Gesellschaft / Jugendarbeitslosigkeit: Wenn niemand mehr an einen glaubt
Voller Scham und entmutigt sperren sich viele Jugendliche weg. In der Schule gescheitert, ohne Ausbildung oder trotz Diplom arbeitslos fühlen sie sich wertlos. Wenn keiner an einen glaubt, mag man sich selbst irgendwann nicht mehr. Genau in diesem Vakuum arbeitet Youth&Work. Dort dürfen sie sein, was sie sind: Junge Menschen auf der Suche – mit ihren Schwächen und Stärken.
Schon zweimal hat sich Laura Semedo (21) nach ihrem Diplom am „Lycée des arts et métiers“ an der Willem de Kooning Academy in den Niederlanden beworben. Sie will Grafikdesign studieren. „Mobbing, Diskriminierung und eine andere Vorstellung von der Ausbildung“ beenden nach eigener Aussage ihren ersten Versuch an einer deutschen Universität. Rotterdam (NL) ist vielversprechender.
So wie ihre Bewerbungen mit aufwendiger Mappe rausgehen, kommen die Absagen. Mittlerweile putzt sie, um sich etwas dazuzuverdienen, und wohnt noch zu Hause. Die vorangegangene Arbeitssuche im Bereich Grafik und Design gestaltet sich schwierig. Mit ihrer „Scout“-Erfahrung soll die Arbeit nachhaltig sein, der Arbeitsplatz muss gut erreichbar sein. Ein Auto kann sie sich nicht leisten.
Nichts davon klappt. „Mein Selbstvertrauen ist immer mehr gesunken“, sagt sie. „Ich habe oft noch nicht mal eine Antwort bekommen.“ Schließlich findet sie zu Youth&Work. Ihre Geschichte steht für viele. Immerhin hat sie einen Abschluss. In einer gerade erschienenen Studie zählt das Luxembourg Institute of Socio-Economic Research (Liser)1.600 Schulabbrecher für das Schuljahr 2019/2020.
Nicht auf den Arbeitsmarkt vorbereitet – Sprachenproblem
Das trifft auf 65 Prozent der Klientel der Organisation zu. Die Studie identifiziert drei Bereiche, die viele Jugendliche ins Straucheln bringen: mangelnde Unterstützung durch das familiäre und freundschaftliche Umfeld, Probleme mit dem Schulsystem, vor allem mit den Sprachen, und mangelnde Vorbereitung für den Einstieg in den Beruf.
„Sie sind praktisch alle nicht auf den Arbeitsmarkt vorbereitet“, bestätigt Ariane Toepfer (55), eine der Gründerinnen und Geschäftsführerin von Youth&Work. Die Organisation ist mittlerweile eine „Société d’impact sociétal“ (SIS). Ihre Worte beinhalten eine fundamentale Kritik am Bildungssystem. Seit der Gründung im Jahr 2012 haben sie und ihre Kollegen rund 2.500 junge Menschen gecoacht und in ein Berufsleben begleitet.
Beobachtungen wie diese hat sie immer wieder gemacht, genauso wie eine andere, die ihre Kollegin Kristina Nincevic (46) zusammenfasst. „Wenn wir im Süden coachen, können sie häufig kein Deutsch, wenn wir im Norden coachen, können sie meistens kein Französisch“, sagt sie. „Wo sollen sie dann in einem Arbeitsmarkt unterkommen, der diese Sprachen fordert?“
Probleme in anderen Lebensbereichen kommen hinzu
Beide Frauen haben andere berufliche Karrieren hinter sich, bevor die eine sich zur Gründung der SIS entscheidet und die andere einsteigt, weil sie etwas „Sinnvolles“ tun möchte. Beide sagen, sie haben Glück im Leben gehabt und Führungspositionen erreicht. Die Jugendlichen, die sie betreuen, haben das nicht.
„Sie waren einfach zur falschen Zeit am falschen Ort und haben nicht das Umfeld, was sie brauchen“, sagt Nincevic. Fehlende moralische Unterstützung, kein Schulabschluss, Jugendarmut, drohende Obdachlosigkeit, traumatische Erfahrungen und mangelndes Selbstvertrauen sind nur einige Beispiele dafür, was zusammenkommt.
Zwar ist Youth&Work hauptsächlich auf den Gebieten beruflicher und schulischer Orientierung, Arbeitssuche und Ausbildung aktiv, das ist aber nur ein Teil des Problems. „Bei den meisten ist es nicht nur die Arbeitslosigkeit, die sie in ihre Situation gebracht hat“, sagt Toepfer. Nach so vielen Jahren kann sie die emotionale Lage der meisten Schützlinge in einem Satz zusammenfassen: „Es hat noch nie jemand an mich geglaubt.“
Berufserfahrung bei Berufsanfängern versperrt den Weg
Dazwischen wirken Semedo und Anna Berkes (28) als Ausnahmen. Beide haben einen Abschluss und noch das größte Selbstvertrauen. Die meisten anderen sind viel zu schüchtern, um über ihr Schicksal zu sprechen. Sie schämen sich, arbeitslos zu sein. Berkes hat einen Bachelor in Sozialwissenschaften und einen Master in Medien- und Kultursoziologie an der Universität Trier gemacht.
Sie interessiert sich für Entwicklungshilfe, will vorzugsweise bei einer NGO arbeiten. Zwanzig Bewerbungen und so manche Vorstellungsrunde später stellt sie fest. „Ich bekomme gar keine Chance, zu beweisen, dass ich autonom arbeiten kann.“ Fehlende Berufserfahrung, die sie als Einsteiger gar nicht haben kann, versperrt ihr den Weg. „Ich trete auf der Stelle und kann meine Zukunft nicht planen“, sagt sie.
Damit zählt sie zu den knapp 3.000 Personen, die laut ADEM aktuell in der Alterskategorie der 16- bis 29-Jährigen arbeitslos gemeldet sind. Dem stehen 9.914 offene Stellen, die bis zum 31. August im Land gemeldet waren, gegenüber. Das ist die offizielle Statistik. Jeder zweite Jugendliche, der bei Youth&Work freiwillig am Coaching teilnimmt, ist allerdings nicht gemeldet.
Zeigen, wozu sie in der Lage sind
Die meisten tauchen in gar keiner Statistik auf. „Unsere Aufgabe ist es, die Jugendlichen an die Hand zu nehmen und ihnen zu zeigen, wozu sie in der Lage sind“, sagt Toepfer. Das Versprechen ist die Begleitung bis zum Ziel. Die Coachs sind lösungsoffen und wollen, dass sich die Jugendlichen ihre Ziele selbst stecken.
Bis dahin haben „ihre“ Schützlinge staatliche Hilfsangebote, die eine weitere Schwäche zeigen, schon ausgeschöpft. Ministerien leben die Silomentalität. „Das Ministerium für Arbeit redet wenig mit Bildung, redet wenig mit Familie, redet wenig mit Wirtschaft“, sagt Toepfer. „Die Probleme sind aber übergreifend.“ Deshalb ist die Arbeitsweise bei Youth&Work beziehungsorientiert und vor allem ganzheitlich.
Der Bedarf ist da. „Wir sind ausgelastet und suchen dringend einen weiteren Coach“, sagt Toepfer. Nach neun Jahren am Markt kann sich die Bilanz sehen lassen. Über 80 Prozent der Jugendlichen schaffen nach eigenen Angaben nach dem Coaching den Sprung ins Berufsleben. Das lässt hoffen und zeichnet das Engagement der Organisation umso mehr aus.
Youth&Work
Die „Société d’impact sociétal“ hat Verträge mit 35 Gemeinden, die Jugendliche an Youth&Work verweisen. Dort arbeiten fünf Personen, davon vier als Coach. Der Jahresumsatz 2020 betrug 450.000 Euro. Mit 40 Jugendlichen geht es bei der Gründung 2012 los. Bis heute haben rund 2.500 Jugendliche dort Hilfe gefunden. Es ist nach eigenen Angaben neben der ADEM die einzige Organisation in diesem Bereich, die Unternehmen miteinbezieht und Kontakte dorthin unterhält. Das Durchschnittsalter der jungen Erwachsenen beträgt 22 Jahre. youth-and-work.lu
Das Pop-up-Projekt „Musée des déchets“
Zurzeit arbeiten 20 Jugendliche, die bei Youth&Work einen Coachingvertrag abgeschlossen haben, am „Musée des déchets“. Es ist ein temporäres Museum, das von November bis Weihnachten 2021 in der rue Genistre in der Hauptstadt seine Türen öffnen wird. Die Idee dieses weltweit einmaligen Museums ist es, sich in das Jahr 2050 zu versetzen, in dem alles im Hinblick auf die Wiederverwertung, sprich der Kreislaufwirtschaft, produziert und alles zu einer Ressource wird –und der Begriff „Abfall“ verschwindet. In Arbeitsfeldern wie Kommunikation, Logistik, Design und Schreinerarbeiten können die „Museumsmitarbeiter“ zeigen, dass sie etwas bewirken können, und zwar im nachhaltigen Bereich. Die Exponate sind aus gebrauchtem Material, das die Organisation über Spenden einsammelt. Das Luxemburg Center for Circular Economy ist Träger dieses Museums und begleitet von Unternehmensseite das Projekt. Es ist Teil des Projektes „Future Generation“, das von der André-Losch-Stiftung und der „Oeuvre“ finanziert wird.
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Während hinten die Alten arbeiten (wollen oder müssen) bis sie umfallen,sitzen vorne die Jugendlichen auf der Straße,mit oder ohne Ausbildung. Das kann einem Land das Rückgrat brechen.Alte kann man verrenten auch wenns teurer wird,aber die Jugend braucht Arbeit.Sonst funktioniert das System nicht mehr.
Und trotzdem, Arbeit kann man nicht erfinden! Wenn also 800 Studenten Psychologie studieren wollen und es werden deren 200 ausgebildete später gebraucht, dann gibt es ein Problem!
Wenn pro Jahr 1700 Jugendliche die Schule abbrechen und Roboter übernehmen eine immer grössere Rolle in der Arbeitswelt, dann gibt es ein Problem. Und doch muss man sehen, welche Arbeit von diesen Maschinen „übernommen“ wird. Würden sich dafür Jugendliche bewerben und dadurch zufrieden in ihrem Leben werden? Für sie machte die Schule schon keinen Sinn. Mit welcher Arbeit wären sie denn zufrieden, bei welcher Entschädigung?