Editorial / Joe Biden bietet den US-Demokraten eine neue Chance
Nun hat sich Joe Biden doch früher aus dem Rennen um eine zweite Amtszeit zurückgezogen als erwartet. Dass es dazu kam, war seit dem Fernsehduell zwischen den beiden Präsidentschaftskandidaten nicht mehr zu vermeiden gewesen. Die seitdem vor allem in den Reihen der Demokraten geführte Diskussion über die Eignung ihres immer wieder schwächelnden Kandidaten konnte nur so enden. Mit einem Verbleib Bidens hätten sich die Demokraten sehenden Auges in eine Niederlage gestürzt. Nun können sie – und nicht nur sie – wieder Hoffnung schöpfen und dem sich bereits abzeichnenden Sieg Trumps wieder etwas entgegensetzen.
Schon allein Bidens Verzicht auf die Präsidentschaftskandidatur hat bei den Republikanern im Allgemeinen, bei ihrem Kandidaten im Besonderen schon entsprechende Reaktionen ausgelöst. Auf einen Schlag ist ihm „Sleepy Joe“ abhandengekommen und Trump kann all die böswilligen Sprüche über Biden, die er in den vergangenen Jahren angehäuft hat, vergessen. Ein Großteil seines Wahlkampf-Repertoires ist damit dahin, es bleiben ihm nur noch seine maßlose Selbstbeweihräucherung und ein angeschossenes Ohr, das er als Zeichen seiner Verbundenheit mit dem Allmächtigen bei seiner konservativen Basis wirksam vermarktet. Mehr hat er nicht, denn sein politisches Programm beschränkt sich weiterhin auf den substanzlosen „Make America Great Again“-Spruch. Nun muss sich Trump auf einen neuen Gegner einstellen.
Das wird aller Voraussicht nach Kamala Harris sein. Die US-Vizepräsidentin dürfte von einer ähnlichen Dynamik profitieren, die Joe Biden schließlich um die Möglichkeit einer zweiten Amtszeit gebracht hat. Denn in den vergangenen Tagen und Wochen waren sich zwar zunehmend mehr führende Demokraten darin einig, dass Joe Biden seine Kandidatur zurückziehen sollte. Allerdings hatte niemand einen Plan, wie und durch wen er ersetzt werden sollte. Zwar gibt ihr Amt Kamala Harris einen gewissen Bonus, wenn nicht sogar Vorzug. Und Joe Biden auch noch seinen Vorschlag abzuschlagen, seine Vizepräsidentin auf den Schild zu heben, wollte nach dessen selbstloser und großzügiger Geste seines Rückzugs sicherlich niemand wagen. Doch nehmen sich die Demokraten gerade die Gelegenheit, nachdem die Republikaner auf ihrem Parteitag alle Karten auf den Tisch gelegt haben, ihren Vorteil des Neuanfangs im Wahlkampf überlegt anzugehen und den geeignetsten Kandidaten auszusuchen, um Trump zu schlagen. Denn das war Kamala Harris bis vor kurzem noch nicht.
Ihr Trumpf ist in der gegenwärtigen Situation vorerst ihr Alter. Damit kann sie gegen den ebenfalls demnächst ins Greisenalter geratenden Trump punkten. Auch wenn das allein nicht ausreicht. Dennoch könnte ihre eventuelle Nominierung – immer mehr Demokraten sind dabei, sich für sie auszusprechen – hauptsächlich dem Umstand geschuldet sein, dass die Partei auf ein potenziell aufreibendes Verfahren zur Auswahl eines neuen Kandidaten verzichten will. Demnach hätte Kamala Harris nur noch wenige Wochen bis zum Beginn des Parteitags der Demokraten am 19. August Zeit, ihrer Partei, aber auch dem Land, zu zeigen, dass sie es mit Trump aufnehmen kann. Die Demokraten sollten die Chance nutzen, die ihnen Joe Biden eröffnet hat, und ihre wohl künftige Kandidatin mit demonstrativer Geschlossenheit dabei unterstützen.
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