Grenzkontrollen / Juncker und Asselborn sind sich eins: Schengen ist in Gefahr – und Luxemburgs Regierung sollte sich wehren
Der ehemalige Premier und EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker (CSV) und der ehemalige Außenminister Jean Asselborn (LSAP) sind sich diesmal eins: Die deutschen Grenzkontrollen gefährden Schengen – und Luxemburgs Regierung sollte sich dagegen wehren.
Tageblatt: Deutschland kontrolliert seit Montag wieder seine Grenzen. Was war Ihr erster Eindruck dieser Maßnahme?
Jean-Claude Juncker: Das Risiko ist groß, dass die ganze Schengen-Logik den Bach heruntergeht. Wer große Grenzkontrollen macht, läuft Gefahr, dass auch Grenzen im Kopf sich wieder breitmachen.
Was wäre die Alternative gewesen?
Ich hätte lieber gesehen, es hätte einen gesamteuropäischen Ansatz gegeben. Dergestalt, dass sämtliche EU-Innenminister sich getroffen hätten, um sich ein globales Bild über den Umgang mit den Grenzen in Europa zu machen. Das ist offensichtlich nicht geschehen.
Was sind die Folgen in Ihren Augen?
Ich halte das für eine Entwicklung, die nicht gut ist, und werde den Verdacht nicht los, dass diese Initiativen, die jetzt einzelne Nationen in puncto Grenzschließung ergreifen, eine ungeschickte Reaktion sind auf einen wachsenden elektoralen Erfolg von extrem rechten Kräften in Europa. Insofern finde ich das alles nicht gut.
Grenzkontrollen sind also nicht das geeignete Mittel für die deutsche Bundesregierung in dieser Situation?
Die Schengen-Logik und die Applikation des Schengen-Kodex lassen natürlich zu, dass man solche Grenzkontrollen machen kann, wenn man unter Beweis stellt, dass sie notwendig sind und proportioniert stattfinden. Sodass, wenn es zu Grenzkontrollen kommt, diese nicht zu lange dauern, dass sie sich nicht systematisieren, dass das nicht der Anfang ist eines Antritts in die Ausnahmeregelung, die die normalen Regeln auflöst.
Luxemburgs Regierung müsste deutlich machen, in öffentlicher Äußerung, dass man diese Entwicklung nicht begrüßtehemaliger Premier und EU-Kommissionspräsident
Machen Sie sich Sorgen um Schengen?
Ich bin besorgt, dass dies eine Entwicklung einleitet, die einen der größten Erfolge der europäischen Integration, nämlich die Freizügigkeit der Personen, langsam, aber sicher und stückweise annulliert. Insofern ist das eine Entwicklung, die ich nicht begrüßen kann.
Luxemburgs Regierung reagierte bisher eher verhalten auf die deutschen Grenzkontrollen. Die richtige Vorgehensweise?
Ich weiß nicht, was der Stand der deutsch-luxemburgischen Konsultationen in diesem Bereich ist. Ich lese, dass der Luxemburger Innenminister im Kontakt steht mit der deutschen Innenministerin. Aber man müsste deutlich machen, in öffentlicher Äußerung, dass man diese Entwicklung nicht begrüßt.
Haben Sie kein Verständnis für die deutsche Perspektive?
Deutschland kommt nicht klar mit dem Zufluss von Migranten in das Land. Die deutschen Gemeinden bekommen die Integrationsleistung, die verlangt ist, nicht hin. Ob es ein adäquates Mittel ist, die Integrationsprobleme von Migranten in Deutschland damit zu lösen, dass man Grenzkontrollen mit Zurückweisungen macht, erschließt sich mir nicht direkt. Das Problem, das Deutschland hat, ist ein internes – und das wird nicht damit begradigt, dass man einen weiteren Zuwachs durch Zurückweisungen an Grenzen macht. Umso mehr, da es juristisch nicht klar ist, ob das überhaupt zulässig ist. Ich stelle fest, dass die deutsche Regierung während Monaten gesagt hat, aus juristischen Gründen wäre genau das nicht möglich – und jetzt ist es doch möglich, ohne dass das weder juristisch noch politisch millimetergenau geprüft ist. Insofern bleibe ich der Meinung, dass das eine Reaktion ist, die durchaus einen Dammbruch bedeuten kann, was den Respekt von den Überbleibseln der Schengen-Regeln angeht.
Tageblatt: Deutschland kontrolliert seit Montag wieder seine Grenzen. Was war Ihr erster Eindruck dieser Maßnahme?
Jean Asselborn: Mir ging gleich das Bild der Schengener Brücke während Covid durch den Kopf. Als die deutsche Polizei dem Virus mit Maschinengewehren nachgelaufen ist und dachte, sie könnte es mit Gewalt stoppen. Das war falsch und unnütz. Leider sind wir jetzt wieder in einer solchen Situation. Und auch diese Kontrollen sind falsch und unnütz.
Was finden Sie falsch daran?
Sollten andere Länder diesem deutschen Alleingang folgen, ist Schengen außer Kraft gesetzt. Das ist das Acquis, das, zusammen mit dem Euro, am bürgernächsten ist in der Europäischen Union. Dann ist diese Errungenschaft gestorben – und dann kommt sie nicht wieder.
In Deutschland feierte die rechtsextreme AfD gerade Wahlerfolge. Musste die Bundesregierung da nicht handeln?
Ich kenne die deutsche Innenministerin Nancy Faeser gut und schätze sie hoch. Und ich verstehe, dass sie und auch der Bundeskanzler ein Zeichen setzen wollten vor der nächsten Landtagswahl am Sonntag in Brandenburg. Diese Wahlen mögen wichtig sein, aber in meinen Augen nicht so wichtig, dass man damit Schengen aufs Spiel setzen sollte. Denn das Problem ist nicht Schengen. Will man in einem Land wie Deutschland Grenzkontrollen effektiv und effizient machen, gibt es an allen Grenzen dutzende Kilometer Stau. Es ist illusorisch, zu denken, dass Stichproben, die die Leute auch schon eine halbe oder eine Stunde aufhalten, irgendwie ein effizientes Resultat bringen.
Was wäre dann die Lösung?
Es gibt nur einen Weg: Dass wir ein für alle Mal eine Linie in der europäischen Migrationspolitik durchziehen – und das ist die Linie, die wir auch 2015 schon klar vorgegeben haben. Solange die Länder im Süden, vor allem Italien und Griechenland, nicht wissen, dass sie in Krisenzeiten von den Ländern aus der Mitte und dem Norden Europas obligatorisch Hilfe in Form einer Aufnahme von Geflüchteten bekommen, winken diese Länder die Leute durch, setzen sie in den Zug und schicken sie weiter. Und dann sind wir in der Situation, in der wir jetzt sind. Wir hätten, und das war unsere Linie, eine große politische Solidarität gebraucht. Nicht mehr, nicht weniger. Und das gilt auch heute noch.
Ich erhoffe mir, dass die Regierung Frieden-Bettel nicht um den Brei herumredet und klar sagt, dass geschlossene Grenzen das Problem nicht lösenehemaliger Außenminister
Wie geht es jetzt weiter?
Ich hoffe, dass sie schnell damit aufhören, die Leute an den Grenzen zu schikanieren. Mich als Sozialdemokrat trifft eine Sache besonders. Auch wenn Sozialdemokraten der AfD hinterherlaufen, bekommen sie keine Wähler zurück. Die SPD wird die Rechtsextremen nicht einholen, denn die laufen dann einfach noch schneller, werden noch extremer. Ich hoffe, dass Einsicht einkehrt.
Die ADR in Luxemburg sagt, die Grenzkontrollen seien auch eine Folge Ihrer Migrationspolitik. Was sagen Sie dazu?
Ich weiß, dass wir eine Filiale der AfD in Luxemburg haben. Einer von denen ist ja mittlerweile im Europaparlament. Und der sagt, dass Deutschland seine Grenzen jetzt kontrolliere, sei wegen der Flüchtlingspolitik von Merkel und Asselborn? Das ist dasselbe, wie wenn Trump sagt, dass die Attentate auf ihn von Biden und Harris verschuldet werden. Das ist genauso falsch und genauso ein Schwachsinn. Wenn wir 2015 in der Europäischen Union die Linie durchgezogen hätten, die wir entschieden hatten – und ich habe wie Merkel immer nur die Linie der großen Mehrheit in der Europäischen Union vertreten –, dann hätten wir heute weder das Durcheinander an unseren südlichen Außengrenzen noch jenes durch Dublin.
Luxemburgs Regierung reagierte bislang recht verhalten auf die neuerlichen Grenzkontrollen. Können Sie das nachvollziehen?
Während der Pandemie habe ich in den deutschen Abendnachrichten im TV die klare Botschaft gegeben, dass Grenzen zu schließen das Schlimmste ist, was man machen kann, um den Leuten zu zeigen, dass es wieder Grenzen in Europa gibt – während wir den Leuten jahrzehntelang erzählt haben, dass die Grenzen in Europa abgeschafft sind. Ich erhoffe mir, dass die Regierung, die jetzt im Amt ist, nicht um den Brei herumredet und klar sagt, dass geschlossene Grenzen das Problem nicht lösen, sondern es noch größer machen.
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