Auschwitz-Befreiung vor 75 Jahren / Jeanne Salomon setzte sich trotz der „Asche von Auschwitz“ für Versöhnung ein
Nicht nur die auf ihrem Unterarm eintätowierte Nummer hat die wenigen Überlebenden des Konzentrationslagers Auschwitz gezeichnet. Auch das dort Erlittene hat sie ein Leben lang gekennzeichnet. Viele fühlten sich den Toten schuldig, über die Greuel zu berichten, die ihnen widerfahren waren. Andere vergruben das Leid tief in sich hinein. Vor der Gedenkzeremonie zum 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz möchte das Tageblatt an zwei Luxemburger Überlebende erinnern: An den Escher Josy Schlang, der im Resistenzmuseum tätig war und dort viel Aufklärungsarbeit leistete, und an Jeanne Salomon, deren Sohn Henri Juda heute dafür sorgt, dass ihr Schicksal nicht in Vergessenheit gerät. Stellvertretend für alle Opfer: Jeanne Salomon.
Wie die meisten Auschwitz-Überlebenden hat Jeanne Salomon das Erlittene nicht vergessen können. Sie hatte die zwei schmerzvollen Jahre in ihrem Herzen vergraben und nur wenig darüber gesprochen. Ihr Sohn, Henri Juda, ehrt sie heute in ergreifenden Konferenzen.
„Hat sie nicht davon sprechen können oder hat keiner zuhören wollen? Müssen die heutigen Generationen nicht mehr denn je die Lehren aus dieser Zeit ziehen, die Geschichte hinterfragen und die Erinnerung aufrechterhalten?” Diese Fragen versucht Jeanne Salomons Sohn, Henri Juda, mit seinen Nachforschungen und Konferenzen, mitunter mit mutigen Stellungnahmen, zu beantworten. Seine Mutter kam aus einer alten Ettelbrücker Familie. Die Geschäfte ihres Vaters hatten diesen allerdings nach Völklingen ins nahe Saarland verschlagen, wo die Tochter am 14. September 1913 zur Welt kam und schon sehr früh mit Antisemitismus konfrontiert wurde.
Nachdem sie als Journalistin in der Redaktion der „Volksstimme“, dem offiziellen Presseorgan der saarländischen SPD und ihres Anführers Max Braun, erlebte, wie das Saarland – das seit Kriegsende unter der Verwaltung des Völkerbundes stand – sich 1935 per Referendum zu 90% zur Rückkehr nach Deutschland aussprach, kam sie mit ihrer Mutter Franziska zurück nach Luxemburg. 1938 heiratete die junge Frau den Schneidermeister Bernard Ingwer, der in der Zithastraße einen Stoffhandel betrieb. Beim Kriegsausbruch floh das Paar mit der Familie Ingwer nach Brüssel, wo sie zwei Jahre lang in einem Haus in Schaerbeek lebten. Weil Jeanne die Einzige war, die Französisch sprach, tätigte sie die Einkäufe. Dabei lief sie einem Luxemburger auf, der die neunköpfige Familie verriet.
Ihr Vermächtnis ist, dass trotz oder gerade wegen Auschwitz Hass und Polarisierung zu nichts führenSohn von Jeanne Salomon
Sie kam daraufhin in das SS-Sammellager für Juden in der Caserne Dossin in Malines, von wo aus 25.628 Menschen nach Auschwitz verfrachtet wurden. Unter ihnen war auch die knapp dreißigjährige Jeanne Salomon, die am 19. April 1943 den Deportationszug Nr XX bestieg. Er ist in Erinnerung geblieben, weil 231 der über tausend Insassen mithilfe belgischer Resistenzler fliehen konnten. Jeanne Salomon war nicht dabei. Sie kam am 22. April 1943 in Auschwitz an.
Die erste Selektion hat sie überlebt, zusammen mit 99 anderen Frauen wurde sie im Stammlager im Block 10 in Quarantäne gesetzt, bevor sie vom SS-Frauenarzt Carl Clauberg der „wissenschaftlichen Forschung” zugeführt werden sollte. Ein von der zwangsverpflichteten elsässischen Ärztin Adelaïde Hautval festgestellter Fieberstoß rettete Jeanne Salomon vor der geplanten Zwangssterilisation. In der Krankenstation lernte sie die aus Trier stammende Widerständlerin Aurelia Torgau – später bekannt unter dem Namen „Orli Wald” – kennen, die auf der Seite der Kommunisten, dabei von 1933 bis 1936 auch in Luxemburg, gekämpft hatte.
In Auschwitz hatte sie als sogenannter Funktionshäftling eine gewisse Handlungsfreiheit, dank der sie jüdischen Häftlingen helfen konnte und die ihr den Namen „Engel von Auschwitz” brachte. Jeanne Salomon bestand Orlis Test, als sie die Frage nach dem wichtigsten luxemburgischen Kommunisten mit Zénon Bernard richtig beantworten konnte. Sie wurde daraufhin Putzhilfe, später Stationsschreiberin im Krankenlager der SS. Der Versuch, Medikamente für ihre kommunistischen Freunde zu besorgen, brachte sie allerdings mit drei anderen Häftlingen in eine ein Quadratmeter große „Stehzelle”, wo sie drei Tage und Nächte lang in der Dunkelheit, ohne Essen und Trinken stehen musste. Jeanne Salomon hat auch diese Tortur überlebt, wiederum mit der Hilfe von Orli.
Wenig später wurde sie krank, sie vermutete Thyphus, musste dann jedoch erfahren, dass sie schwanger war. „Es stellte sich heraus: Das, was wir in den beiden ersten Jahren unserer Ehe ersehnt, später jedoch in der Verfolgungszeit gefürchtet hatten und vermeiden wollten, war eingetreten und mein Mann und ich hatten nicht die leiseste Ahnung”, hat Jeanne Salomons Sohn Henri Juda später im Aussagungsprotokoll seiner Mutter nachlesen können.
Im Oktober 1943 kam der kleine Junge zur Welt. Eine knappe Woche lang konnte seine Mutter ihn versorgen, bevor er ihr kaltblütig abgenommen und lebenden Leibes in einen Gasofen der Baracke geworfen wurde. „Er hatte weder einen Namen noch eine Nummer”, sagt Juda heute über diesen Bruder, dem er den Stern im Logo von „MemoShoah” gewidmet hat. Nur einen Monat nach diesem tragischen Moment kam Jeanne Salomon als Schreiberin in das Munitionswerk „Union”, wo sie Ende 1944 die verzweifelte Rebellion jüdischer Sonderhäftlinge in Auschwitz miterlebte.
Alles war ausgelöscht. Mein Kind – Asche –, mein Mann – Asche –, meine Mutter – Asche –, Asche von AuschwitzAuschwitz-Überlebende
Auch den Todesmarsch, zu dem die Häftlinge von Auschwitz am 18. Januar in eisiger Kälte gezwungen wurden, hat Jeanne Salomon mitgemacht, sie kam nach einem Transport in offenen Viehwaggons ins Konzentrationslager Ravensbrück, das erst im April 1945 von der russischen Armee befreit wurde.
Im Mai 1945 wurde Jeanne Salomon nach Belgien zurückgebracht. Dort erfuhr sie, dass ihr Mann Bernard Ende 1944 den Überlebenskampf aufgegeben hatte und auch ihre Mutter tot war. „Alles war ausgelöscht. Mein Kind – Asche –, mein Mann – Asche –, meine Mutter – Asche –, Asche von Auschwitz“, hat sie in einem Brief ihre Gefühle wiedergegeben. Sie kam nach Luxemburg zurück und baute mutig den Textilhandel der Ingwer wieder auf.
Dabei lernte sie ihren zweiten Ehemann Charles Juda kennen, den sie 1947 heiratete und mit dem sie zwei Kinder hatte. „Ein Wunder“, soll sie bei der Geburt ihres Sohnes Henri gesagt haben. Zitate oder Berichte aus der schweren Zeit haben Jeanne Salomons Nachfahren fast keine. Ihre Mutter habe das Erlebte ganz fest in sich eingeschlossen, um ihre Familie und besonders ihre Kinder nicht mit ihren Albträumen zu belasten.
Seine Informationen hat Henri Juda deshalb aus den Vernehmungsprotokollen zur Vorbereitung der Frankfurter Auschwitz-Prozesse, zu denen Jeanne Salomon als Zeugin geladen war. 22 der Befehlshaber, Täter und Mittäter, die in Auschwitz Dienst getan hatten, standen damals vor Gericht. Ausgesagt hat sie allerdings nicht, denn als am Prozesstag morgens im Hotel ihre Peiniger am Nachbartisch saßen und sich über sie lustig machten, packte sie ihre Koffer und kam zurück nach Echternach. Auch hier sollte ihre Vergangenheit sie einholen, als sie in einem der Zöllner auf der Grenzbrücke einen ehemaligen Wachmann aus Auschwitz wiedererkannte.
Geblieben ist die Verbindung zu Orli Wald, die häufig bei der Familie Juda zu Gast war. Sie ging allerdings an den Selbstvorwürfen zugrunde, die sie sich machte, weil sie nicht mehr Menschen gerettet hatte. Jeanne Salomon verstarb am 18. Oktober 2001 in Echternach. „Ihr Vermächtnis ist, dass trotz oder gerade wegen Auschwitz Hass und Polarisierung zu nichts führen“, sagt heute ihr Sohn Henri Juda. Seine Mutter habe gefordert, dass man Menschen in Not immer helfe und sich für Gerechtigkeit, Wahrheit und Versöhnung einsetze. Ohne dabei aus den Augen zu verlieren, dass es gute und schlechte immer gab und immer geben wird. Auf allen Seiten.”
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