„Orange Week“ beginnt / „Jedes Opfer ist eines zu viel“: Interview mit dem Frauenrat über häusliche Gewalt
Anik Raskin (57) hat einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Deswegen hat sie seinerzeit Jura studiert und leitet seit 20 Jahren das operative Geschäft beim nationalen Frauenrat (CNFL). Dieser organisiert die Sensibilisierungskampagne gegen Gewalt gegenüber Frauen und Mädchen, die „Orange Week“, die diese Woche beginnt.
Tageblatt: Jedes Jahr am 25. November, dem Internationalen Tag zur Beseitigung der Gewalt gegen Frauen, gibt es Zahlen zum Thema. Der Schock über die Zahl der Fälle ist groß, aber nur kurz. Schaut die Gesellschaft nicht genug hin?
Anik Raskin: Die Zahlen beweisen, dass es ein großes Problem mit Gewalt gegen Frauen gibt. Dazu zählt die häusliche Gewalt. Sie zeigen gleichzeitig aber auch, dass darüber gesprochen wird. Und sie zeigen, dass es hier ein Gesetz gibt, das erlaubt, Statistik darüber zu führen. Und ja, es ist ein Schock, den unsere Mitarbeiter in den Foyers für Betroffene übrigens täglich haben. Es hört nicht auf.
Also schaut die Gesellschaft schon hin, oder?
Ich denke schon. Ob es gut thematisiert wird, müssen andere entscheiden. Es gibt immer wieder Stimmen, die in dem Zusammenhang sogar von Übertreibung sprechen. Wir vom Frauenrat meinen: Jedes Opfer ist eines zu viel.
2022 musste die Polizei durchschnittlich drei Mal pro Tag wegen häuslicher Gewalt eingreifen. Kann die „Orange Week” daran etwas ändern?
Mit den fast 50 Veranstaltungen in dieser Woche wollen wir auf das Problem aufmerksam machen und gegen die Marginalisierung der Opfer kämpfen. Das Thema ist mit sehr viel Scham und Schuldgefühlen verbunden. Wenn ein Mann auf der Straße angegriffen wird, sagt niemand, das war seine Schuld.
Bei einer Frau heißt es, der Rock war eventuell zu kurz …
Da sind wir bei der sexualisierten Gewalt. Ich nenne ein Beispiel: Eurostat hat bei einer Umfrage 2016 im Land festgestellt, dass 38 Prozent der Befragten bei sexuellen Übergriffen der Meinung sind, die Frauen hätten eine Mitschuld. 38 Prozent! Das ist viel. Deswegen ist die Orange Week so wichtig.
Wird deswegen eine sehr hohe Dunkelziffer vermutet?
Ja, ganz klar. Der Gedankengang, „was mir passiert ist, ist es nicht wert, dass ich die Polizei rufe oder zu einer Anlaufstelle gehe“, ist immer noch verbreitet. Das ist das eine. Das andere sind eigene Schuldgefühle. „Ich habe wirklich nicht genug Salz in die Suppe gemacht“, hören wir oft als Entschuldigung für physische Auseinandersetzungen zwischen Paaren – gerade bei der Orange Week.
Menschenkette als Zeichen gegen die Gewalt
Ein Zeichen gegen Gewalt an Mädchen und Frauen setzen – das war das Ziel einer Aktion am Freitag vor dem Rathaus in Luxemburg-Stadt. Rund 50 Menschen, darunter auch einige Mitglieder des hauptstädtischen Gemeinderats, kamen zur Mittagszeit auf dem „Knuedler“ zusammen, um sich dort die Hände zu reichen und gemeinsam einen großen Kreis zu bilden. Viele von ihnen trugen orangefarbene Kleidung, Mützen oder Schals. Die Signalfarbe wird weltweit bei der sogenannten „Orange Week“ verwendet, um sich gegen alle Formen von Gewalt stark zu machen: gegen häusliche, psychische oder auch sexualisierte.
Die Aktion war eine von rund 50 Veranstaltungen der „Orange Week“, die am vergangenem Dienstag offiziell in Luxemburg gestartet ist und bis zum 10. Dezember gehen wird. Einer der wichtigsten Programmpunkte ist der Solidaritätsmarsch am Samstag, der am internationalen Tag zur Beseitigung der Gewalt an Frauen um 11 Uhr beim Parking Deich losgeht. Während der vom nationalen Frauenrat (CNFL) und der Luxemburger Sektion von „Zonta International“ organisierten Aktionswoche, werden landesweit mehrere Gebäude orange leuchten. Mehr Informationen und das Programm gibt es unter cnfl.lu. (sas)
Also Verniedlichung des Themas?
Ja, oft. Obwohl wir gerade aus der Phase heraustreten, wo die öffentliche Meinung die Ansicht vertrat, dass der Staat sich nicht in private, familiäre Angelegenheiten einzumischen hat. Das herrschte nach dem Gesetz 2003 lange vor. Heute sind viele der Meinung, dass „mir ist die Hand ausgerutscht“ nicht mehr tolerabel ist.
Es ist ein hartnäckiges Klischee: Häusliche Gewalt betrifft eher Frauen aus sozial schwächeren Familien. Warum hält es sich?
Das Klischee stimmt tatsächlich nicht. Häusliche Gewalt betrifft Frauen quer durch jede soziale Schicht. Und vielleicht ist es einfacher, ein Problem wie dieses bei sozial schwachen Frauen zu verorten, um damit umzugehen. Ein weiterer Grund ist, dass es für sozial besser gestellte Frauen ungleich härter ist zuzugeben, „ich bin Opfer von häuslicher Gewalt“. Außerdem sind die sozial schwächer gestellten Frauen eher sichtbar in den Notunterkünften. Sie können sich nicht so einfach eine andere Wohnung leisten.
Kampagnen, Anlaufstellen, Hilfe bei akuter Gefahr und Opfer, die sprechen: Geht es mit der Enttabuisierung des Themas voran?
Ja, aber nur sehr langsam. Als das Gesetz zur häuslichen Gewalt 2003 verabschiedet wurde, ist die damalige Ministerin Marie-Josée Jacobs sehr attackiert worden. Das wäre kein Thema, war das Argument. Da gab es wirklich richtig Opposition. Heute ist häusliche Gewalt etwas, das Gehör findet. Aber wir sind längst nicht an dem Punkt, wo gesagt wird, häusliche Gewalt ist inakzeptabel.
Respektvoll und ohne Gewalt in sozialem Kontakt zu sein, gelingt nicht jedem. Was sind die häufigsten Ursachen?
Das fängt mit der Sozialisation an. Wenn ein Junge in der Schule viel redet oder fragt und auffällt, wird das als „normal” abgetan. Es ist ein Junge. Wenn ein Mädchen dies tut, wird es klein gemacht. Das geht später durch das ganze Leben, obwohl diese Stereotypen nirgends festgeschrieben sind. Das bringt es aber mit sich, dass es viel häufiger Übergriffe von Männern gegen Frauen gibt als umgekehrt. Männer haben einfach überall mehr Macht.
Ist häusliche Gewalt und deren öffentliche Wahrnehmung ein Indiz dafür, dass es bei der Gleichberechtigung noch hapert?
Ja. Das zeigt sich unter anderem darin, dass wir zwar ein Gesetz zur häuslichen Gewalt haben, aber keines für manch andere sexualisierte Gewalt. Hinzu kommt heutzutage die Gewalt, die sich online entlädt oder die stilisierte Gewalt in der Pornographie, die jungen Mädchen und Jungen ein völlig falsches Bild von Sexualität vermittelt. Das gehört aufs Programm der neuen Ministerin.
Gibt es eigentlich erste Anzeichen für häusliche Gewalt?
Ja. Bis es zu häuslicher Gewalt kommt, gibt es eine Entwicklung. Kritik an Kleidung, wie gesprochen wird, ein Bekannten- und Freundeskreis, der schlecht gemacht wird: Alles das sind erste Anzeichen von Ausgrenzung, Abschottung und Vereinnahmung einer Person. Wenn das losgeht, müssen die Alarmglocken schrillen.
Warum? Er passt doch gut auf sie auf …
Ja, das sagen die Frauen dann. Warum müssen Männer auf Frauen aufpassen?
Hier im Land wird immer wieder beklagt, dass es zu wenig Zufluchtsstätten für Opfer häuslicher Gewalt gibt. Stimmen Sie dem zu?
Ja. Luxemburg war lange das Land, in dem es proportional zur Bevölkerung sehr viele Plätze für Opfer von Gewalt gab. Heute gibt es ständig lange Wartelisten für eine Notunterkunft und das müsste wieder ins Gleichgewicht gebracht werden. Hotelunterkünfte, die der Staat bezahlt, sind nur Trostpflaster.
Viele der rückfälligen Täter nehmen die von einem Richter zugewiesenen Termine nicht wahr. Hier endet die Gerechtigkeit, oder?
Ja. Keiner nimmt die Täter am Schlafittchen und zwingt sie, sich ihrer Verantwortung zu stellen. Therapieangebote sind ebenfalls freiwillig.
Gewalt gegen Frauen und Mädchen in Zahlen
In einer vom Statec herausgegebenen Infographie vom Juni 2022 beziffert das statistische Amt die körperliche Gewalt gegen Frauen mit 10.549 Fällen, psychologische Gewalt gegen Frauen mit 34.338 Fällen und die sexuelle Gewalt gegen Frauen mit 9.050 gezählten Fällen. Aus der gleichen Quelle geht hervor, dass die weitaus wenigsten Fälle angezeigt werden bei Anlaufstellen oder der Polizei.
Aus der Antwort auf sechs parlamentarische Anfragen der ehemaligen Abgeordneten Nathalie Oberweis („dei Lénk“) gehen Zahlen für 2022 hervor. 246 Mal wurde Tätern die Rückkehr in die Wohnung verweigert, bei 130 Personen wurde per Gericht das Verbot, in die Wohnung zurückzukehren, verlängert. Gleichzeitig wurden 113 Anträge auf ein Verbot der Rückkehr in die Wohnung bei den Familienrichtern der Gerichte in Luxemburg und Diekirch gestellt. Das schreibt das Justizministerium in der Antwort vom 6. November 2023. Die Antwort enthält ebenfalls Zahlen zu den Notunterkünften. Über die Betreiber des „Ministère de l’égalité entre les femmes et les hommes“ stehen mehr als 300 Plätze zur Verfügung, die von Menschen in Not genutzt werden können. Darin heißt es weiter: „Im Jahr 2023 eröffnete die Stiftung Pro Familia weitere zusätzliche Unterkünfte, die etwa 20 Familien aufnehmen können.“ Den Umfang der Wartelisten für Notunterkünfte beziffert das Ministerium auf „durchschnittlich rund 50 Frauen mit oder ohne Kinder“.
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Vor knapp zwei Monaten wurde abermals eine Frau iin Luxemburg ermordert. Bis heute hat sich weder einE führendeR PolitikerIn, noch der Nationale Frauenrat dazu geäussert. Die Realität ist, dass Opfern von Gewalt kaum geholfen. Deshalb haben wird weit mehr Frauenmorde als unsere Nachbarländer. Aber wen interessiert’s?