ „Je est un autre“: Im Rausch der virtuellen Selbstdarstellung
In der luxemburgischen Koproduktion „Styx“ erblickt die Notärztin Rike, nachdem sie mit ihrer kleinen Privatyacht einen Sturm überstanden hat, ein Boot, auf dem sich eine Gruppe von Geflüchteten in der Not befindet. Rike kontaktiert die Küstenwache, die ihr verspricht, Unterstützung zu schicken und ihr vor allem vorschreibt, auf Distanz zu bleiben. Als trotz der Beharrlichkeit der Figur niemand reagiert, behauptet sie, ihr eigenes Schiff sei in Not – prompt taucht die Rettung auf.
Am Ende des Streifens informiert man die Ärztin, dass ein Verfahren gegen sie eingeleitet werden soll. Bei einigen Punkten dieses Plot-Resümees könnte man den Namen der fiktionalen Figur gegen den der real existierenden Carola Rackete austauschen – und hätte aus der Fiktion einen Tatsachenbericht gemacht. Diese antizipatorische Dimension des Films wäre aber nutzlos, wenn sie nicht etwas über die Fähigkeit einer Fiktion, aus der Simulation einer Wirklichkeitsdarstellung eine nuancierte Sensibilisierung gegenüber der Notwendigkeit moralischen Handelns herzuleiten, aussagen würde – und im starken Gegensatz zu plakativen Mitleidsbekundungen auf sozialen Netzwerken stehen würde.
Die vermeintliche Unterstützung, die man auf sozialen Netzwerken sehen konnte und die in Profil-Bildern, die die Freilassung von Carola Rackete forderten, zum Ausdruck kam, fügt sich in die Reihe von Sympathie-Bekenntnissen ein, die seit den Charlie-Hebdo-Attentaten auf Facebook die Runde machen.
Arthur Rimbaud definierte die Unmöglichkeit der Selbstkenntnis mit seinem „Je est un autre“, heute will jeder Charlie, Nice, Brüssel oder Carola sein. Das ist sicherlich gut gemeint, hilfreich sind solche Bekundungen aber kaum. Früher demonstrierte man auf der Straße, heute legt man einen Textfilter über das Profilfoto – und verzichtet damit nicht mal auf die Selbstdarstellung (zu Zeiten von „Je suis Charlie“ musste man noch das Profilfoto ersetzen, heute bereitet diese Aufopferung bereits zu viel Mühe).
Die allgemeine Diskussionspolitik auf Facebook resümiert sich darin, in einem mimetischen Affekt den Nutzer implizit-repressiv aufzufordern, auf den Profilfoto-Empathie-Zug aufzuspringen – wer’s nicht tut, leidet weniger mit – oder im (rechtspopulistischen) Gegenzug alle, die Racketes Befreiung forderten, als hypokritische Gutmenschen abzustempeln, die ja selbst keine Geflüchteten aufnehmen.
Dass das Niveau eines solchen Austauschs unterirdisch ist, scheint leider schon fast in der DNA der virtuellen Debatten eingeschrieben zu sein. Im Gegensatz zur bequemen Sofa-Empathie, die kaum von tiefgängigem Engagement zeugt, bei der man mit ein paar Klicks sicherstellt, dass auch jeder weiß, dass man als kritisch-engagierter Bürger auf der „richtigen“ Seite steht und die es selten erlaubt zu messen, wo die wahre Empathie beginnt und die Selbstdarstellung aufhört, hat eine Fiktion wie „Styx“ ganz konkret die kognitive Funktion eines Gedankenexperiments.
Indem er nicht etwa abstrakt Fakten liefert, sondern eine erlebte Erfahrung imaginiert, lässt der Film jeden Zuschauer sich fragen, wie er selbst in einer solchen Situation gehandelt hätte. Diese kognitive Funktion – die einem erlaubt, die fiktionale Situation mitzuempfinden – existiert im virtuellen Selbstdarstellungsrausch nicht. An der politischen Realität ändern weder der Film noch die Profilfotos etwas – der Unterschied liegt vielmehr darin, dass eine solche Fiktion eher zu politischem und moralischem Bewusstwerden verhilft als ein plakatives Foto, das mehr einem Trend folgt, als dass es wahres Engagement widerspiegeln würde.
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