Nach tödlicher Messerattacke / Jugendgewalt: Eine Minderheit, die Probleme bereitet
Seit der tödlichen Messerattacke in Bonneweg wird wieder viel über Jugendgewalt geredet. War es ein unglücklicher Einzelfall oder ist es die Spitze des Eisbergs? Das Tageblatt hat Sozialarbeiter, Politiker und Psychologinnen zu deren Einschätzungen befragt. Unglücklicher Zufall, coronabedingt, die Spitze des Eisbergs – die Meinungen darüber gehen auseinander.
Ende Januar stirbt ein junger Mann nach einer Messerattacke in Bonneweg. Zwei Minderjährige im Alter von 15 und 17 Jahren gelten als tatverdächtig. Vor wenigen Tagen wandte sich die Lehrervereinigung Agess („Association générale des professeurs de l’enseignement secondaire et supérieur a.s.b.l.“) in einer Mitteilung mit dem Titel „Halte à la recrudescence d’actes de violence chez les jeunes!“ an die Öffentlichkeit. Die Lehrer betonen zwar, dass die „verhaltensauffälligen“ Jugendlichen nur eine Minderheit seien, wegsehen dürfe man aber trotzdem nicht. Wird das Problem verkannt?
Dass die Situation im Bahnhofsviertel und in Bonneweg kompliziert ist, ist bekannt, allein schon wegen der sich dort befindlichen Drogenhotspots. Dass es allerdings auch eine weit verbreitete Jugendgewalt außerhalb der Drogenszene gebe, verneinen die meisten unserer Gesprächspartner. „Es gibt keine Gewaltspirale, die sich bis zu dem tödlichen Zwischenfall drehte“, sagt der Sozialschöffe der Hauptstadt, Maurice Bauer. Es habe keine Vorzeichen von zunehmender Gewalt gegeben. Eine Aussage, die, wie wir im zweiten Teil sehen, von einigen Befragten allerdings infrage gestellt wird.
„Die Streetworker, die im Viertel arbeiten, haben keine Informationen wie etwa ‚immer mehr Gewalt’.“ Bauer räumt aber auch ein: „Die große Frage ist: Erfahren wir von den Problemfällen?“
Dass die Jugendgewalt gestiegen sei, entbehre jeder statistischen Grundlage, sagt auch Zijad Agovic, Leiter eines Jugendhauses von Inter-Actions in Bonneweg. Eine Tatsache, auf die bereits die Journalistin Ines Kurschat vorige Woche in ihrem Artikel im Land („Aus dem Nichts“) hingewiesen hat. Zwischen 2016 und 2017 sei laut den Polizeistatistiken die Jugenddelinquenz gerade mal um 0,2 Prozent gestiegen.
Es ist ein gewichtiges Argument, es bedeutet aber nicht, dass es das Problem nicht gibt. Inter-Actions bietet immerhin auch Anti-Gewalt-Kurse für Jugendliche an, ergo besteht dafür ein Bedürfnis.
Konsum harter Drogen gestiegen
Yolanda Tortorelli ist Streetworkerin bei der Caritas und kennt das Bahnhofsviertel gut. Aus ihrer Sicht ist der Vorfall in Bonneweg ein Einzelfall. Bei der Gewalt, die es auf der Gare gibt, drehe sich fast immer alles um Drogen, und das ist ihrer Ansicht nach das größte Problem dort. In den letzten 15 Jahren sei auch der Konsum von harten Drogen extrem gestiegen. Was sie allerdings auch festgestellt habe, ist, dass die Toleranzgrenze der heutigen Jugendgeneration gegenüber Stress deutlich niedriger sei.
Ein Schlagwort, das oft die Runde macht, ist das der steigenden Respektlosigkeit, eine Behauptung, die allerdings von Zijad Agovic belächelt wird. „Das behauptet doch jede Generation von der vorigen.“
Tom Krieps, hauptstädtisches Gemeinderatsmitglied (LSAP), ist der gleichen Meinung. Respektlosigkeit sei schon ein Thema in den 1960er Jahren gewesen. „Ich sehe keine Parallele zwischen Respektlosigkeit und Gewalt. Natürlich sieht kein Erwachsener es gerne, wenn seine Autorität infrage gestellt wird.“
Der „Respektlosigkeit“ gewinnt ein anderes Gemeinderatsmitglied, Guy Foetz („déi Lénk“), sogar etwas Positives ab. Das bedeute nämlich, dass heute mehr von den Jugendlichen hinterfragte werde und sie nicht alles als wahr hinnähmen. Mehr Gewalt an den Schulen etwa kann der 2012 pensionierte Lehrer nicht bestätigen, allerdings sei das Verhältnis zwischen Schülern und Lehrer sicherlich „verkrampfter“. Und man müsse auch wissen, dass Schulen „oft den Deckel auf Probleme halten“.
Influencer und Xanax-Hype
Von wesentlicher Bedeutung für die Bonneweger Tat sei jedoch die Corona-Krise. Dessen ist sich jedenfalls Tom Krieps sicher. Die Frustration der Jugendlichen wegen der coronabedingten Einschränkungen dürfe man nicht unterschätzen. Viele von ihnen leiden unter extremer Belastung. Es sei dringend notwendig, Freizeitaktivitäten für Jugendliche wieder auf die Schiene zu bringen. „Alles, auf das sich Jugendliche in normalen Zeiten freuen, ist abgesagt. Langweile ist die Mutter allen Übels“, meint Krieps. „Seit einem Jahr machen wir uns Gedanken um die 30 bis 50-Jährigen, aber nicht um die Jugendlichen. Überall, wo sie sich amüsieren wollen, werden sie verjagt.“
Um etwaigen Problemen entgegenzuwirken, müsse vernetzt gearbeitet werden. Eine Forderung, die oft vonseiten der Politik gehört wird. Doch wie soll das konkret aussehen? „Ein Jugendtisch“, sagt Krieps. „Alle Beteiligten müssen sich zusammensetzen, um über die Probleme zu diskutieren.“ So könne man sich auch über etwaige Alarmglocken austauschen.
Der Streetworker Dario Bruno von der Caritas weist ebenfalls auf diesen Umstand hin: „Draußen abhängen wird schon oft von Erwachsenen als Problem oder als negativ angesehen. Dabei kann man dem auch eine positive Seite abgewinnen. Es ist schließlich eine Art der Sozialisierung.“ Corona-bedingt könnten die Jugendlichen aber nun nicht so oft nach draußen. Auch er weist auf die Spezifität des Viertels hin. Die Problemfälle dort seien überhaupt nicht an Einrichtungen wie Jugendhäusern interessiert.
Er hebt allerdings den negativen Einfluss der Digitalisierung hervor. Die heutigen Idole seien nicht mehr Fußballer, sondern Influencer aus dem Internet. Einem dieser neuen Idole sei es zu verdanken, dass es bei einem Teil der Jugend seit kurzem einen Mega-Hype um das Beruhigungsmittel Xanax gebe. Und Drogeneinfluss sei oft ein Grund für Aggressivität und Gewalt.
„Prävention findet zu spät statt“
Bei der ganzen Debatte werde zu sehr verallgemeinert, meint Virginie Giarmana von Inter-Actions. Es gebe verschiedene „Arten von Jugendlichen“ und ergo verschiedene Probleme. Die gleiche Meinung vertritt die Vertreterin von „déi gréng“ im hauptstädtischen Gemeinderat, Christa Brömmel. „Man darf das, was in Bonneweg passiert ist, nicht in einen Topf schmeißen mit der Situation im Bahnhofsviertel. Ein vorhandenes Unsicherheitsgefühl der Bewohner bedeutet nicht, dass es auch wirklich unsicher ist.“
Sie weist darauf hin, dass die Diskussion über Jugendgewalt keineswegs neu ist. Die Gewaltpräventionsarbeit finde jedoch häufig zu spät statt, nämlich erst dann, wenn das Kind bereits im Brunnen liegt. Die Rolle der Lehrerschaft sei heute weit mehr als nur Wissen vermitteln, sondern auch zu lehren, im Leben zurechtzukommen. „Kinder müssen lernen, ihre Emotionen verbal auszudrücken statt durch Gewalt.“ Sozialarbeit wie Streetwork sei wichtig, „aber dadurch gibt es nicht weniger Obdachlose oder Drogenabhängige“.
Im zweiten Teil kommen zwei Psychologinnen aus Luxemburg sowie ein Sozialpädagoge zu Wort, die alle drei mit gewalttätigen Jugendlichen arbeiten.
„Es sind keine Monster“
Nadine Demogeot ist praktizierende Psychologin an der Université de la Lorraine, wo sie u.a. im Bereich der Jugendgewalt geforscht hat. „Ein Gewaltakt wird nicht von heute auf morgen verübt“, sagt sie. „Die Tat ist immer in ein Umfeld eingebettet, das oft als ‚mildernde Umstände’ bezeichnet wird.“ Es gebe fast immer Signale im Vorfeld: Schulabbruch, Integration in eine Peer-Gruppe, Abwesenheit eines Sicherheitsgefühls. „Paradoxerweise verfügen solche Jugendliche oft über einen hohen Gerechtigkeitssinn und hohe Ideale wie Ehre, allerdings mit einer destruktiven Ader. Es wird sich zu Tode geprügelt wegen eines Blicks, ihre ‚Regeln’ sind sehr rigoros.“ Die ersten Signale gebe es meistens lange vor der Jugend, im Alter von 6 bis 12 Jahren. „Es sind Kinder, die keine Unterstützung in ihrem familiären Umfeld finden und oft ist die Begegnung mit einem Erzieher oder Lehrer entscheidend für einen positiven Verlauf ihrer Entwicklung.“
Das familiäre Umfeld sei definitiv von Bedeutung, sagt Demogeot. „Bei den Eltern handelt es sich häufig um Alleinerziehende und wegen ihrer Arbeit sind die Kinder oft sich selbst überlassen.“ Diese geben sich dann „activités dissolvantes“ wie Videospielen hin, meint die französische Forscherin. Sie warnt aber gleichzeitig davor, den Einfluss von Gewaltvideos zu überschätzen. Falls bestimmte Charakterschwächen vorhanden sind, werden diese dadurch verstärkt. Ihrer Erfahrung zufolge hätten solche Videos aber keinen direkten Einfluss auf eine Gewalttat.
Demogeot bestätigt allerdings das Zunehmen der Gewalt in den letzten Jahren. Das sei aber nicht nur unter Jugendlichen der Fall, sondern auch in den Familien und in der Gesellschaft im Allgemeinen. 80 Prozent der Jugendlichen, mit denen sie zu tun hatte, haben auch Gewalt zu Hause erfahren. Man schreite heutzutage schneller zur Tat und agiere eher, als dass man redet. Auch die Gewalt unter und von Mädchen habe zugenommen. „Wenn Jugendliche töten, geschieht das oft aus banalen Ursachen, man stirbt nicht mehr für eine Idee, sondern wegen eines Blicks oder des Territoriums *. Unsere Gesellschaft gibt dem Materiellen mehr wert als z.B. Beziehungen. Und Jugendliche konstruieren ihre Identität oft über eine Luxusmarke.“ Wie stehen die Jugendlichen selbst zu ihren Taten? Es gebe drei Gruppen, sagt Demogeot: Die, die ihre Tat verneinen, die, welche die Tat zwar gestehen, aber sagen, „er/sie hatte es verdient, war ein Verräter usw.“, und dann die, die starke depressive Züge aufzeigten. Sie sagen, sie seien am Ende gewesen, ihr Leben habe sowieso keinen Sinn mehr. Ihre Tat sei wie ein Hilfeschrei aufzufassen.
„All diese Jugendliche zahlen einen hohen Preis für unser Sozialverhalten“, schlussfolgert die Psychologin. Aber es sei wichtig zu wissen: „Es sind keine Monster.“
* Die Aussage der Territorien und Jugendbanden muss auf Luxemburg bezogen mit Vorsicht genossen werden. Sowohl Christof Mann, Direktionsbeauftragter der „Affaires sociales“ der Stadt Luxemburg, wie auch dem Erzieher Kim Kessler (Jugendhaus von Caritas Jeunes et Famille in der rue Michel Welter in der Hauptstadt) zufolge gibt es keine Jugendbanden, die um Territorien kämpfen. Man könne allerhöchstens von Cliquen sprechen, fügt Streetworkerin Yolanda Tortorelli hinzu, und diese mischten sich stets neu.
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Et ass jo normal dat et keng statistesch „donnés“ ginn dat Gewalt geklommen wär. D’Statistik kënnt jo amtlech eréischt, wann duerno Etuden dozou gemaach ginn….Och ouni Statistiken wees een dat Gewaltbereetschaft zou höllt !
Wir haben ein soziales Problem im Land. Kinder wachsen immer mehr in Häusern auf wo kein Elternteil mehr tagsüber anwesend ist. Die müssen schuften um Schulden bei der Bank zu begleichen und sind Abends gestresst oder zu müde für ihre Kinder. In einem solchen Umfeld kann man nicht erwarten, dass Musterkinder heranwachsen.
Es ist wohlfeil, sich bei Problemen immer mit der berühmten „Minderheit“ heraus zu reden. Zum Vergleich: Wenn morgen ein Flugzeug beim Landeanflug auf „Findel“ abstürzt und Menschen sterben, wird ein Verweis auf die 199 anderen Flugzeuge, die doch alle problemlos gelandet sind, nichts nützen.
Davon aber mal abgesehen, könnte ich mir vorstellen, dass das Messer in der Tasche heutzutage unter Jugendlichen durchaus keine Ausnahmeerscheinung mehr ist. Ein Zeichen der Zeit halt.
@Familienvater : Ganz richteg.
An dobei kennt dann di Selbstbeschaeftegung vun den Kanner mat Gewaltspiller ob den Spillkonsolen !
@Familienvater
„Wir haben ein soziales Problem im Land. Kinder wachsen immer mehr in Häusern auf wo kein Elternteil mehr tagsüber anwesend ist.“
Aha, Ihre Lösung ist also ‚Frauen in die Küche‘, hab ich mir schon fast gedacht.
@Feiereisen: Ich weiss natürlich auch nicht, was genau „Familienvater“ umtreibt, aber in seinem Kommentar lese ich nichts von „Frauen in die Küche“. Er benutzt sogar den durchaus gendergerechten Begriff „Elternteil“. Was Sie aus seiner Aussage machen, entspricht daher wohl eher Ihrer Einstellung.